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DIE »GEFÄHRLICHKEIT« DES VOLKES
ОглавлениеDie Annahme einer »Gefährlichkeit« des Volkes kam bereits lange vor der Revolution und der Philosophie der Aufklärung auf. Für englische politische Philosophen des ausgehenden 17. Jahrhunderts wie Thomas Hobbes und John Locke konnte das Aufbegehren der Unterdrückten niemals die Legitimität der Regierung und anderer politischer Institutionen infrage stellen, sondern allenfalls in Situationen von Machtmissbrauch geduldet werden. Das bürgerliche politische Denken der Französischen Revolution brach mit dieser Auffassung nicht wirklich und begegnete dem Eingreifen des Volkes mit derselben Vorsicht. Nach dem Thermidor verwandelten sich die arbeitenden Klassen in der Vorstellungswelt der Mächtigen allmählich in gefährliche Klassen, in den bewaffneten Arm der jakobinischen Ideen.
In den 1840er Jahren setzte sich der Gedanke der »gefährlichen Klassen« dann in der bürgerlichen Wahrnehmung von Volksaufständen und Revolutionen durch, bevor er schließlich eine Verfeinerung in den Studien von Gustave Le Bon erfuhr.22 Das Bild des Volkes, des entstehenden Proletariats, musste dem einer Menge von potenziellen Verbrechern oder gar Geistesgestörten, einer desorganisierten, formlosen und wilden Masse angenähert werden, die einer aufgeklärten und bewussten Führung harrte. Bis heute bildet die Furcht vor blinden, barbarischen Akten der »Massen« eine Legitimationsquelle des repräsentativen Systems, das sich als die einzig machbare und verantwortungsvolle Form von Demokratie präsentiert – als Regierung der Fähigen anstelle einer Regierung der Unfähigen, wie Robespierre und seine Freunde meinten. Das jakobinische Modell einer Delegierung der Souveränität an Führer, die die Fähigkeit hätten, im Rahmen des Gesamtinteresses der Nation die Interessen des einfachen Volkes zu vertreten, bildet zusammen mit der Konstruktion eines »Gesellschaftsvertrags« von oben den roten Faden der demokratischen politischen Theorie.
Der Triumph des repräsentativen Systems über die Erfahrungen direkter Volkssouveränität sowie die Gleichschaltung der souveränen Ausnahme vollzogen sich im Verlauf der Revolution weder linear noch ohne Konflikte. Einige der bekanntesten Vertreter der vorherrschenden Geschichtsschreibung sprechen von einer »Tendenz zur Praxis einer direkten Regierung und zur Einführung einer Demokratie des einfachen Volkes«23, die »spontan und nicht als Anwendung eines a priori gegebenen Systems« entstanden sei.24 Anstatt jedoch zu erkennen, dass »sich die direkte Demokratie, praktisch wie logisch, durchaus aus der Volkssouveränität ›ableitet‹«25, wird sie von ihnen häufig als eine Art von politischer Praxis betrachtet, die infantil (im Sinne einer »Kinderkrankheit« à la Lenin), intuitiv und theoretisch inkonsistent gewesen sei – und der wahren, repräsentativen Demokratie weichen musste, die sich auf eine politische Theorie berufen konnte. Wie Kropotkin festhielt, verwies das »Spontane« hier aber sehr wohl auf Ideen, die allerdings nicht aus wissenschaftlichen Denkanstrengungen, sondern aus der Erfahrung und den konkreten Erfordernissen des Augenblicks hervorgingen.