Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 14

Sechstes Kapitel

Оглавление

Der nächs­te Tag be­gann wie der vo­ri­ge. Wir stan­den beim Lam­pen­licht auf und klei­de­ten uns an, aber an die­sem Mor­gen muss­ten wir von der Ze­re­mo­nie des Wa­schens dis­pen­siert wer­den – das Was­ser in den Was­ser­krü­gen war ge­fro­ren. Am Abend vor­her war eine Ver­än­de­rung im Wet­ter ein­ge­tre­ten, und ein schar­fer Nord­ost­wind, der die gan­ze Nacht durch die Rit­zen in un­se­ren Schlaf­zim­mer­fens­tern ge­pfif­fen, hat­te uns in un­se­ren Bet­ten vor Käl­te be­ben und den In­halt der Wasch­krü­ge zu Eis ge­frie­ren ge­macht.

Be­vor die lan­gen an­dert­halb Stun­den des Ge­bets und des Bi­bel­le­sens zu Ende wa­ren, war ich nahe dar­an, vor Käl­te ohn­mäch­tig zu wer­den. End­lich kam die Früh­stücks­zeit, und an die­sem Mor­gen war der Ha­fer­brei nicht an­ge­brannt, die Qua­li­tät war ess­bar, die Quan­ti­tät ließ viel zu wün­schen üb­rig. Wie klein er­schi­en mir doch mei­ne Por­ti­on! Ich wünsch­te, sie wäre dop­pelt so groß ge­we­sen.

Im Lau­fe des Ta­ges wur­de ich der vier­ten Klas­se als Schü­le­rin ein­ge­reiht, und re­gel­mä­ßi­ge Auf­ga­ben und Be­schäf­ti­gun­gen wur­den mir an­ge­wie­sen; bis jetzt war ich nur Zuschaue­rin bei den Vor­gän­gen in Lo­wood ge­we­sen, jetzt soll­te ich eine der Mit­spie­len­den wer­den. Da ich we­nig dar­an ge­wöhnt ge­we­sen, aus­wen­dig zu ler­nen, schie­nen die Auf­ga­ben mir un­end­lich lang und schwer, auch der häu­fi­ge Wech­sel des Ge­gen­stan­des der Lek­tio­nen ver­wirr­te mich; ich war da­her froh, als Miss Smith mir ge­gen 3 Uhr Nach­mit­tags einen zwei El­len lan­gen Strei­fen wei­ßen Muß­lins samt Fin­ger­hut und Sche­re gab und mir ge­bot, mich in einen stil­len Win­kel des Schul­zim­mers zu set­zen, wo sie mir An­wei­sun­gen gab, wie ich säu­men soll­te. Um die­se Zeit näh­te auch die Mehr­zahl der an­de­ren Mäd­chen, nur eine Klas­se war noch um Miss Scat­cherds Stuhl grup­piert und mit Le­sen be­schäf­tigt. Da tie­fe Stil­le herrsch­te, konn­te man den Ge­gen­stand des Un­ter­richts deut­lich ver­neh­men und eben­so die Art und Wei­se, wie je­des Mäd­chen sich ih­rer Auf­ga­be ent­le­dig­te, oder Miss Scat­cherd ihre Miss­bil­li­gung oder Aner­ken­nung zu ver­ste­hen gab. Es war die eng­li­sche Welt­ge­schich­te. Un­ter den Le­se­r­in­nen be­merk­te ich mei­ne Be­kann­te von der Ve­ran­da; beim Be­ginn der Lek­ti­on hat­te sie ih­ren Platz als Ers­te der Klas­se ge­habt, aber we­gen ir­gend ei­nes Irr­tums in der Auss­pra­che oder ei­ner Unauf­merk­sam­keit in Be­zug auf In­ter­punk­ti­on wur­de sie plötz­lich an das Ende der Schü­le­rin­nen­rei­he ge­schickt. Und selbst noch in die­ser ob­sku­ren Stel­lung blieb sie un­aus­ge­setzt ein Ge­gen­stand für Miss Scat­cherds be­stän­di­ge Auf­merk­sam­keit; fort­wäh­rend rich­te­te sie Wor­te wie die fol­gen­den an sie:

