Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 10

Zweites Kapitel

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Auf dem gan­zen Wege leis­te­te ich Wi­der­stand; dies war et­was Neu­es und ein Um­stand, der viel dazu bei­trug, Bes­sie und Miss Ab­bot in der schlech­ten Mei­nung zu be­stär­ken, wel­che die­se oh­ne­hin schon von mir heg­ten. Tat­sa­che ist, dass ich voll­stän­dig au­ßer mir war, wie die Fran­zo­sen zu sa­gen pfle­gen; ich wuss­te sehr wohl, dass die Em­pö­rung die­ses einen Au­gen­blicks mir schon au­ßer­ge­wöhn­li­che Stra­fen zu­ge­zo­gen ha­ben muss­te, und wie vie­le an­de­re re­bel­li­sche Skla­ven war ich in mei­ner Verzweif­lung fest ent­schlos­sen, bis ans Äu­ßers­te zu ge­hen.

»Hal­ten Sie ihre Arme, Miss Ab­bot; sie ist wie eine wil­de Kat­ze.«

»Schä­men Sie sich! Schä­men Sie sich!« rief die Kam­mer­jung­fer. »Welch ein ab­scheu­li­ches Be­tra­gen, Miss Eyre, einen jun­gen Gent­le­man zu schla­gen! Den Sohn Ih­rer Wohl­tä­te­rin! Ihren jun­gen Herrn!«

»Herr! Wie ist er mein Herr? Bin ich denn eine Die­ne­rin?«

»Nein. Sie sind we­ni­ger als eine Die­ne­rin, denn Sie tun nichts, Sie ar­bei­ten nicht für Ihren Un­ter­halt. Da! Set­zen Sie sich und den­ken Sie über Ihre Schlech­tig­keit und Bos­heit nach!«

In­zwi­schen hat­ten sie mich in das von Mrs. Reed be­zeich­ne­te Ge­mach ge­bracht und mich auf einen Stuhl ge­wor­fen; mein ers­ter Im­puls war, wie eine Sprung­fe­der wie­der von dem­sel­ben em­por zu schnel­len; vier Hän­de hiel­ten mich je­doch au­gen­blick­lich wie­der wie mit ei­ser­nen Klam­mern.

»Wenn Sie nicht still sit­zen, wer­den wir Sie fest­bin­den«, sag­te Bes­sie. »Miss Ab­bot, bor­gen Sie mir Ihre Strumpf­bän­der; die mei­nen wür­de sie au­gen­blick­lich zer­rei­ßen.«

Miss Ab­bot wand­te sich ab, um ein star­kes Bein von den not­wen­di­gen Ban­den zu be­frei­en. Die­se Vor­be­rei­tun­gen, um mir Fes­seln an­zu­le­gen, und die neue Schan­de, die dies für mich be­deu­te­te, diente dazu, mei­ne Auf­re­gung ein we­nig zu min­dern.

»Neh­men Sie sie nicht ab«, schrie ich, »ich wer­de ganz still sit­zen.«

Um ih­nen für dies Ver­spre­chen eine Ga­ran­tie zu bie­ten, hielt ich mich mit bei­den Hän­den an mei­nem Sitz fest.

»Das möch­te ich Ih­nen auch ra­ten«, sag­te Bes­sie; und als sie sich über­zeugt hat­te, dass ich wirk­lich an­fing, mich zu be­ru­hi­gen, ließ sie mich los; dann stell­ten sie und Miss Ab­bot sich mit ge­kreuz­ten Ar­men vor mich und blick­ten fins­ter und zwei­felnd in mein Ge­sicht, als glaub­ten sie nicht an mei­nen ge­sun­den Ver­stand.

»Das hat sie bis jetzt noch nie­mals ge­tan«, sag­te end­lich Bes­sie zu Abi­gail ge­wen­det.

