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SOZIALE FRAGE UND SOUVERÄNITÄT
ОглавлениеDie schrittweise Einschränkung der Volkssouveränität ging mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Armen einher. Dabei stellte sich die soziale Frage »während der Großen Revolution hauptsächlich in der Form des Problems der Lebensmittelversorgung und […] des Grund und Bodens dar«.31 Sehr schnell drängte sich das Thema der politischen Debatte auf. Die radikalsten Tendenzen der Sansculotten – in Paris Leclerc, Roux, Varlet, in Lyon Chalier und L’Ange sowie generell die Enragés – riefen das Volk unablässig dazu auf, sich seiner Souveränität praktisch zu bemächtigen. Dass sie die direkte Demokratie ins Zentrum ihrer Agitation stellten, war ein direkter Widerhall des Drucks der Straße.32 Was der Revolution ihre Schwungkraft gab und die Ziele der Enragés prägte, das waren die sozialen Zustände und das Aufbegehren der Sansculotten gegen die Kluft zwischen politischer Gleichheit und realer Ungleichheit, ihre Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums, die indirekt die Frage des Privateigentums aufwarf, und schließlich die Agrarfrage: »Was die Armen einforderten und durchsetzten, erhoben die Enragés zum Programm.«33 Nur weil die Strömung eine Minderheit blieb, sollte man das emanzipatorische Potenzial ihrer Forderungen nicht unterschätzen. Vielmehr ist Kropotkin zuzustimmen, der bei den Enragés eine zur Verwirklichung drängende Zukunftsvorstellung erkannte: eine »kommunistische Idee«, die sich »während der ganzen Revolution Bahn brechen wollte«.34
In einer seiner Studien über die Französische Revolution erkannte Karl Korsch 1930 einen »Widerspruch, der dieser Revolution und speziell ihrem höchsten Ausdruck, der revolutionären Jakobinerdiktatur anhaftet, darin, daß sie die liberté, égalité, fraternité, die sie in der politischen Sphäre verwirklichen wollte, zugleich in der ökonomischen Sphäre wieder aufhob, indem sie die alte feudale Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Massen nur in ihrer Form veränderte, aber in ihrem Wesen beibehielt und in der Folge sogar noch steigerte.«35 Die bürgerlichen Fraktionen, allen voran die Jakobiner, wirkten deshalb ständig darauf hin, die soziale Frage von der der Souveränität abzutrennen; beharrlich erklärten sie, die politische Gleichheit der repräsentativen Demokratie dürfe man nicht mit wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit vermengen. Politisch autoritär, neigten die Jakobiner zum Liberalismus, sobald es um den Schutz des Privateigentums ging. Robespierre bekannte dies offen ein, als er sich gegen das Agrargesetz wendete und verlangte, auch dem Reichtum und den Reichen ihren Platz zu lassen, die er lediglich zu mehr Respekt vor den Armen ermahnte: Die »Gleichheit der Güter« sei eine »Schimäre […]. Es gilt viel eher, die Armut ehrbar zu machen, als den Überfluss zu verbieten.«36 Wie Kropotkin bemerkte, beeinflusste die Kraft der kommunistischen Idee allerdings selbst diejenigen, die sie ablehnten, so auch Robespierre: »nur der Überfluss der Lebensmittel dürfe Gegenstand des Handels sein«, gibt Kropotkin ihn wieder, »das Notwendige gehört allen«.37 Kropotkin ging sogar so weit, eine »Überlegenheit« des Kommunismus in der Französischen Revolution über den Sozialismus von 1848 zu postulieren: »Er ging gerade aufs Ziel, indem er sich an die Verteilung der Produkte hielt.«38
Die Untätigkeit, ja Gleichgültigkeit, mit der die ärmeren Klassen den Sturz des »Unbestechlichen« quittierten, lässt sich so interpretieren, dass ihnen die Zweideutigkeit von Robespierres Einstellung aufgegangen war und sie bereits ahnten, dass sie das Spiel verloren hatten. Der Prairialaufstand vom Mai 1795, der Unmut und die Unruhen in den Pariser Vorstädten, die schon immer den Schwerpunkt der revolutionären Bewegung ausgemacht hatten, waren Reaktionen auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen, auf Inflation, Arbeitslosigkeit und Hunger – nicht Ausdruck einer Solidarität mit Robespierre und seinen Gefährten. Es war ein Aufbegehren, das eher einen sozialen als politischen Charakter hatte. Und während die jakobinischen Führer sich noch an seine Spitze zu setzen versuchten, um dem Konvent zu trotzen, hatte das Volk bereits keine organisierte Kraft mehr; seine Fähigkeit zur Mobilisierung war erschöpft.39