»Burns«, (dies schi­en ihr Name zu sein; die Mäd­chen wur­den hier, wie an­ders­wo die Kna­ben, mit ih­ren Fa­mi­li­enna­men an­ge­re­det). »Burns, du stehst schon wie­der ein­wärts, au­gen­blick­lich die Fuß­spit­zen nach au­ßen.« – »Burns, wes­halb steckst du das Kinn in so häss­li­cher, un­an­ge­neh­mer Wei­se vor? Hal­te den Kopf ge­ra­de!« – »Burns, ich be­ste­he dar­auf, dass du dich ge­ra­de hältst, ich will dich in sol­cher Stel­lung nicht vor mir se­hen«, u.s.w., u.s.w.

Als ein Ka­pi­tel zwei­mal durch­ge­le­sen war, wur­den die Bü­cher ge­schlos­sen und die Mäd­chen ge­prüft. Die Lek­ti­on hat­te einen Teil der Re­gie­rung Karls I. um­fasst, und es wa­ren un­ter­schied­li­che Fra­gen über Ton­nen­geld und Pfund- und Schiffs­zoll ge­stellt wor­den, wel­che die meis­ten der Mäd­chen zu be­ant­wor­ten au­ßer stan­de ge­we­sen. Jede klei­ne Schwie­rig­keit je­doch wur­de ge­löst, wenn sie zu Burns kam; ihr Ge­dächt­nis schi­en die Sub­stanz der gan­zen Lek­ti­on ge­fasst zu ha­ben, und sie hat­te für je­den Punkt eine Ant­wort be­reit. Ich saß da und war­te­te freu­dig er­regt, dass Miss Scat­cherd ihre Auf­merk­sam­keit rüh­men wür­de, statt des­sen rief sie plötz­lich aus:

»Du schmut­zi­ges, wi­der­wär­ti­ges Mäd­chen! Heu­te Mor­gen hast du dei­ne Nä­gel wie­der nicht ge­rei­nigt!«

Burns ant­wor­te­te nicht, ich wun­der­te mich über ihr Schwei­gen.

»Wes­halb«, dach­te ich, »er­klärt sie denn nicht, dass sie we­der ihr Ge­sicht wa­schen noch ihre Nä­gel rei­ni­gen konn­te, da das Was­ser ge­fro­ren war?«

Hier wur­de mei­ne Auf­merk­sam­keit durch Miss Smith ab­ge­lenkt, wel­che mich bat, ihr beim Ab­win­den des Zwirns be­hilf­lich zu sein. Wäh­rend sie ihn ab­wi­ckel­te, sprach sie von Zeit zu Zeit mit mir, frag­te, ob ich schon frü­her eine Schu­le be­sucht habe, ob ich zeich­nen, sti­cken, stri­cken kön­ne u.s.w.; als sie mich end­lich entließ, konn­te ich mei­ne Beo­b­ach­tun­gen über Miss Scat­cherds Ver­hal­ten nicht fort­set­zen. Als ich auf mei­nen Sitz zu­rück­kehr­te, er­teil­te die­se Dame ge­ra­de einen Be­fehl, des­sen In­halt ich nicht ver­ste­hen konn­te. Burns ver­ließ je­doch au­gen­blick­lich die Klas­se und trat in ein klei­nes, in­ne­res Zim­mer, wo die Bü­cher auf­be­wahrt wur­den. Nach kaum ei­ner hal­b­en Mi­nu­te kehr­te sie zu­rück und trug in ih­rer Hand ein klei­nes Rei­sig­bün­del, das an ei­nem Ende zu­sam­men ge­bun­den war. Die­ses omi­nöse Werk­zeug über­reich­te sie Miss Scat­cherd mit ei­nem re­spekt­vol­len Knix, dann lös­te sie schwei­gend, ohne dass es ihr be­foh­len wur­de, ihre Schür­ze – und au­gen­blick­lich ver­setz­te die Leh­re­rin ihr min­des­tens ein Dut­zend schar­fer Strei­che mit der Rute auf Arme und Na­cken. Nicht eine ein­zi­ge Trä­ne trat in Burns Au­gen und wäh­rend ich mit mei­ner Ar­beit in­ne­hielt, weil ein Ge­fühl ohn­mäch­ti­gen, hilflo­sen Zorns mei­ne Fin­ger er­be­ben mach­te, ver­än­der­te nicht ein ein­zi­ger Zug in ih­rem nach­denk­li­chen, erns­ten Ge­sicht sei­nen Aus­druck.