»Aber es hat schon lan­ge in ihr ge­steckt«, lau­te­te die Ant­wort. »Ich habe der gnä­di­gen Frau schon oft mei­ne Mei­nung über das Kind ge­sagt, und sie hat mir auch bei­ge­stimmt. Sie ist ein ver­steck­tes, klei­nes Ding: ich habe noch nie ein Mäd­chen in ih­rem Al­ter ge­se­hen, das so schlau wäre.«

Bes­sie ant­wor­te­te nicht; nach ei­ner Wei­le wand­te sie sich zu mir und sag­te:

»Fräu­lein, Sie soll­ten doch wis­sen, dass Sie Mrs. Reed ver­pflich­tet sind, sie er­hält Sie. Wenn sie Sie fort­schick­te, so müss­ten Sie ins Ar­men­haus ge­hen.«

Auf die­se Wor­te fand ich nichts zu er­wi­dern; sie wa­ren mir nicht mehr neu; so weit ich in mei­nem Le­ben zu­rück­den­ken konn­te, hat­te ich Win­ke des­sel­ben In­halts ge­hört. Die­ser Vor­wurf mei­ner Ab­hän­gig­keit war in mei­nen Ohren fast zum lee­ren, be­deu­tungs­lo­sen Sings­ang ge­wor­den, sehr schmerz­lich und be­drückend, aber nur halb ver­ständ­lich. Nun fiel auch Miss Ab­bot ein:

»Und Sie soll­ten auch nicht den­ken, dass Sie mit den Fräu­lein Reed und Mr. Reed auf glei­cher Stu­fe ste­hen, weil Mrs. Reed Ih­nen gü­tig er­laubt, mit ih­ren Kin­dern er­zo­gen zu wer­den. Die­se wer­den ein­mal ein großes Ver­mö­gen ha­ben, und Sie sind arm. Sie müs­sen de­mü­tig und be­schei­den sein und ver­su­chen, sich den an­de­ren an­ge­nehm zu ma­chen.«

»Was wir Ih­nen sa­gen, ist zu Ihrem Bes­ten«, füg­te Bes­sie hin­zu, ohne in har­tem Ton zu re­den, »Sie soll­ten ver­su­chen, sich nütz­lich und an­ge­nehm zu ma­chen, dann wür­den Sie hier viel­leicht eine Hei­mat fin­den; wenn Sie aber hef­tig und roh und un­ge­zo­gen wer­den, so wird Mrs. Reed Sie fort­schi­cken, da­von bin ich fest über­zeugt.«

»Au­ßer­dem«, sag­te Miss Ab­bot, »wird Gott Sie stra­fen. Er könn­te Sie mit­ten in Ihrem Trotz tot zu Bo­den fal­len las­sen, und wo­hin kämen Sie dann? Kom­men Sie, Bes­sie, wir wol­len sie al­lein las­sen: um kei­nen Preis der Welt möch­te ich ihr Herz ha­ben. Sa­gen Sie Ihr Ge­bet, Miss Eyre, wenn Sie al­lein sind; denn wenn Sie nicht be­reu­en, könn­te et­was Schreck­li­ches durch den Ka­min her­un­ter­kom­men und Sie ho­len.«

Sie gin­gen und schlos­sen die Tür hin­ter sich ab.

