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EIN KORREKTIV DER REINEN DEMOKRATIE

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In der Französischen Revolution von 1789 hielt das Bürgertum der mit dem Gottesgnadentum begründeten Souveränität der Monarchie den Gedanken der Volkssouveränität und der formalen Gleichheit der Bürger entgegen – eine Idee, die von nun an die Grundlage politischer Theorien über die repräsentative Macht bildete. Der Verlauf der Revolution, bestimmt vom Bedürfnis des Bürgertums, sich mit den Ausgebeuteten zu vereinen, um die feudalen Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus aus dem Weg zu räumen, hatte allerdings unmittelbar zur Folge, dass die Ausübung der Volkssouveränität zu einem Problem erklärt wurde: »Wenn es auch für die Bourgeoisie der Neuzeit eine Notwendigkeit war, gegen den Absolutismus zu behaupten, daß alle Gewalt vom Volk ausgeht, so konnte sie dennoch nicht zugeben, daß sie vom Volk auch ausgeübt würde. Also mußte ein Korrektiv gefunden werden.«2 Konkret: Die Bourgeoisie, deren Macht als Klasse noch gering war, fürchtete, dass »die unter die Räder der Konkurrenz und der Ausbeutung kommenden Kleinbürger und Arbeiter zu viel Macht über den Gesetzgebungsprozess gewinnen«.3 Das benötigte Korrektiv fand seine vollendete Form im System der parlamentarischen Vertretung. Das Prinzip der dauerhaften Delegierung ermöglichte es, am Gedanken der Volkssouveränität festzuhalten und zugleich die ältere, vom Spätfeudalismus hinterlassene Institution des Parlaments zu nutzen. In »der Theorie ging alle Gewalt vom Volke aus, doch in der Praxis wurde ihm das Recht abgesprochen, sie selber auszuüben: das Volk durfte sie nur ›delegieren‹«.4 So meinte man »einen der großen Nachteile der Demokratie« beheben zu können, von dem Montesquieu als Stimme des liberalen Adels gesprochen hatte, nämlich dass das Volk »ganz und gar unfähig« sei, die eigene Souveränität auszuüben, wie die Revolution sie gefordert hatte.5 Die praktischen Formen dieser Korrektur durch permanente Delegierung waren Gegenstand eines langen und widersprüchlichen Kampfes. Anfangs eingeschränkt nach Einkommen, sozialer Stellung und Geschlecht, wurde das Wahlrecht nur schrittweise auf die Mehrheit der ärmeren Klassen und später auf die Frauen ausgeweitet. Der Kampf für seine Einführung blieb daher ein wichtiges Moment im Denken und politischen Handeln der Ausgebeuteten. Mit der Zunahme von Klassenkämpfen und der Entwicklung des Kapitalismus erwiesen sich das allgemeine Wahlrecht und das repräsentative System allerdings schließlich als unverzichtbar, um den gesellschaftlichen Konsens zu festigen und die politische Macht des Bürgertums zu legitimieren. Es zeigte sich nun, dass eine solche Demokratie »keine Schwäche des Kapitals ist, sondern umgekehrt ein Ausdruck der inneren Kraft des Kapitalismus«.6

Einige Denker wie Rousseau erkannten zwar, dass die Delegierung von Souveränität deren Negation gleichkam: »Die Souveränität […] kann nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Allgemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten.«7 Im Rückgriff auf den Gedanken der »menschlichen Natur« kamen sie indessen zu dem Schluss, die wahre Demokratie werde niemals existieren, da die Menschen nun einmal unvollkommen seien. Von dieser Auffassung wich Robespierre nicht besonders weit ab, als er schrieb: »Die Demokratie ist ein Zustand, in dem das souveräne Volk […] von sich aus all das macht, wozu es auch in der Lage ist, und durch Delegierte all das, was es nicht selber tun kann.«8 So gelangten die Jakobiner als extreme politische Strömung der neuen führenden Klassen zu einer klaren Ablehnung direkter Demokratie, von Robespierre »die reine Demokratie« genannt. Stattdessen versuchten sie die Mängel des parlamentarisch-repräsentativen Systems mit rechtlichen Mitteln zu beheben, indem sie Garantien und Regeln einführten, die Verfehlungen und Willkür der gewählten Vertreter verhindern sollten. Denn eine Annahme in der Lehre Robespierres lautete, diese würden immer versucht sein, sich gegenüber den Wählern untreu zu verhalten, und es an Integrität fehlen lassen. Die Ausübung von Macht barg somit Gefahren: »Der Mandatsträger neigt grundsätzlich zur Untreue, weil die Wahrnehmung jeglichen Mandats persönliche Vorteile (Stolz, Reichtum oder Ehrgeiz) mit sich bringt, deren Erwerb oder Erhalt auf lange Sicht die anfängliche Integrität selbst der Bestgesinnten beschädigt.«9 Nicht nur war das Volk demnach selbst unfähig zur Ausübung der Macht, es musste auch vor der Untreue seiner Vertreter geschützt werden – durch unabhängige Aufseher, die selbst nicht gewählt wurden, ihm aber seine Rechte sichern und ihm gegen die Mängel seiner Amtsträger zur Seite stehen sollten. Die Idee war nicht neu. Unter anderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen befasste sich auch die griechische Demokratie der Antike mit ihr; sie siedelte »Experten« außerhalb der Politik an und griff dabei auf Sklaven zurück. Auf diese Weise sollte die freien Männern vorbehaltene Macht der Entscheidung von der Sklaven zugewiesenen Macht der Ausführung getrennt werden.10