»Ver­här­te­tes Mäd­chen!« rief Miss Scat­cherd aus, »nichts kann dich von dei­nen un­or­dent­li­chen Ge­wohn­hei­ten hei­len! – Tra­ge die Rute wie­der fort.«

Burns ge­horch­te. Ich sah ihr scharf ins Ge­sicht, als sie wie­der aus der Bü­cher­kam­mer her­austrat. Sie schob ge­ra­de ihr Ta­schen­tuch wie­der in die Ta­sche, und eine Trä­ne glänz­te in ih­rem Auge und rann lang­sam über ihre hoh­le, blei­che Wan­ge.

Die Spiel­stun­de am Abend galt mir als der an­ge­nehms­te Teil des gan­zen Ta­ges in Lo­wood. Wenn das klei­ne Stück Brot, der Schluck Kaf­fee, den ich um fünf Uhr ge­nos­sen, mei­nen Hun­ger auch nicht ge­stillt, so hat­te er we­nigs­tens mei­nen Le­bens­mut neu be­seelt. Der lan­ge Zwang des Ta­ges fiel fort. Das Schul­zim­mer war wär­mer als am Mor­gen, denn die Feu­er in dem­sel­ben durf­ten hel­ler bren­nen, weil sie in ge­wis­sem Maße die Lich­ter er­set­zen soll­ten, die noch nicht ein­ge­führt wa­ren. Der röt­li­che Feu­er­schein, der ge­stat­te­te Lärm, die Kon­fu­si­on vie­ler Stim­men rief ein woh­li­ges Ge­fühl von Frei­heit her­vor.

Am Abend des Ta­ges, an dem ich ge­se­hen hat­te, wie Miss Scat­cherd ihre Schü­le­rin Burns mit der Rute ge­züch­tigt hat­te, ging ich wie ge­wöhn­lich ohne Ge­fähr­tin zwi­schen Ti­schen und Bän­ken und la­chen­den Grup­pen um­her, ich fühl­te mich in­des­sen nicht ein­sam. Wenn ich an den Fens­tern vor­über­ging, hob ich dann und wann einen Vor­hang in die Höhe und blick­te hin­aus. Der Schnee fiel in dich­ten Flo­cken, vor den un­te­ren Fens­ter­schei­ben lag be­reits eine hohe Schicht; wenn ich mein Ohr dicht an das Fens­ter leg­te, konn­te ich durch den fröh­li­chen Tu­mult im Zim­mer das trau­ri­ge Sau­sen und To­ben des Win­des drau­ßen un­ter­schei­den.

Wenn ich ein glück­li­ches Heim und gü­ti­ge El­tern ver­las­sen hät­te, so wäre dies wahr­schein­lich die Stun­de ge­we­sen, in der ich die Tren­nung am bit­ters­ten und schmerz­lichs­ten emp­fun­den hät­te. Die­ser drau­ßen to­ben­de Sturm wür­de mir das Herz schwer ge­macht ha­ben, die­ses düs­te­re Cha­os wür­de mei­nen Frie­den ge­stört ha­ben – wie die Din­ge aber la­gen, rief das Ge­tö­se eine selt­sa­me Er­re­gung in mir wach. Ich wur­de un­ru­hig und fie­ber­haft, ich wünsch­te, dass der Wind lau­ter heu­len, die Däm­me­rung zur Dun­kel­heit wer­den und der Lärm in To­ben aus­ar­ten möch­te.

