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Acht ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

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25. Dezember 1914

Heute war der erste Weihnachtstag, aber ich hatte mich freiwillig zur Arbeit gemeldet. Es schien wenig Grund zum Feiern zu geben, nicht wo Robert so weit weg war und in solcher Gefahr. Auf dem Weg zum PAVILION blieb ich einen Moment an der Strandpromenade stehen. Es war ein klarer Tag, sehr kalt und sehr ruhig, ohne jede Spur von Wind und, Gott sei Dank, kein Kanonendonner. Die Flut schob kleine Schaumkrönchen auf den menschenleeren Strand. Ich dachte an Familien, die sich an den Frühstückstisch setzen, Strümpfe öffnen, das Strahlen auf den Gesichtern der Kinder, und ich schaute auf das Meer hinaus und betete, dass Robert gesund und wohlbehalten zurückkommen möge und dass wir eines Tages unsere eigene Familie haben würden.

Weihnachten bedeutet unseren Patienten natürlich wenig, aber sie schienen erfreut über die königlichen Geschenke. Queen Mary hatte jedem von ihnen eine kleine Dose Konfekt, Postkarten und Zigaretten geschickt, Geschenke, die mit großer Freude entgegengenommen, genauestens untersucht und dann sorgfältig bei ihren anderen Habseligkeiten verstaut wurden: Trophäen von der Front, schreckliche Dinge wie deutsche Helme oder Granatsplitter.

Schwester Clarkson hatte Mince Pies mitgebracht, und wir hatten eine vergnügliche Zeit, als wir sie beim Nachmittagstee zusammen aßen. Irgendjemand kam auf die Idee, für die Patienten zu singen, und kurzerhand bildeten wir einen Chor und sangen auf jeder Station ein Lied. Wir waren offenkundig Amateure, aber die Männer schienen es zu mögen, einige von ihnen klopften sogar den Takt an der Seite ihrer Betten.

Alles in allem war es ein angenehmer Tag, eine willkommene Auszeit, abgesehen von einer verstörenden Episode mit einem Gurkha aus Nepal. Lal Bahadur Thapa ist ein sehr kleiner Mann, ein Junge im Grunde, der nicht älter aussieht als vierzehn. Seine Gesichtszüge unterscheiden sich von denen der anderen Männer: Sie sind beinahe chinesisch, als wäre er von den Gemälden auf den Tafeln des Musikzimmers herabgestiegen und zwischen die gestärkten Laken seines Bettes geschlüpft.

Wir haben ein besonderes Auge auf ihn, seit er letzte Woche in einem schrecklichen Zustand ankam, mit vom Granatfeuer zerschmetterten Beinen. In seinen Unterlagen steht, dass er von der Druckwelle der Explosion zu Boden geworfen und dann unter Trümmern halb begraben war und erst nach Stunden gerettet wurde. In Frankreich wurden ihm beide Beine amputiert, denn seine Wunden waren brandig geworden, und er war furchtbar aufgeregt gewesen und hatte den Gedanken, bewegt zu werden, nicht ertragen. Offenbar hatten die Pfleger in seiner Sprache mit ihm gesprochen und versucht, ihn zu beruhigen, aber er hatte auf dem ganzen Weg in den OP geschrien. Als er zu uns kam, die Beine bandagiert, beide am Oberschenkel abgetrennt, sah er aus wie ein gequältes Kind, winzig und geschockt.

Normalerweise liegt er zusammengekrümmt in seinem Bett – sein Körper erzeugt kaum eine Erhebung unter dem Bettzeug – und starrt einfach nur mit rarem Lidschlag in die Ferne. Seine Hände sind das Einzige, was sich bewegt, sie zucken die ganze Zeit über. Aber heute Nachmittag, gleich nach den Weihnachtsliedern, wurde sein Zucken immer schneller, bis es fast wie ein Flattern war, seine Hände und Arme flatterten, erst langsam, dann schneller, wie ein Vogel, der versucht zu fliegen. Er fing an, seltsame, würgende Geräusche zu machen, als ob er sprechen wollte, aber nicht konnte.

Auch die anderen Patienten zeigten Anzeichen von Aufregung, sie bewegten sich unruhig in ihren Betten. Einige von ihnen bedeckten ihren Kopf mit ihrem Kissen, um den Lärm auszublenden. Andere begannen ebenfalls zu zucken und um Hilfe zu rufen.

Plötzlich stieß Lal Bahadur einen wilden, schrecklichen Schrei aus, wie ein Tier in großem Schmerz. Ich rief einem Pfleger zu, er solle Colonel MacLeod holen, lief zu Lal Bahadur und fasste ihn bei den Schultern, redete sanft auf ihn ein und versuchte, den Bann zu brechen, aber als der Colonel eintraf, hatte er schon Krämpfe, sein kleiner Körper zuckte und wand sich. Er war erstaunlich stark: Es brauchte drei Pfleger, um ihn unten zu halten, während sie ihm ein Beruhigungsmittel gaben. Dann wurde er schlaff und fiel zurück in die Kissen.