Das rote Zim­mer war ein Frem­den­zim­mer, in dem nur sel­ten je­mand schlief; ich könn­te bei­na­he sa­gen nie­mals oder nur dann, wenn ein zu­fäl­li­ger Zu­sam­men­fluss von Be­su­chern auf Ga­tes­head-Hall es not­wen­dig mach­te, alle Räum­lich­kei­ten des Hau­ses nutz­bar zu ma­chen. Und doch war es eins der schöns­ten und präch­tigs­ten Ge­mä­cher im Her­ren­hau­se. Wie ein Ta­ber­na­kel stand im Mit­tel­punkt des­sel­ben ein Bett von mas­si­ven Ma­ha­go­nipfei­lern ge­tra­gen und mit Vor­hän­gen von dun­kel­ro­tem Da­mast be­hängt; die bei­den großen Fens­ter, de­ren Rou­leaux im­mer her­ab­ge­las­sen wa­ren, wur­den durch Ge­hän­ge und Fal­ten­dra­pe­ri­en vom sel­ben Stof­fe halb ver­hüllt; der Tep­pich war rot; der Tisch am Fu­ßen­de des Bet­tes war mit ei­ner hoch­ro­ten De­cke be­legt; die Wän­de wa­ren mit ei­nem Stof­fe be­hängt, der auf licht­brau­nem Grun­de ein zar­tes rosa Mus­ter trug; die Gar­de­ro­be, der Toi­let­te­tisch, die Stüh­le wa­ren aus dunklem, po­lier­tem Ma­ha­go­ni an­ge­fer­tigt. Aus die­sen düs­te­ren Schat­ten er­ho­ben sich weiß und hoch und glän­zend die auf­ge­häuf­ten Ma­trat­zen und Kopf­kis­sen des Bet­tes, über die eine schnee­wei­ße De­cke ge­brei­tet war. Eben so un­heim­lich stach ein großer, ge­pols­ter­ter, eben­falls wei­ßer Lehn­stuhl her­vor, der am Kop­fen­de des Bet­tes stand und vor dem sich ein Fuß­sche­mel be­fand; da­mals er­schi­en er mir wie ein geis­ter­haf­ter Thron.

Das Zim­mer war dumpf, weil nur sel­ten ein Feu­er in dem­sel­ben an­ge­zün­det wur­de; es war still, weil es weit von der Kin­der­stu­be und den Kü­chen ent­fernt lag; un­heim­lich, weil ich wuss­te, dass fast nie­mals je­mand das­sel­be be­trat. Nur am Sonn­abend kam das Haus­mäd­chen hier­her, um den stil­len Staub ei­ner Wo­che von den Mö­beln und den Spie­geln zu wi­schen; und in lan­gen Zwi­schen­räu­men kam auch Mrs. Reed hier­her, um den In­halt ei­ner ge­wis­sen Schieb­la­de zu re­vi­die­ren, in wel­cher sich ver­schie­de­ne Ur­kun­den, ihre Ju­we­len­scha­tul­le und ein Mi­nia­tur­bild ih­res ver­stor­be­nen Gat­ten be­fand. In die­sen letz­ten Wor­ten liegt das Ge­heim­nis des ro­ten Zim­mers, der Zau­ber­bann, wes­halb es trotz sei­ner Pracht so ein­sam und ver­las­sen war.

Mr. Reed war seit neun Jah­ren tot; in die­sem Ge­ma­che hat­te er sei­nen letz­ten Atem­zug ge­tan; hier lag er auf­ge­bahrt; von hier hat­ten die Lei­chen­trä­ger ihn hin­aus­ge­tra­gen – und seit je­nem Tage hat­te ein Ge­fühl trau­ri­ger Wei­he je­den un­be­ru­fe­nen Be­su­cher von sei­ner Schwel­le fern ge­hal­ten.