Über Bän­ke fort­sprin­gend und un­ter Ti­schen wei­ter­krie­chend bahn­te ich mir einen Weg zu ei­nem der Ka­mi­ne. Dort fand ich auf dem ho­hen Fen­der kni­end Burns, wel­che bei dem mat­ten Schein der glü­hen­den Asche über der Ge­sell­schaft ih­res Bu­ches al­les ver­ges­sen hat­te, was um sie her vor­ging.

»Ist es noch im­mer Ras­se­las?« frag­te ich hin­ter ihr ste­hend.

»Ja«, sag­te sie, »ich bin ge­ra­de da­mit zu Ende.«

Nach wei­te­ren fünf Mi­nu­ten schlug sie das Buch zu. Ich war froh dar­über.

»Jetzt«, dach­te ich, »kann ich sie viel­leicht zum Spre­chen brin­gen.« Ich setz­te mich ne­ben sie auf den Fuß­bo­den.

»Wel­chen Na­men hast du noch au­ßer Burns?«

»He­len.«

»Bist du von weit her­ge­kom­men?«

»Ich kom­me von Nor­den her, von der schot­ti­schen Gren­ze.«

»Wirst du je­mals wie­der nach Hau­se ge­hen?«

»Ich hof­fe es, aber nie­mand kann in die Zu­kunft se­hen.«

»Wün­schest du nicht sehr, Lo­wood zu ver­las­sen?«

»Nein, wes­halb soll­te ich das wün­schen? Ich bin nach Lo­wood ge­schickt wor­den, um eine gute Er­zie­hung zu be­kom­men, und was wür­de es nüt­zen, fort­zu­ge­hen, wenn die­ser Zweck nicht er­reicht ist.«

»Aber jene Leh­re­rin, Miss Scat­cherd ist doch so grau­sam ge­gen dich?«

»Grau­sam? Durchaus nicht! Sie ist stren­ge. Sie hat einen großen Wi­der­wil­len ge­gen mei­ne Feh­ler.«

»Und wenn ich an dei­ner Stel­le wäre, wür­de ich sie has­sen, ich wür­de mich ge­gen sie auf­leh­nen; wenn sie mich mit je­ner Rute schlü­ge, wür­de ich sie ihr aus der Hand rei­ßen, vor ih­rer Nase wür­de ich das Ding zer­bre­chen.«

»Wahr­schein­lich wür­dest du nichts von al­le­dem tun, aber wenn du es tä­test, so wür­de Mr. Brock­le­hurst dich mit Schimpf und Schan­de aus der Schu­le ja­gen. Und das wäre doch ein großer Kum­mer für dei­ne An­ge­hö­ri­gen. Es ist viel bes­ser, einen Schmerz mit Ge­duld zu er­tra­gen, den nie­mand fühlt, als du selbst, denn eine un­über­leg­te Tat zu be­ge­hen, de­ren böse Fol­gen alle tref­fen, die dir ver­wandt sind – und über­dies ge­bie­tet die Bi­bel uns, Bö­ses mit Gu­tem zu ver­gel­ten.«

»Aber es ist doch ent­eh­rend, mit Ru­ten ge­peitscht zu wer­den und in der Mit­te ei­nes Zim­mers ste­hen zu müs­sen, das vol­ler Men­schen ist, und du bist schon ein so großes Mäd­chen; ich bin viel jün­ger als du und ich könn­te es nicht ein­mal er­tra­gen.«

»Und doch wäre es dei­ne Pf­licht, es zu er­tra­gen, wenn du es nicht ver­mei­den könn­test. Es ist schwach und al­bern zu sa­gen, dass du nicht er­tra­gen kannst, was das Schick­sal dir auf­er­legt.«

Stau­nend hör­te ich ihr zu. Ich konn­te die­se Leh­re der Duld­sam­keit nicht be­grei­fen; und noch we­ni­ger konn­te ich die Ver­söhn­lich­keit, mit wel­cher sie von ih­rer Quä­le­rin sprach, ver­ste­hen, noch mit der­sel­ben sym­pa­thi­sie­ren. Doch fühl­te ich, dass He­len Burns alle Din­ge in ei­nem Lich­te sah, das mei­nen Au­gen nicht sicht­bar war. Ich ver­mu­te­te, dass sie recht hat­te und ich Un­recht; aber ich woll­te nicht tiefer über die Sa­che nach­den­ken – wie Fe­lix schob ich es für eine pas­sen­de­re Ge­le­gen­heit auf.