Für die Jakobiner in der Französischen Revolution ging es somit darum, die öffentliche Sphäre vor Mängeln und Missbrauch eines Systems der permanenten Machtdelegation zu schützen, dessen zwangsläufige Unvollkommenheit sie anerkannten. Dies ging so weit, dass sie den Schutz des Volkes durch nicht gewählte, nicht dem demokratischen Delegierungsprinzip unterworfene Aufseher vorschlugen – ein Paradox, das vielleicht auch einem Eingeständnis gleichkam. Ihnen zufolge war dies die einzige Möglichkeit, ein Gegengewicht zu der vom repräsentativen System selbst hervorgebrachten Enteignung der Souveränität zu schaffen. Die Anerkennung des demokratischen Grundsatzes der formellen Gleichheit machte zwangsläufig die soziale Ungleichheit erkennbar, die sein Fundament bildet. Im Bewusstsein, wie gefährlich es war, dem aufständischen Volk die Ausübung seiner Souveränität zu verwehren, waren die Jakobiner durchaus bereit, dessen Handeln – in gewissen Grenzen – als ein Druckmittel gegenüber dem repräsentativen System zu akzeptieren: eine Art souveräne Ausnahme. Dieses Arrangement illustriert Peter Kropotkins Auffassung, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung seien die Jakobiner grundsätzlich eine opportunistische Strömung gewesen: »Der Jakobinerklub hat die Revolution nicht geleitet, er ist ihr vielmehr nur gefolgt. […] der Geist des Klubs wechselte mit jeder neuen Krise.«11 Laut Kropotkin, der in seiner Studie zur Französischen Revolution das Handeln des Volkes in den Mittelpunkt rücken wollte, überzeichnete die spätere Geschichtsschreibung die Fähigkeit der Jakobiner zur Initiative, deren gesellschaftliche Rolle in Wirklichkeit eine geringere gewesen sei.12

Tatsächlich war es das Eintreten des Volkes für die ungeschmälerte Ausübung seiner Souveränität, was Rhythmus und Verlauf der Revolution bestimmte und die zwei rivalisierenden Hauptströmungen, die Montagnards (oder Bergpartei) und die Girondisten, im Zuge der Ereignisse immer wieder zu Veränderungen ihrer Position zwang. Erkennbar vor allem in der Gewalt gegen die Widerstände des Ancien Régime in den Jahren 1792 und 1793, vollzog sich dieser Kampf des Volkes durch die revolutionären Sektionen und Klubs, die zum Nationalkonvent – der auf zwei Ebenen gewählten repräsentativen Versammlung – auf Abstand gingen. Als Organe des öffentlichen Lebens, die sich miteinander verbanden und gemeinsame, in den Augen der Nationalversammlung teilweise illegale Aktionen durchführten, drückten die Pariser Sektionen einen Geist der spontanen Organisation aus. Den Parisern gelang es zudem, neben der Nationalversammlung »eine tatsächliche Gewalt festzusetzen, die die revolutionären Tendenzen«13 in der Bevölkerung verkörperte: die Pariser revolutionäre Kommune, entstanden am 9. August 1792 und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Verwaltungsorgan, das bereits seit Juli 1789 existierte. Dessen Bezirke (aus denen später die Sektionen wurden) bildeten allerdings den Rahmen, in dem von Juli 1789 an die Debatte über das »imperative Mandat« – so die damals gebräuchliche Bezeichnung für direkte Demokratie – an Schwung gewann.

Die revolutionäre Kommune forderte eine direkte Regierung des Volkes. Darin bestand der Höhepunkt eines Aufstands, in dessen Verlauf die Straße solange Druck auf das Königtum ausübte, bis es abgeschafft und die Republik proklamiert wurde. Die »Kommune will sich […] selbst Gesetze geben und sich selbst soviel als möglich direkt verwalten; die Repräsentativregierung soll auf ein Minimum beschränkt werden; alles, was die Kommune direkt tun kann, soll von ihr ohne Zwischeninstanz, ohne Delegation oder durch Delegierte entschieden werden, die nur die Rolle besonderer Mandatare haben, die unter der unausgesetzten Kontrolle ihrer Auftraggeber stehen«.14 Die zögerliche Haltung der Nationalversammlung und später des Konvents sowie die Furcht vor der Kommune und einer Radikalisierung der Straße verstärkten den Drang bürgerlicher Strömungen nach einer Begrenzung, Korrektur oder sogar Unterdrückung der Souveränität des Volkes. Dass sich das Prinzip der direkten Demokratie, das in frontalem Gegensatz zum jakobinischen Gedanken der Repräsentation stand, so rapide in den unteren Klassen ausbreitete, beunruhigte das revolutionäre Bürgertum. Insofern kann man der Behauptung, dass »das Misstrauen gegenüber den vom Volk spontan geschaffenen Entscheidungsformen und -organen sowie schließlich ihre Unterdrückung« deutlich den bürgerlichen Charakter der Revolution bezeugten, nur zustimmen.15

Obwohl Kropotkin lediglich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossenen Quellen zur Verfügung standen, erwies er sich mit seiner Studie über die Revolution als ein ernstzunehmender Historiker. Dabei machte er ihre verschiedenen politischen Optionen deutlich, arbeitete die Prinzipien der damaligen sozialen Bewegung heraus und bezog sie auf die Zukunft, indem er sie als Vorläufer des modernen politischen Radikalismus begriff: Die Französische Revolution war »die Quelle aller kommunistischen, anarchistischen und sozialistischen Anschauungen unserer Zeit«.16

Der wilde Sozialismus

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