Der Sitz, auf wel­chen Bes­sie und die bit­ter­bö­se Miss Ab­bot mich ge­bannt hat­ten, war eine nied­ri­ge Ot­to­ma­ne, wel­che nahe dem wei­ßen Mar­mor­ka­min stand; das Bett türm­te sich vor mir auf; zu mei­ner Rech­ten be­fand sich ein ho­her dunk­ler Gar­de­ro­ben­schrank, auf des­sen Ta­fel­werk sich die lei­sen, düs­te­ren Lich­ter bra­chen; zu mei­ner Lin­ken wa­ren die ver­häng­ten Fens­ter; ein großer Spie­gel zwi­schen den­sel­ben wie­der­hol­te die to­tes­s­til­le Ma­je­stät des Bet­tes und des Zim­mers. Ich war nicht ganz si­cher, ob sie die Tür zu­ge­schlos­sen hat­ten; und als ich wie­der Mut ge­nug hat­te, um mich zu be­we­gen, stand ich auf und ging um nach­zu­se­hen. Ach ja! Kei­ne Ker­ker­tür war je­mals si­che­rer ver­schlos­sen! Als ich wie­der an die Ot­to­ma­ne zu­rück­ging, muss­te ich an dem Spie­gel vor­über, mein ge­bann­ter Blick bohr­te sich un­will­kür­lich in die Tie­fe des­sel­ben ein. In ihm sah al­les noch küh­ler und hoh­ler und düs­te­rer aus als in Wirk­lich­keit, und die selt­sa­me, klei­ne Ge­stalt, die mir aus ihm ent­ge­gen­blick­te, mit weißem Ge­sicht und Ar­men, die grell aus der Dun­kel­heit her­vor­leuch­te­ten, mit Au­gen, die vor Furcht hin- und her­roll­ten, wo sonst al­les be­we­gungs­los war – die­se klei­ne Ge­stalt sah aus, wie ein wirk­li­ches Ge­s­penst; ich dach­te an eins je­ner zar­ten Phan­to­me, halb Elfe, halb Ko­bold, wie sie in Bes­sies Däm­mer­stun­den-Ge­schich­ten aus ein­sa­men, wil­den Schluch­ten und düs­te­ren Moo­ren her­vor­ka­men und sich dem Auge des nächt­li­chen Wan­de­rers zeig­ten. Ich kehr­te auf mei­nen Sitz zu­rück.

In die­sem Au­gen­blick be­mäch­tig­te der Aber­glau­be sich mei­ner, aber die Stun­de sei­nes voll­stän­di­gen Sie­ges über mich war noch nicht ge­kom­men: mein Blut war noch warm; die Wut des em­pör­ten Skla­ven er­hitz­te mich noch mit ih­rer gan­zen Bit­ter­keit; ich hat­te noch einen wil­den Strom von Ge­dan­ken an die Ver­gan­gen­heit zu bän­di­gen, be­vor ich mich ganz dem Jam­mer über die trost­lo­se Ge­gen­wart hin­ge­ben konn­te.

Wie der schmut­zi­ge Bo­den­satz aus ei­nem trü­ben Brun­nen, so stieg aus mei­nem be­weg­ten, auf­ge­reg­tem Ge­müt al­les an die Ober­flä­che mei­nes Emp­fin­dens: John Reeds wil­de Ty­ran­nei, die hoch­mü­ti­ge Gleich­gül­tig­keit sei­ner Schwes­tern, die Ab­nei­gung sei­ner Mut­ter, die Par­tei­lich­keit der Dienst­bo­ten! Wes­halb muss­te ich stets lei­den, stets mit ver­ächt­li­chen Bli­cken an­ge­se­hen wer­den, im­mer be­schul­digt, im­mer ver­ur­teilt wer­den? Wes­halb konn­te ich nie­mals et­was recht ma­chen? Wes­halb war es im­mer nutz­los, wenn ich ver­such­te, ir­gend ei­nes Men­schen Gunst zu er­rin­gen? Man hat­te Ach­tung vor Eli­za, die doch so ei­gen­sin­nig und selbst­süch­tig war. Je­der­mann hat­te Nach­sicht mit Ge­or­gi­na, die stets übel­ge­launt und trot­zig und frech war. Ihre Schön­heit, ihre ro­si­gen Wan­gen und gol­di­gen Lo­cken schie­nen je­den zu ent­zücken, der sie an­blick­te und ihr Ver­ge­bung für all ihre Män­gel und Feh­ler zu er­kau­fen. John wur­de nie­mals be­straft, nie­mand wi­der­sprach ihm je­mals, ob­gleich er den Tau­ben die Häl­se um­dreh­te, die jun­gen Hüh­ner um­brach­te, die Hun­de auf die Scha­fe hetz­te, den Wein­stock im Treib­hau­se sei­ner Trau­ben be­raub­te und von den sel­tens­ten Pflan­zen die Knos­pen ab­riss; er nann­te sei­ne Mut­ter so­gar »lie­be Alte«; nahm durch­aus kei­ne Rück­sicht auf ihre Wün­sche; zer­riss und be­schmutz­te ihre sei­de­nen Klei­der nicht sel­ten, – und doch war er »ihr ein­zi­ger Lieb­ling«. Ich wag­te nie­mals, einen Feh­ler zu be­ge­hen; ich be­müh­te mich stets, mei­ne Pf­licht zu tun, und mich nann­te man un­ar­tig und un­er­träg­lich, mür­risch und hin­ter­lis­tig, vom Mor­gen bis zum Mit­tag, vom Mit­tag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerz­te noch und blu­te­te nach dem er­hal­te­nen Schla­ge und dem Fal­le, wel­chen ich ge­tan; nie­mand hat­te John einen Ver­weis er­teilt, weil er mich grund­los ge­schla­gen; aber weil ich mich ge­gen ihn auf­ge­lehnt hat­te, um sei­ner wei­te­ren un­ver­nünf­ti­gen, be­sin­nungs­lo­sen Hef­tig­keit zu ent­ge­hen, hat­ten alle mich mit den lau­tes­ten Schmä­hun­gen über­häuft.