»Du sagst, dass du Feh­ler hast, He­len, nen­ne sie mir doch. Mir er­scheinst du so gut.«

»Dann ler­ne von mir, dass man nicht nach dem Schein ur­tei­len darf. Ich bin, wie Miss Scat­cherd sagt, sehr un­or­dent­lich; sel­ten nur ma­che ich Ord­nung zwi­schen mei­nen Sa­chen und nie­mals er­hal­te ich die­se Ord­nung; ich bin un­acht­sam; ich ver­ges­se die Vor­schrif­ten; ich lese, wenn ich mei­ne Auf­ga­ben ma­chen soll­te; ich habe kei­ne Metho­de und zu­wei­len sage ich wie du, ich kann es nicht er­tra­gen, mich sys­te­ma­ti­schen Ein­rich­tun­gen zu un­ter­wer­fen. Al­les dies ist sehr är­ger­lich für Miss Scat­cherd, wel­che von Na­tur sau­ber und rein­lich und pünkt­lich ist.«

»Und böse und grau­sam«, füg­te ich hin­zu, aber He­len Burns woll­te die­sen Zu­satz nicht gel­ten las­sen, sie schwieg.

»Ist Miss Tem­ple eben­so streng ge­gen dich, wie Miss Scat­cherd?« frag­te ich wie­der.

Bei der Nen­nung von Miss Temp­les Name flog ein sanf­tes Lä­cheln über ihr sonst so erns­tes Ge­sicht.

»Miss Tem­ple ist vol­ler Güte; es be­rei­tet ihr Schmerz, ge­gen ir­gend­je­man­den stren­ge sein zu müs­sen, selbst ge­gen die schlech­tes­te Schü­le­rin der gan­zen Schu­le. Sie sieht mei­ne Feh­ler und be­lehrt mich mit Sanft­mut über die­sel­ben; wenn ich aber ir­gend et­was lo­bens­wer­tes tue, so ist sie sehr frei­ge­big mit ih­ren Lo­bes­er­he­bun­gen. Ein star­ker Be­weis für mei­ne un­glück­se­lig elen­de, feh­ler­haf­te, schwa­che Na­tur ist es, dass so­gar ihre Vor­stel­lun­gen, so mil­de, so ver­nünf­tig, nicht ge­nug Ein­fluss ha­ben, um mich von mei­nen Feh­lern zu ku­rie­ren. Und so­gar ihr Lob, ob­gleich ich es so hoch schät­ze, kann mich nicht zu an­dau­ern­der Sorg­sam­keit und Über­le­gung an­spor­nen.«

»Das ist selt­sam«, sag­te ich, »es ist doch so leicht, sorg­sam zu sein.«

»Für dich ist es das ohne Zwei­fel. Ich habe dich heu­te Mor­gen in dei­ner Klas­se be­ob­ach­tet und sah, wie un­ver­wandt auf­merk­sam du warst. Dei­ne Ge­dan­ken schie­nen nie­mals ab­zu­schwei­fen, wäh­rend Miss Mil­ler die Lek­ti­on er­klär­te und dich be­frag­te. Und die mei­nen wan­dern fort­wäh­rend; wenn ich Miss Scat­cherd zu­hö­ren und mit Sorg­falt al­les in mich auf­neh­men soll­te, was sie sagt, höre ich oft so­gar den Laut ih­rer Stim­me nicht mehr; ich ver­sin­ke in eine Art von Traum. Manch­mal glau­be ich, dass ich in Nor­thum­ber­land bin und dass der Lärm, den ich um mich her­um höre, das Plät­schern und Rie­seln ei­nes klei­nen Ba­ches ist, der durch Deep­den, ganz nahe un­se­rem Hau­se, fließt: – – wenn dann die Rei­he an mich kommt zu ant­wor­ten, muss ich erst ge­weckt wer­den, und weil ich dann von al­lem, was ge­le­sen wur­de, nichts ge­hört habe, weil ich dem Rau­schen des ima­gi­nären Ba­ches lausch­te, so habe ich nie­mals eine Ant­wort in Be­reit­schaft.«