Anschließend verlangte Colonel MacLeod in seinem Büro eine Erklärung. Ich fing an zu beschreiben, wie Lal Bahadur in eine andere Welt hinüberzugehen schien, aber er sagte, das habe er nicht gemeint. Er warf mir einen strengen Blick zu und fragte, warum ich zu ihm gegangen sei. Ich würde die Regeln kennen, sagte er. Ich sei nicht dazu da, die Patienten zu pflegen.

Als ich einwandte, dass es unmöglich sei, jemanden mit solchen Schmerzen zu sehen und nicht aus reinem Anstand zu versuchen zu helfen, sagte er nur, dass das nicht meine Aufgabe sei und dass er mich bitten müsse zu gehen, wenn ich mich nicht an die Regeln hielte.

Es klopfte an der Tür.

»Sir.« Es war Mr. Mitra, der erklärte, was passiert war, und sagte, dass meine Hilfe ›lebenswichtig‹ gewesen sei. Ich bin noch nie ›lebenswichtig‹ genannt worden. Ich lächelte insgeheim und war ziemlich erfreut. Colonel MacLeod fragte Mr. Mitra, was er mit der Sache zu tun habe.

»Als Arzt bin ich –«

Zornesröte stieg Colonel MacLeod den Nacken hoch. Ich sah ihn an und dachte, wie ruhig Mr. Mitra im Vergleich dazu war – wie er keine Reaktion zeigte, als der Colonel ihn daran erinnerte, dass er noch kein Arzt sei.

»Die Angelegenheit, die wir hier besprechen, ist keine rein medizinische«, sagte der Colonel gereizt. »Da spielt noch etwas anderes mit hinein.«

Als es erneut an der Tür klopfte, fürchtete ich, dass der Colonel die Beherrschung verlieren könnte, denn sein Hals wurde noch röter. Scharlachrot.

Ein nervös wirkender Pfleger stammelte, es gebe einen weiteren Notfall. Als der Colonel aus dem Zimmer eilte, tauschten Mr. Mitra und ich einen Blick.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, dass ich eine große Hilfe war.«

»Sie haben sich selbst wahrscheinlich keinen Gefallen getan, indem Sie mir beigesprungen sind.«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie haben wahrscheinlich recht. Das passiert mir öfter.«

Einen Moment lang zögerte ich und dachte an das Krankenhausprotokoll, dann beschloss ich, es zu ignorieren.

»Ich finde, Sie sollten mich Elizabeth nennen«, sagte ich.

Er machte eine kleine Verbeugung. »In dem Fall bin ich Hari.«

Es entstand eine Pause, während ich überlegte, was ich als Nächstes sagen sollte. Dann fiel mir wieder ein, dass er noch in der Ausbildung war, und ich fragte ihn, wo er vor dem Krieg studiert habe. Als er antwortete, Keble College, Oxford, war ich erfreut und erzählte ihm, dass Robert in Balliol gewesen sei. Wenn er auf Urlaub käme, würde ich sie einander vorstellen. Sie hätten Oxford gemein, und Robert sei auch in Indien geboren. Vielleicht könnten sie Freunde werden.

»Vielleicht«, sagte er.

Ich wollte weiter mit ihm reden. »Und was hat Sie bewogen, nach England zu kommen?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern und sagte, er habe als Junge Shakespeare und Milton, Thomas Hardy und George Eliot gelesen. Deren Bücher hätten ihn fasziniert. Er habe hierherkommen und sich selbst ein Bild machen wollen.

Genau wie ich und Indien, dachte ich. Ich hatte auch etwas mit ihm gemein. »Und ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«

»Seit ich hier bin«, erwiderte er, »habe ich festgestellt, dass England nicht der Ort ist, über den ich in Büchern gelesen habe.«

Ich fühlte mich seltsam enttäuscht.

»Warum sind Sie hierhergekommen, in den ROYAL PAVILION?«

»Oxford ist ein außergewöhnlicher und schöner Ort«, sagte er und zog eine kleine Grimasse. »Doch kaum war ich dort angekommen, begann ich an Indien zurückzudenken. Als ich hörte, dass im ROYAL PAVILION Ärzte gebraucht werden, verspürte ich eine eigenartige Verbundenheit mit meinem Land. Ich beschloss, nach Brighton zu gehen, um zu helfen.«

Je besser ich Hari Mitra kennenlerne, desto faszinierter bin ich. Er scheint ein Mann zu sein, der Geschichten zu erzählen hat, sofern ich sie ihm entlocken kann. Ich glaube, ich würde es gern versuchen.

Rückblende

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