»Un­ge­recht! – un­ge­recht!« sag­te mei­ne Ver­nunft, wel­cher die fort­wäh­ren­de, qual­vol­le Auf­rei­zung eine früh­zei­ti­ge, wenn auch vor­über­ge­hen­de Kraft ver­lie­hen hat­te; und die Ent­schlos­sen­heit, wel­che auch ge­weckt war, ließ mich al­ler­hand Mit­tel er­sin­nen, um eine Flucht aus die­sem schier un­er­träg­lich ge­wor­de­nen Dru­cke zu be­werk­stel­li­gen – ich dach­te dar­an, auf und da­von zu lau­fen, oder wenn dies nicht mög­lich, we­nigs­tens nie­mals wie­der Spei­se und Trank zu mir zu neh­men und auf die­se Wei­se zu Tode zu hun­gern.

Wie be­stürzt war mei­ne See­le an die­sem trau­ri­gen Nach­mit­tag! Wie er­regt war mein Ge­müt, wie furcht­bar em­pört mein Herz! Aber in wel­cher Düs­ter­heit, wel­cher Ver­blen­dung, wel­cher un­glaub­li­chen Un­wis­sen­heit wur­de die­ser See­len­kampf aus­ge­kämpft! Ich hat­te kei­ne Ant­wort auf die sich mir un­auf­hör­lich auf­drän­gen­de Fra­ge, wes­halb ich so viel lei­den muss­te. Jetzt nach Ver­lauf von – nein, ich will nicht sa­gen, von wie vie­len Jah­ren – habe ich die Ant­wort ge­fun­den!

Ich war ein Miss­ton in Ga­tes­head-Hall. Ich war ein Nichts an die­sem Orte; ich hat­te k­ei­ne Ge­mein­schaft mit Mrs. Reed oder ih­ren Kin­dern oder ih­ren be­zahl­ten Va­sal­len. Sie lieb­ten mich nicht, und in der Tat, ich lieb­te sie eben­so­we­nig. Es war auch nicht ihre Pf­licht, mit Lie­be auf ein Ge­schöpf zu bli­cken, wel­ches mit kei­ner ein­zi­gen See­le sym­pa­thi­sie­ren konn­te; ein he­te­ro­ge­nes Ge­schöpf, wel­ches ihr di­rek­tes Ge­gen­teil in Tem­pe­ra­ment, in Fä­hig­kei­ten und Nei­gun­gen war; ein nutz­lo­ses Ge­schöpf, wel­ches ih­rem In­ter­es­se nicht die­nen, zu ih­rem Ver­gnü­gen nichts bei­tra­gen konn­te; ein straf­ba­res Ge­schöpf, wel­ches die Kei­me der Em­pö­rung über die ihm wi­der­fah­ren­de Be­hand­lung in sich nähr­te, ein Ge­schöpf, das die tiefs­te Ver­ach­tung für ih­ren Ver­stand, ihr Ur­teils­ver­mö­gen nähr­te. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein san­gui­ni­sches, geist­rei­ches, her­ri­sches, schö­nes, wil­des Kind ge­we­sen wäre – wenn auch eben­so ab­hän­gig und freund­los – so wür­de Mrs. Reed mei­ne Ge­gen­wart in lie­bens­wür­di­ge­rer Wei­se er­tra­gen ha­ben; ihre Kin­der hät­ten für mich ein freund­li­che­res Ge­fühl der Ge­mein­sam­keit ge­hegt; die Dienst­bo­ten wä­ren we­ni­ger ge­neigt ge­we­sen, mich zum Sün­den­bock der Kin­der­stu­be zu ma­chen.