»Aber du hast doch heu­te Nach­mit­tag so gut geant­wor­tet.«

»Das war ein rei­ner Zu­fall. Der Ge­gen­stand, über den wir ge­le­sen, hat­te mein gan­zes In­ter­es­se ge­weckt. An­statt von Deep­den zu träu­men, dach­te ich heu­te Nach­mit­tag ver­wun­dert dar­über nach, wie ein Mann, der so in­nig wünsch­te, das Gute zu tun, oft so un­ge­recht und un­klug han­deln konn­te wie Karl I. es ge­tan; und ich dach­te, wie trau­rig es ge­we­sen, dass er bei all sei­ner Recht­schaf­fen­heit und Ge­wis­sen­haf­tig­keit nicht wei­ter bli­cken konn­te, als bis zu den Prä­ro­ga­ti­ven der Kro­ne. Wenn er nur im stan­de ge­we­sen wäre, in die Fer­ne zu bli­cken und zu se­hen, wo­hin das, was man den Geist der Zeit nennt, ei­gent­lich streb­te! Und doch – ich lie­be Karl – ich ach­te ihn – ich be­daue­re ihn, den ar­men ge­mor­de­ten Kö­nig! Ja, sei­ne Fein­de wa­ren die schlimms­ten; sie ver­gos­sen Blut, wel­ches zu ver­gie­ßen sie kein recht hat­ten! Wie konn­ten sie es wa­gen, ihn zu tö­ten!«

He­len sprach jetzt mit sich selbst; sie hat­te ganz ver­ges­sen, dass ich wohl kaum im stan­de war, sie zu ver­ste­hen – dass ich un­wis­send war, dass der Ge­gen­stand, über den sie dis­ku­tier­te, mir fast un­be­kannt war. Ich rief sie wie­der auf mei­nen Stand­punkt zu­rück.

»Wan­dern dei­ne Ge­dan­ken auch, wenn Miss Tem­ple dich un­ter­rich­tet?«

»Nein, ge­wiss nicht, oder doch nur sel­ten. Miss Tem­ple hat im­mer et­was zu sa­gen, das für mei­ne ei­ge­nen Re­fle­xio­nen noch neu ist. Ihre Sprech­wei­se ist mir selt­sam an­ge­nehm, und die Be­leh­rung, wel­che sie er­teilt, ist meis­tens gra­de das, was ich zu ler­nen wünsch­te.«

»Also mit Miss Tem­ple bist du gut?«

»Ja, in ei­ner pas­si­ven Wei­se. Ich ma­che kei­ne be­son­de­re An­stren­gung, ich fol­ge nur, wo­hin mei­ne Nei­gung mich führt. In sol­cher Güte liegt doch kein be­son­de­res Ver­dienst.«

»Ein großes Ver­dienst! Du bist gut mit de­nen, die gut mit dir sind. Wahr­haf­tig, ich wünsch­te nur, dass ich das sein könn­te. Wenn die Men­schen stets gut und ge­hor­sam den Un­ge­rech­ten ge­gen­über wä­ren, so gin­ge den bö­sen Men­schen ja al­les nach ih­rem Kop­fe; sie wür­den vor nichts zu­rück­schre­cken und sich nie­mals bes­sern, son­dern im­mer schlech­ter und schlech­ter wer­den. Wenn man uns ohne Grund schlägt, so soll­ten wir mit al­ler Macht wie­der schla­gen. Ganz ge­wiss – das soll­ten wir tun, so kräf­tig, dass die Per­son, wel­che es ge­tan hat, sich wohl hü­ten wür­de, es je­mals wie­der zu tun.«

