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KAPITEL 2 DIE PARISER KOMMUNE (1871) DIE GRENZEN EINER PRAXIS DER »REINEN DEMOKRATIE« FALLSTRICKE DES GEGENSATZES VON ZENTRALISMUS UND FÖDERALISMUS
ОглавлениеDer Widerspruch zwischen zentralistischen und föderalistischen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft war älter als die Französische Revolution und die Konzeption der Jakobiner. Bereits die Aristokratie hatte in ihrem Kampf gegen den Feudalismus auch eine autoritär-zentralistische Strömung umfasst. Von der Französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert setzte sich das jakobinische Modell dann in der bürgerlichen Politik durch und prägte mehr oder minder deutlich auch sozialistische Strömungen, angefangen bei bestimmten Utopisten über die Anhänger Blanquis bis zu marxistischen Bewegungen. Das zentralistische Staatsmodell und die Ablehnung von Föderalismus verbanden sich zudem mit dem parlamentarisch-repräsentativen System. Permanente Abtretung von Souveränität versus direkte Demokratie, Staat versus Selbstregierung, Zentralismus versus Föderalismus – all dies waren in den Debatten der sozialistischen Bewegung zentrale Themen.
Dabei vertrat Proudhon dezentrale Konzeptionen von Wirtschaft und politischer Organisation, die dem jakobinischen Zentralismus zuwiderliefen: Dem vom Zentralstaat oktroyierten »Gesellschaftsvertrag« hielt er ein föderalistisches Modell entgegen. Jakobinisch geprägte Strömungen setzten dies häufig mit einer Rückkehr in die Vergangenheit gleich – eine einseitige, irreführende Behauptung, denn der föderalistische Gedanke ermöglichte es Proudhon zugleich, eine neue Form der Ausbeutung zu kritisieren. Im Gegensatz zwischen Staatseinheit und Föderalismus erkannten Denker wie Proudhon und Edgar Quinet, dass die Revolution »als Kampf um die Zerstörung des alten Zwanges und die Verwirklichung einer neuen Freiheit mit unvermeidlicher geschichtlicher Notwendigkeit zugleich einen neuen Zwang und eine neue Unfreiheit in sich selbst hervorbringt«.1
Der Dissens zwischen Marx und Proudhon betraf vor allem wirtschaftliche Fragen. Verstärkt wurde er durch die politischen Positionen, die der französische Philosoph nach 1848 vertrat, sowie durch die unklare Haltung seiner Anhänger zur Regierung von Napoléon III. Marx befasste sich während seiner aktiven Zeit in Deutschland, im Jahr 1848 sowie ab 1864 in der Ersten Internationale nur sehr wenig mit der Frage von Zentralismus und Föderalismus an sich. Für Proudhon ergab sich das Konzept eines föderal-dezentralisierten politischen Aufbaus aus seinem ökonomischen Entwurf einer Gesellschaft, die er sich als Assoziation von Privatproduzenten vorstellte. Was Marx mit ihm teilte, war ein »Widerwille gegen die sozialistische Gefühlsduselei« und die Ablehnung utopischer Sozialisten.2 Aber Marx hatte ein Verständnis von politischer Macht, das dem einheitlich-zentralistischen Staat die Schlüsselrolle bei der Veränderung der Gesellschaft und der Abschaffung der Ausbeutung zuwies, und er kritisierte Proudhons Projekt als einen Versuch, »den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit« einzuebnen; darauf ziele sein »ganzes Banksystem, sein ganzer Produktentausch«.3 Für Marx stand dies einem Bruch mit dem System der kapitalistischen Ausbeutung entgegen, aus dem die soziale Emanzipation hervorgehen sollte.
Dann brach die Pariser Kommune von 1871 brüsk in die Debatte ein: Indem sie als historisches Ereignis dazu nötigte, zum Problem der politischen Macht neu Stellung zu beziehen, wurde sie bestimmend für die Zukunft sozialistischer Ideen und für die Spaltung zwischen den beiden Strömungen. Die Frage der Repräsentation und des Ausdrucks der Volkssouveränität stellte sich nun in einer zugespitzten Weise und deutlicher in einer Klassenperspektive, denn mit der Entfaltung des Kapitalismus war der Konflikt zwischen der Klasse der Produzenten und der Bourgeoisie mittlerweile ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gerückt.
Proklamiert wurde die Kommune auf Beschluss des Zentralkomitees der Nationalgarde, in dem sich die Komitees oder Räte der einzelnen Bataillone zusammengeschlossen hatten. Die Abgeordneten der Kommune wiederum entstammten unterschiedlichsten Richtungen; Anhänger von Blanqui und Fourier fanden sich ebenso in ihren Reihen wie aktive Mitglieder der protogewerkschaftlichen Chambres syndicales. Mehrheitlich waren sie eher Zentralisten als Föderalisten und vertraten eine jakobinische Konzeption. Da außerdem ein kollektivistischer Geist vorherrschte, wendeten sich manche Kommunarden wie etwa Eugène Varlin klar gegen Proudhon. Je nach der Situation waren ihre Ideen näher an denen von Marx oder von Bakunin angesiedelt, ohne dass man sie deshalb schlicht als Untergebene der beiden Köpfe der Internationalen Arbeiter-Assoziation betrachten könnte. Es wäre grundsätzlich falsch zu meinen, die damaligen Strömungen hätten so funktioniert wie die später entstehenden Arbeiterparteien.
Während die Proudhonisten in der politischen Praxis der Kommune einen Einfluss föderalistisch-antizentralistischer Prinzipien erkennen wollten, musste Marx einige seiner Auffassungen nun überdenken. In der »Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation«, besser bekannt als Der Bürgerkrieg in Frankreich, definierte er die Kommune als »wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse«, als »das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Diese neuartige, besondere politische Form war für Marx ihr »wahres Geheimnis«.4 In der Formulierung »endlich entdeckt« lässt sich zwischen den Zeilen das Eingeständnis herauslesen, dass es die wirkliche Bewegung war, die ihn dazu brachte, eine solche Regierungsform anzuerkennen und so seine bisherigen politischen Vorstellungen zu revidieren.