Das Ta­ges­licht be­gann aus dem ro­ten Zim­mer zu schwin­den; es war nach vier Uhr, und auf den be­wölk­ten Nach­mit­tag folg­te die trü­be Däm­me­rung. Ich hör­te, wie der Re­gen noch un­auf­hör­lich ge­gen das Fens­ter der Trep­pe schlug, wie der Wind in den Laub­gän­gen hin­ter dem Her­ren­hau­se heul­te; nach und nach wur­de ich so kalt wie Mar­mor, und dann be­gann mein Mut zu sin­ken. Die ge­wöhn­li­che Stim­mung des Ge­de­mü­tigt­seins, Zwei­fel an mir selbst, hilflo­se Trau­rig­keit be­mäch­tig­ten sich mei­ner und fie­len dämp­fend auf die Asche mei­ner da­hin­schwin­den­den Wut. Alle sag­ten ja, dass ich bos­haft sei – viel­leicht war es der Fall, denn hat­te ich nicht so­eben den Ge­dan­ken ge­hegt, mich zu Tode zu hun­gern? Das war doch ge­wiss ein Ver­bre­chen: denn war ich be­reit zu ster­ben? oder war das Ge­wöl­be un­ter der Kan­zel in der Kir­che von Ga­tes­head ein so ein­la­den­des Ende? In die­sem Ge­wöl­be lag Mr. Reed be­gra­ben, wie man mir ge­sagt hat­te; die­ser Ge­dan­ke führ­te mich dazu, sein An­den­ken her­auf zu be­schwö­ren; und mit wach­sen­dem Grau­en ver­weil­te ich bei dem­sel­ben. Ich konn­te mich sei­ner nicht er­in­nern; aber ich wuss­te, dass er mein On­kel ge­we­sen, – der ein­zi­ge Bru­der mei­ner Mut­ter – dass er mich in sein Haus auf­ge­nom­men, als ich ein ar­mes, el­tern­lo­ses Kind ge­we­sen; und dass er noch in sei­nen letz­ten Au­gen­bli­cken Mrs. Reed das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men hat­te, mich wie ihr ei­ge­nes Kind zu er­zie­hen und zu ver­sor­gen. Mrs. Reed war höchst­wahr­schein­lich der Über­zeu­gung, dass sie die­ses Ver­spre­chen ge­hal­ten habe, und so weit ihre Na­tur ihr dies er­laub­te, hat­te sie es auch ge­tan; aber wie soll­te sie denn auch in Wirk­lich­keit für einen Ein­dring­ling Lie­be he­gen, der nicht zu ih­rer Fa­mi­lie ge­hör­te und nach dem Tode ih­res Gat­ten durch kei­ne Ban­de mehr an sie ge­ket­tet war? Es muss­te al­ler­dings är­ger­lich sein, sich durch ein un­ter sol­chen Um­stän­den ge­ge­be­nes Ver­spre­chen ge­nö­tigt zu se­hen, ei­nem frem­den Kin­de, das sie nicht lie­ben konn­te, die El­tern zu er­set­zen, und es er­tra­gen zu müs­sen, dass eine un­sym­pa­thi­sche Frem­de sich un­auf­hör­lich in ih­ren Fa­mi­li­en­kreis dräng­te.

