Читать книгу Der wilde Sozialismus - Charles Reeve - Страница 18
SCHWIERIGKEITEN DER DIREKTEN DEMOKRATIE
ОглавлениеDie Erfahrung und die Errungenschaften der Kommune können heute im Licht eines ununterbrochenen Kampfes zwischen zwei Tendenzen neu betrachtet werden: Auf der einen Seite standen Strömungen, die eine auf der Delegation von Macht beruhende Demokratie institutionalisieren wollten, auf der anderen solche, die die direkte Souveränität der Arbeiter auszuweiten versuchten. Im Denken und Handeln der Kommunarden prallten diese zwei Vorstellungen mal aufeinander, mal existierten sie Seite an Seite. Robert Tombs hat in einer Studie die enorme Fülle an Literatur über die Kommune neu ausgewertet, um unter anderem zu zeigen, wie in ihrem Geist und ihrer Praxis, in der Organisation des Alltagslebens, der Politik und den Eigenheiten der Nationalgarde – die nicht wie eine reguläre Armee funktionierte – Formen von direkter Demokratie aufweisbar sind.16 Für die Kommunarden bestand die ideale Republik laut Tombs in einer Form von direkter Demokratie, in der das Volk die Souveränität weniger delegierte als selbst auszuüben gedachte und die Repräsentanten auf die Tolerierung durch die Repräsentierten angewiesen waren. Die Haltung der Kommunarden zur revolutionären Gewalt ist für Tombs einer der Aspekte, die von der Gegenwart emanzipatorischer Werte in der Kommune zeugen. Wie er betont, wurden die wenigen Gewalttaten gegen Personen – Racheakte, standrechtliche Hinrichtungen – von den rigidesten und autoritärsten Strömungen verübt, allen voran von den Blanquisten. Insgesamt habe die Kommune brutale Gewalt immer zu vermeiden versucht, wie etwa ihre klare Ablehnung der Wiedereinführung der Todesstrafe selbst für militärischen Verrat und Kollaboration mit dem Feind zeige – auch wenn zwischen Anspruch und Realität immer eine Kluft bestand.
Um bestimmte Mythen, Bilder und Legenden über die Kommune zu demontieren, geht Tombs von der konkreten Praxis aus und relativiert dabei auch das Ausmaß der direkten Demokratie, das in ihr herrschte. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Frage der Beteiligung von Frauen. Tombs unterstreicht die Tatsache, dass Frauen in der Kommune nur eine begrenzte Rolle spielten, die sich mit dem Gewicht, das sie in der Französischen Revolution hatten, gar nicht vergleichen lasse: Männer beherrschten die politischen Institutionen, Bemühungen um eine Integration der Frauen blieben aus.17 Frauen »konnten das Wort ergreifen und Petitionen einreichen, aber weder wählen noch Entscheidungen treffen«.18 Das allgemeine Wahlrecht, 1848 nur Männern gewährt, wurde für Frauen auch während der Kommune nicht eingeführt, ja nicht einmal gefordert. Obwohl Frauen in bedeutender Zahl aktive Kämpferinnen waren, sich in die politische Debatte einmischten und sogar eigene Klubs und Komitees gründeten, blieben sie in den revolutionären Organisationen unterrepräsentiert. Ihr Beitrag zu den bewaffneten Auseinandersetzungen wiederum erstreckte sich, wie so oft, eher auf die Logistik und allgemeine Kriegsanstrengung als auf direkte Kampfhandlungen. Von dieser Ausrichtung zeugen bereits die Namen von Organisationen wie der »Union des femmes pour la défense de Paris et les soins aux blessés« (»Frauenverein für die Verteidigung von Paris und die Versorgung der Verwundeten«). Eine weitere Organisation war die »Société pour la revendication du droit des femmes« (»Gesellschaft für die Rechte der Frauen«) – und hinter der stand maßgeblich ein Mann: Élisée Reclus, ein Freund von Louise Michel.
Wie stark das Verlangen nach einer neuen Welt die Kommune prägte, hat Kristin Ross in ihrer Studie Communal Luxury – The Political Imaginary of the Paris Commune sehr differenziert geschildert. So stellt sie die Union des femmes als »die größte und wirksamste Organisation der Kommune« vor, hält aber gleichzeitig fest, dass sie »nicht das geringste Interesse an Forderungen nach parlamentarischer Vertretung oder politischen Rechten zeigte«; ihre Mitglieder standen »dem Wahlrecht […] und überhaupt traditionellen Formen von republikanischer Politik gleichgültig gegenüber«.19 Laut Ross bestand ihr Hauptanliegen vielmehr darin, Arbeit zu finden, weshalb sie die Kommune zur Gründung von Kooperativen aufforderten. Dennoch kann man Tombs’ Schlussfolgerung ohne weiteres beipflichten: »Dass politische Gleichheit gewährleistet war, muss fraglos einen Einfluss darauf haben, wie wir die Einstellungen und Praxis der Kommunardinnen deuten.«20 Und die der Kommunarden, wie man hinzufügen möchte. Deutlich wird hier, wie schwer es den Pariser Aufständischen fiel, ihr Bedürfnis nach umfassender Volkssouveränität zu verwirklichen.