»Ich hof­fe, du wirst an­de­ren Sin­nes wer­den, wenn du äl­ter wirst, bis jetzt bist du ja nur ein klei­nes, un­wis­sen­des Mäd­chen, das es nicht bes­ser ge­lernt hat.«

»Aber das füh­le ich doch klar, He­len, dass ich die has­sen muss, die fort­fah­ren mich zu has­sen, trotz­dem ich al­les tue, was ih­nen Freu­de ma­chen kann; ich muss mich auf­leh­nen ge­gen die, wel­che mich un­ge­recht be­stra­fen. Es ist eben­so na­tür­lich, wie dass ich jene lie­be, die mir Lie­be zei­gen oder dass ich mich ru­hig ei­ner Stra­fe un­ter­wer­fe, wenn ich füh­le, dass sie ver­dient ist.«

»Hei­den und wil­de Stäm­me hul­di­gen sol­cher Dok­trin, aber Chris­ten und zi­vi­li­sier­te Na­tio­nen er­ken­nen sie nicht an.«

»Wie? Ich ver­ste­he das nicht.«

»Nicht Hef­tig­keit oder Ge­walt ver­mag den Hass am bes­ten zu be­sie­gen – nicht be­frie­dig­tes Ra­che­ge­fühl heilt die ge­schla­ge­nen Wun­den.«

»Was sonst?«

»Lies das Neue Te­sta­ment und mer­ke, was Chris­tus sagt, wie er han­delt – ma­che sein Wort zu dei­ner Richt­schnur, sein Tun zu dei­nem Bei­spiel.«

»Was sagt er?«

»Lie­bet eure Fein­de, seg­net die, so euch flu­chen, tut wohl de­nen, die euch has­sen und euch be­lei­di­gen.«

»Dann müss­te ich Mrs. Reed lie­ben und das kann ich nicht; ich müss­te ih­ren Sohn John seg­nen, und das ist un­mög­lich.«

Ih­rer­seits bat He­len Burns nun, mich ihr zu er­klä­ren, und so­fort be­gann ich in mei­ner ei­ge­nen Wei­se ihr die gan­ze Ge­schich­te mei­ner Lei­den und Qua­len, das gan­ze Re­gis­ter der mir wi­der­fah­re­nen Un­bill zu er­zäh­len. Wild und bit­ter, wenn ich er­regt war, sprach ich, wie ich fühl­te, ohne Be­schö­ni­gung, ohne Zu­rück­hal­tung.

Ge­dul­dig hör­te He­len mir bis zu Ende zu. Ich er­war­te­te dann, dass sie ir­gend eine Be­mer­kung ma­chen wer­de, aber sie ver­harr­te schwei­gend.

»Nun«, frag­te ich un­ge­dul­dig, »ist Mrs. Reed nicht ein herz­lo­ses, bö­ses Weib?«