Eine son­der­ba­re Idee be­mäch­tig­te sich mei­ner. Ich zwei­fel­te nicht – hat­te es nie­mals be­zwei­felt – dass Mr. Reed, wenn er am Le­ben ge­blie­ben, mich mit Güte be­han­delt ha­ben wür­de; und jetzt, als ich so da­saß und auf die dunklen Wän­de und das wei­ße Bett blick­te, zu­wei­len auch wie ge­bannt ein Auge auf den trü­be blin­ken­den Spie­gel warf – da be­gann ich mich an das zu er­in­nern, was ich von To­ten ge­hört hat­te, die im Gra­be kei­ne Ruhe fin­den konn­ten, weil man ihre letz­ten Wün­sche un­er­füllt ge­las­sen, und jetzt auf die Erde zu­rück­kehr­ten, um die Mein­ei­di­gen zu stra­fen und die Be­drück­ten zu rä­chen; ich dach­te, wie Mr. Reeds Geist, ge­quält durch das Un­recht, wel­ches man dem Kin­de sei­ner Schwes­ter zu­füg­te, sei­ne Ru­he­stät­te ver­ließ – ent­we­der in dem Ge­wöl­be der Kir­che oder in dem un­be­kann­ten Lan­de der Ab­ge­schie­de­nen – und in die­sem Zim­mer vor mir er­schei­nen kön­ne. Ich trock­ne­te mei­ne Trä­nen und un­ter­drück­te mein Schluch­zen; denn ich fürch­te­te, dass die­se lau­ten Äu­ße­run­gen mei­nes Grams eine über­na­tür­li­che Stim­me zu mei­nem Tros­te er­we­cken oder aus dem mich um­ge­ben­den Dun­kel ein Ant­litz mit ei­nem Hei­li­gen­schein her­vor­leuch­ten las­sen kön­ne, das sich mit wun­der­sa­mem Mit­leid über mich beug­te. Die­ser Ge­dan­ke, der in der Theo­rie viel­leicht ganz trost­reich, wür­de ent­setz­lich sein, wenn er zur Wirk­lich­keit wer­den könn­te, das fühl­te ich: mit al­ler Ge­walt ver­such­te ich, ihn zu un­ter­drücken – ich be­müh­te mich, ru­hig und ge­fasst zu sein. In­dem ich mir das Haar von Stirn und Au­gen strich, er­hob ich den Kopf und ver­such­te in dem dunklen Zim­mer um­her zu bli­cken: in die­sem Au­gen­blick sah ich den Wie­der­schein ei­nes Lich­tes an der Wand! – War es viel­leicht der Mon­dess­trahl, der durch eine Öff­nung in dem Vor­hang drang, frag­te ich mich? Nein, die Mon­dess­trah­len wa­ren ru­hig und dies Licht be­weg­te sich; wäh­rend ich noch hin­blick­te, glitt es zur De­cke hin­auf und er­zit­ter­te über mei­nem Kop­fe. Jetzt kann ich frei­lich be­grei­fen, dass die­ser Licht­strei­fen al­ler Wahr­schein­lich­keit nach der Schim­mer ei­ner La­ter­ne war, wel­che je­mand über den frei­en Platz vor dem Hau­se trug; aber da­mals, mit dem auf Schre­cken und Ent­set­zen vor­be­rei­te­ten Ge­müt, mit mei­nen vor Auf­re­gung be­ben­den Ner­ven, hielt ich den sich schnell be­we­gen­den Strahl für den He­rold ei­ner Er­schei­nung, die aus ei­ner an­de­ren Welt zu mir kam. Mein Herz poch­te laut, mein Kopf wur­de heiß; in mei­nen Ohren spür­te ich ein Brau­sen, das ich für das Rau­schen der Flü­gel hielt; ein Et­was schi­en sich mir zu nä­hern; ich fühl­te mich be­drückt, er­stickt; mein Wi­der­stands­ver­mö­gen gab nach; ich stürz­te auf die Tür zu und rüt­tel­te mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung am Schlos­se. Ei­len­de Schrit­te ka­men durch den äu­ße­ren Kor­ri­dor da­her; der Schlüs­sel wur­de im Schlos­se um­ge­dreht, Bes­sie und Miss Ab­bot tra­ten ein.

