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EINLEITUNG AM ANFANG ANGEKOMMEN, ODER LOB DER UNMÄSSIGKEIT
ОглавлениеEs heißt, das Ende der Welt sei heute leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus. Ein düsterer Satz, der Verwirrung stiftet, schließlich liegt auf der Hand, dass der Welt und dem Kapitalismus ein- und dasselbe Ende droht. Er drückt aber auch den Geisteszustand politischer Kräfte aus, für die der Zusammenbruch des staatskapitalistischen Blocks eine Enttäuschung, ja Niederlage darstellte, weil ihre Hoffnungen untrennbar mit einem staatlichen Modell von gesellschaftlichem Wohl verbunden waren. Eine positive Erwiderung auf den Slavoj Žižek zugeschriebenen1 pessimistischen Satz gaben die Platzbesetzungen der Nuit debout, die im Frühjahr 2016 in Frankreich stattfanden: »Ein anderes Ende der Welt ist möglich«, lautete eine ihrer Losungen. Sie besagt, dass uns der von Grauen und Barbarei gesäumte Pfad des Kapitalismus zwar gewiss in die finale Katastrophe führen kann, uns aber noch immer die Freiheit bleibt, seine Überwindung zu denken und entsprechend zu handeln. Das Ende der kapitalistischen Welt muss nicht das Ende der Welt schlechthin sein.
Das vorliegende Buch behandelt die verschiedenen revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung nicht in der Manier eines Historikers, auch wenn die Geschichte offenkundig im Mittelpunkt unserer Reflexionen steht. Vielmehr kommt es auf sie zurück, um sich aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen mit ihnen auseinanderzusetzen – bruchstückhaft, manchmal kursorisch und immer parteiisch. Uns interessieren Strömungen, die in offiziellen und offiziösen, der Normalität bestehender oder werdender Mächte verpflichteten Geschichtsschreibungen als »unmäßig« und »extrem« auftauchen und von den Führern des orthodoxen Sozialismus recht bald als »wild« klassifiziert wurden, weil sie sich ihnen entzogen. Aus diesem parteiischen Blickwinkel verteidigen wir folgenreiche Entscheidungen: das Eintreten der Enragés für das imperative Mandat während der Französischen Revolution, den Kampf der Sowjets in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, die sich die Macht über die Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten, die Selbstregierung der Räte und die Versuche einer Sozialisierung der Ökonomie in der deutschen Revolution von 1918 bis 1920, die Gründung anarchistischer Kollektive in der spanischen Revolution sowie die Praktiken der autonomen Selbstorganisation im wilden Generalstreik des Mai 1968 und während der portugiesischen Revolution von 1974/75. Beschränkt durch das Format des Essays, haben wir uns dafür entschieden, andere subversive Momente der modernen Geschichte beiseite zu lassen. Dies betrifft besonders die Arbeiterrevolten gegen die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa installierten staatskapitalistischen Regime: in Berlin 1953, Ungarn 1956, Polen 1956 und 1970/71 – Revolten, in deren Verlauf die Kraft der spontanen Selbstorganisation und die antibürokratischen Ziele deutlich machten, dass diese neuartigen Gesellschaften von Ausbeutung und Gewalt gekennzeichnet waren, zugleich ihre Schwäche offenbarten und ihren späteren Zusammenbruch vorausahnen ließen.
Es gibt einige Grundannahmen, die wir bei gewissen Nuancen und unwesentlichen Differenzen mit allen teilen, die sich auf die antiautoritären Strömungen des Sozialismus beziehen. Zu den nicht verhandelbaren Gewissheiten zählt, dass es die permanente Delegation von Macht und das damit zwangsläufig verbundene Autoritätsprinzip zu kritisieren gilt, weil sie grundsätzlich unvereinbar sind mit der Veränderung der Welt. Wenn wir uns mit der Geschichte befassen, dann erkennen wir, dass der widersprüchliche Prozess der Überwindung des Kapitalismus sich nur entfalten kann, wenn diejenigen, die ein Interesse an ihm haben, gemeinsam neue Formen des Lebens, der Produktion und des Konsums selbst organisieren. Seine Kraft kann er nur aus einer ausdrücklichen Ablehnung jener Trennungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gewinnen, auf denen die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht beruht.
Jenseits dieser Gewissheiten kann alles hinterfragt und diskutiert werden; das vorliegende Buch versteht sich insofern als Beitrag zu einer notwendigen Erneuerung. Indem wir unseren Streifzug mit den jüngeren Bewegungen und den durch sie ausgelösten Debatten abschließen, versuchen wir zu zeigen, dass sie eine Nähe zu Strömungen des »wilden Sozialismus« aufweisen. So widersprüchlich und begrenzt sie auch sein mögen, lösen sie sich doch von den Prinzipien und Zielen eines Sozialismus der Führer, der Partei, die sich im Besitz des für die Veränderung nötigen Wissens wähnt. Bislang sind diese Bewegungen von den institutionalisierten Organisationen der Vergangenheit noch nicht vereinnahmt oder entstellt worden. Es hat ihnen schlichtweg an einer eigenständigen Dynamik gefehlt, was es traditionellen Kräften ermöglicht hat, den von ihnen angestrebten Bruch im Keim zu ersticken. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. Doch an den aufgeworfenen Fragen kommt niemand vorbei; sie werden bleiben. Denn das mögliche Neue schreitet tastend voran, durch Vorstöße, die sich erschöpfen und dann abermals einsetzen.
Den Gegensatz zwischen einer auf dauerhafter Delegierung beruhenden Demokratie und der direkten Ausübung von Souveränität haben wir bis heute nicht überwunden. Wie Peter Kropotkin mit Blick auf die Französische Revolution bemerkte, muss die direkte Demokratie immer darum ringen, sich in Emanzipationsbewegungen Bahn zu brechen.
Unser Vorhaben besteht also darin, gemeinsam mit dem Leser den roten – oder schwarz-roten – Faden der gesellschaftlichen Emanzipation zu verfolgen, einer Fähigkeit zur Subversion der bestehenden Welt seitens all derer, die daran interessiert und beteiligt sind. Anders gesagt: den mühsamen und steilen Weg des wilden Sozialismus, der von der Französischen Revolution bis zu Occupy Wall Street führt.