»Sie ist nicht gü­tig ge­gen dich ge­we­sen, ohne Zwei­fel, weil sie – das musst du be­grei­fen ler­nen – dei­nen Cha­rak­ter eben­so wi­der­lich fin­det wie Miss Scat­cherd den mei­nen. Wie ge­nau du dich aber an al­les er­in­nerst, was sie dir ge­tan, was sie dir ge­sagt hat! Welch einen selt­sam tie­fen Ein­druck ihre Un­ge­rech­tig­keit auf dein Herz ge­macht zu ha­ben scheint! So tief ver­mag die Erin­ne­rung an er­lit­te­nes Un­recht sich mei­nem Ge­fühl nicht ein­zu­prä­gen. Wür­dest du nicht glück­li­cher sein, wenn du ver­such­test, ihre Stren­ge zu ver­ges­sen, so­wie die lei­den­schaft­li­chen Emp­fin­dun­gen, wel­che die­se wachrief? Das Le­ben scheint mir doch zu kurz zu sein, um es da­mit hin­zu­brin­gen, Feind­se­lig­keit zu näh­ren und er­dul­de­te Un­bill zu ver­zeich­nen. Ein je­der von uns ist auf die­ser Welt mit Feh­lern be­la­den und er muss es sein; – aber bald wird die Zeit kom­men, das hof­fe ich zu­ver­sicht­lich, wo wir sie ab­le­gen zu­sam­men mit un­se­rem ver­gäng­li­chen, ir­di­schen Lei­be; wo wir Ver­gäng­lich­keit und Sün­de mit die­sem hin­fäl­li­gen Flei­sche von uns strei­fen, und nur der Geis­tes­fun­ke zu­rück­bleibt – die­ser un­er­schüt­ter­li­che, un­ver­rück­ba­re Grund­stein des Le­bens und des Ge­dan­kens, so rein ge­blie­ben wie er war, als er vom Schöp­fer aus­ging, um die Krea­tur zu be­le­ben; er wird dort­hin zu­rück­keh­ren, von wan­nen er kam – viel­leicht um in ein We­sen über­zu­ge­hen, das hö­her und er­ha­be­ner ist als der Mensch – viel­leicht um durch alle Pha­sen der Ewig­keit zur Herr­lich­keit ein­zu­ge­hen, von der ohn­mäch­ti­gen mensch­li­chen See­le bis hin­auf zum Se­raph zu stei­gen! Denn ge­wiss, nim­mer kann es doch sein, dass wir um­ge­kehrt vom Men­schen zum Teu­fel de­ge­ne­rie­ren? Nein. Das kann ich nicht glau­ben. Mein Glau­bens­be­kennt­nis ist ein an­de­res. Nie­mand hat es mich je­mals ge­lehrt, und nur sel­ten spre­che ich da­von, aber es ist mei­ne gan­ze Glück­se­lig­keit, und ich klam­me­re mich fest dar­an, denn es ge­währt al­len Hoff­nung – es macht die Ewig­keit zur Ruhe, zum Frie­den – zur himm­li­schen Hei­mat, nicht zum Schre­cken, nicht zum Ab­grund. Und au­ßer­dem ge­währt die­ser Glau­be mir die Fä­hig­keit, zwi­schen dem Ver­bre­cher und sei­nem Ver­bre­chen zu un­ter­schei­den. Ich bin im stan­de, ers­te­rem von Her­zen zu ver­ge­ben, wäh­rend ich sei­ne Tat ver­ab­scheue. Und die­ser mein Glau­be macht auch, dass Ra­che­ge­fühl mein Herz nie­mals quält, Zu­rück­set­zung mich nicht zu tief ver­wun­det, Un­ge­rech­tig­keit mich nie­mals ganz zer­mal­men kann: ich lebe in Frie­den und den­ke an das Ende!«

He­lens Kopf, den sie im­mer ein we­nig ge­senkt trug, sank noch tiefer her­ab, als sie die letz­ten Wor­te sprach. Ich sah es ih­ren Bli­cken an, dass sie kein Ver­lan­gen trug, noch län­ger mit mir zu re­den, dass sie gern mit ih­ren ei­ge­nen Ge­dan­ken al­lein sein woll­te. Man ließ ihr je­doch nicht Zeit zum Nach­den­ken. Eine Auf­se­he­rin, ein großes, gro­bes Mäd­chen trat in die­sem Au­gen­blick an sie her­an und rief im aus­ge­präg­ten cum­ber­län­di­schen Ak­zent:

»He­len Burns, wenn du nicht hin­auf gehst und au­gen­blick­lich Ord­nung in dei­ner Schieb­la­de machst und so­fort dei­ne Ar­beit sau­ber zu­sam­men­fal­test, so wer­de ich Miss Scat­cherd ru­fen und sie bit­ten, sich die Sa­che an­zu­se­hen.«

He­len seufz­te, als ihre Träu­me­rei­en ein so jä­hes Ende nah­men, aber sie er­hob sich und ge­horch­te der Auf­se­he­rin ohne Zö­gern, ohne Er­wi­de­rung.

Jane Eyre

Подняться наверх