»Miss Eyre, sind Sie krank?« frag­te Bes­sie.

»Welch ein fürch­ter­li­cher Lärm! Ich bin ganz au­ßer mir!« rief Ab­bot aus.

»Nehmt mich mit hin­aus! Lasst mich in die Kin­der­stu­be ge­hen!« schrie ich un­un­ter­bro­chen.

»Wes­halb denn? Ist Ih­nen ir­gend et­was ge­sche­hen? Ha­ben Sie et­was ge­se­hen?« frag­te Bes­sie wie­der­um.

»O, ich sah ein Licht und ich mein­te, dass ein Geist kom­men wür­de.« Ich hat­te mich jetzt Bes­sies Hand be­mäch­tigt, und sie ent­wand sie mir nicht.

»Sie hat mit Ab­sicht so ge­schri­en«, er­klär­te Ab­bot mit ei­ni­gem Ab­scheu. »Und welch ein Ge­schrei! Wenn sie große Schmer­zen ge­habt hät­te, so könn­te man es noch ent­schul­di­gen, aber sie woll­te wei­ter nichts, als uns alle her­bei­lo­cken. Ich ken­ne ihre bö­sen Strei­che schon.«

»Was gibt es denn hier?« frag­te eine an­de­re Stim­me ge­bie­te­risch; und Mrs. Reed kam mit flat­tern­den Hau­ben­bän­dern und we­hen­dem Klei­de durch den Kor­ri­dor da­her. »Ab­bot und Bes­sie, ich glau­be, dass ich Be­fehl ge­ge­ben habe, Jane Eyre in dem ro­ten Zim­mer zu las­sen, bis ich selbst sie ho­len wür­de?«

»Miss Jane schrie so laut, Ma­da­me«, wand­te Bes­sie zö­gernd ein.

»Lasst sie los«, war die ein­zi­ge Ant­wort. »Lass Bes­sies Hand los, Kind: ver­lass dich dar­auf, auf die­se Wei­se wirst du nicht hin­aus ge­lan­gen. Ich ver­ab­scheue sol­che List, be­son­ders bei Kin­dern; es ist mei­ne Pf­licht, dir zu be­wei­sen, dass du mit der­ar­ti­gen Rän­ken und Sch­li­chen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine gan­ze Stun­de hier­blei­ben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Ver­spre­chen gibst, voll­kom­men ru­hig und un­ter­wür­fig zu sein.«

»O, Tan­te, hab Er­bar­men! Ver­gib mir doch! Ich kann, ich kann es nicht er­tra­gen. – Be­stra­fe mich doch auf an­de­re Wei­se! Ich kom­me um, wenn …«

»Sei still! Die­se Hef­tig­keit ist ganz wi­der­lich und em­pö­rend!« und ohne Zwei­fel heg­te sie auch Ab­scheu ge­gen mein Be­tra­gen. In ih­ren Au­gen war ich eine früh­rei­fe Schau­spie­le­rin; sie sah in der Tat auf mich wie auf eine Zu­sam­men­set­zung der hef­tigs­ten Lei­den­schaf­ten, ei­nes nied­ri­gen, ge­mei­nen Geis­tes und ge­fähr­li­cher Falsch­heit.

Als Bes­sie und Ab­bot sich zu­rück­ge­zo­gen hat­ten, warf Mrs. Reed, die mei­ner wil­den Angst und mei­nes lau­ten Schluch­zens wohl müde ge­wor­den sein moch­te, mich rasch in das Zim­mer zu­rück und schloss mich ohne wei­te­re Er­klä­run­gen und Wor­te wie­der ein. Ich hör­te noch, wie sie da­von rausch­te; und bald nach­dem sie ge­gan­gen war, muss ich in Krämp­fe ver­fal­len sein: Be­wusst­lo­sig­keit mach­te der Sze­ne ein Ende!

Jane Eyre

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