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DAS IMPERATIVE MANDAT UND DER ANGRIFF AUF DIE VOLKSSOUVERÄNITÄT
ОглавлениеDie direkte Ausübung der Volkssouveränität war ein von lebhaften Debatten begleiteter Prozess: Es ging um den Charakter von Delegierung, um die Auswahlkriterien (Einkommen und Geschlecht) für die an der direkten Demokratie praktisch zu beteiligende Bürgerschaft und vor allem um die Abberufung von Abgeordneten durch die Wähler, also die oben erwähnte Frage des imperativen Mandats. Dessen erklärtes Ziel bestand darin, die Gewählten an die Wähler zu binden, was keineswegs selbstverständlich war und Konflikte hervorrief. Sollten die Mandatsträger bei jeder Entscheidung von Neuem vor ihre Wähler treten? Einige Gegner des Prinzips sprachen von utopischen Praktiken, die dem Grundsatz der effektiven Regierung zuwiderliefen, und erklärten beharrlich, man müsse »Anarchie vermeiden«. Das imperative Mandat wurde aber nicht als ein wirklichkeitsfremder Traum gefordert, sondern weil es sich in der Praxis des einfachen Volkes vor und während der Revolution bewährt hatte. Deren spontanes Element zeigte sich genau in einer solchen Wiederaneignung konkreter Erfahrungen des Volkes. Natürlich stieß der von den Enragés geführte Kampf für das imperative Mandat auf den erbitterten Widerstand der anderen großen Strömungen in der Revolution, die sich allerdings häufig zu Zugeständnissen genötigt sahen, weil der Druck von unten für das imperative Mandat stark blieb.26
Trotz ihrer unüberwindlichen Gegensätze wendeten sich beide Hauptströmungen, Montagnards wie Girondisten, gegen jegliche Entfaltung von Praktiken der direkten Demokratie. So beispielsweise, als die Enragés und andere Vertreter der Sansculotten angesichts des gravierenden Problems der Lebensmittelversorgung Eingriffe des Staates und vor allem der Volksorganisationen forderten.27 Montagnards und Girondisten verband mehr, als sie trennte – gemeinsam lehnten sie die Forderung der unteren Schichten nach einer Preiskontrolle ab, als deren Fürsprecher die Enragés auftraten. »Es ist nicht möglich«, ließ Marat diese wissen, »dass sich jeder Einzelne von euch unablässig mit Staatsangelegenheiten befasst; das muss den Repräsentanten überlassen bleiben.«28 Robespierre befürchtete unterdessen, dass »ein Übermaß an Demokratie […] die nationale Souveränität zerstört«.29
Wie gezeigt, drückte sich der Konflikt zwischen Gegnern und Verfechtern einer direkten Volkssouveränität konkret im Gegensatz zwischen der Nationalversammlung und der revolutionären Kommune aus, die sich als eine bewegliche Organisation erwies. Sie entstand aus der Versammlung der Pariser Stadtteilsektionen, die ursprünglich schlicht Wahlorgane des Dritten Standes gewesen waren, sich nun aber in eine revolutionäre Bewegung verwandelten und zu offenen Diskussionsklubs wurden. Im Zuge der Revolution stellten sie eine Kraft dar, die Druck auf die Kommune ausübte, in der (bis zum Thermidor) eine näher an der direkten Souveränität angesiedelte »Volksmacht« gesehen wurde – eine gefährliche Macht, bedrohte sie doch das repräsentative System. Um dem Problem auszuweichen, setzte die Nationalversammlung die Kommune durchweg mit der Vergangenheit, dem Mittelalter gleich und machte in ihr die Gefahr eines Zusammenbruchs der Nation aus. Die Form der »Kommune« existierte tatsächlich bereits im 11. Jahrhundert; sie lässt sich bis zur feudalen Gesellschaft und den Freiheiten der Städte zurückverfolgen, in denen der Dritte Stand für seine Interessen eintrat. Die »freie Kommune des Mittelalters« ging der Entstehung von bürgerlichem Staat und Parlament voraus. In der damaligen Epoche war sie der konkrete Ausdruck des Kampfes, den das Bürgertum gegen die Feudalordnung führte, um diese schließlich zu stürzen und durch seine eigene Ordnung zu ersetzen.30 Während der Französischen Revolution veränderte sich jedoch auch der Charakter dieser Organisationsform. Die Kommune bekannte sich nunmehr zum Grundsatz der Einheit der Nation und wendete sich folglich nicht gegen den neuen zentralisierten Staat. Noch radikaler verändert trat sie viele Jahre später erneut auf – 1871.
Anfangs wählten die Sektionen, die an die Stelle der bisherigen Verwaltungsbezirke traten, direkt Vertreter in den revolutionären Stadtrat, die Kommune von Paris. Diese Vertreter unterstanden der Kontrolle durch das Volk und konnten abberufen werden. Mit der von den Jakobinern vorangetriebenen Zentralisierung verwandelten sich die Sektionen jedoch in Organe der Staatsmacht. Das Fanal für diese Zähmung erfolgte 1793, als die Klubs der Frauen verboten wurden. Auch wenn die Doppelherrschaft somit bereits vor dem Sturz der Jakobiner nicht mehr existierte, schritt die Normalisierung des politischen Lebens nach dem Thermidor allerdings weiter voran: Zunächst wurden die Gesellschaften des Volkes, die als Foren der politischen Debatte gedient hatten, und die Versammlungen der Sektionen verboten, schließlich wurde das allgemeine Wahlrecht durch das Zensuswahlrecht ersetzt. Entmachtung sämtlicher Formen einer direkten Ausübung von Volkssouveränität, der Klubs, der Sektionen und der Kommune, Unterdrückung jeder Tendenz zur Doppelherrschaft: So lautete die politische Bilanz der Revolution bis zum Thermidor (Juli 1794). Eine Bilanz, die zusammengefasst im Sieg des repräsentativen parlamentarischen Systems über alle Tendenzen bestand, die, wie zögerlich auch immer, die Einschränkung der direkten Volkssouveränität ablehnten.