Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 11

Drittes Kapitel

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Dann er­in­ner­te ich mich an nichts mehr. Als ich er­wach­te, war es mit dem Ge­fühl ei­nes schreck­li­chen Alp­drückens, vor mir sah ich eine un­heim­li­che rote Glut, von der sich di­cke, schwar­ze Stan­gen ab­ho­ben. Ich hör­te Stim­men, die hohl an mein Ohr klan­gen, als wür­den sie durch das Rau­schen des Was­sers oder To­ben des Win­des über­tönt. Auf­re­gung, Un­ge­wiss­heit und ein al­les be­herr­schen­des Ge­fühl des Ent­set­zens hielt alle mei­ne Sin­ne ge­fan­gen. Es ver­gin­gen nur we­ni­ge Au­gen­bli­cke, und dann ge­wahr­te ich, dass je­mand mich be­rühr­te, mich auf­hob und mich in eine sit­zen­de Stel­lung brach­te, und zwar viel zärt­li­cher und sorg­sa­mer, als mich bis jetzt ir­gend­je­mand ge­stützt oder em­por­ge­ho­ben hat­te. Ich lehn­te mei­nen Kopf ge­gen einen Arm oder ein Pols­ter und fühl­te mich un­end­lich wohl.

Noch fünf Mi­nu­ten und die Wol­ken der Be­wusst­lo­sig­keit be­gan­nen zu schwin­den. Jetzt wuss­te ich sehr wohl, dass ich in mei­nem ei­ge­nen Bet­te lag, und dass die rote Glut nichts an­de­res war, als das Feu­er im Ka­min der Kin­der­stu­be. Es war Nacht, eine Ker­ze brann­te auf dem Ti­sche; Bes­sie stand am Fu­ßen­de mei­nes Bet­tes und hielt eine Wasch­schüs­sel in der Hand, ein Herr saß auf ei­nem Lehn­stuh­le ne­ben mir und beug­te sich über mich.

Ich emp­fand eine un­be­schreib­li­che Er­leich­te­rung, eine wohl­tu­en­de Über­zeu­gung der Si­cher­heit und des Be­schützt­seins, als ich sah, dass sich ein Frem­der im Zim­mer be­fand, ein Mensch, der nicht zum Haus­halt von Ga­tes­head, nicht zu den Ver­wand­ten von Mrs. Reed ge­hör­te. – Mich von Bes­sie ab­wen­dend – ob­gleich ihre Ge­gen­wart mir weit we­ni­ger un­an­ge­nehm war, als mir zum Bei­spiel Ab­bots Ge­sell­schaft ge­we­sen wäre – prüf­te ich die Ge­sichts­zü­ge des Herrn; ich kann­te ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apo­the­ker, den Mrs. Reed zu­wei­len ru­fen ließ, wenn ihre Dienst­bo­ten krank wa­ren. Für sich selbst und ihre Kin­der nahm sie im­mer nur die Hil­fe des Arz­tes in An­spruch.

»Nun, wer bin ich?« frag­te er.

Ich sprach sei­nen Na­men aus und streck­te ihm zu glei­cher Zeit mei­ne Hand ent­ge­gen; er nahm sie, lä­chel­te und sag­te: »Ah, wir wer­den uns jetzt lang­sam er­ho­len.« Dann leg­te er mich nie­der, wand­te sich zu Bes­sie, emp­fahl ihr, sehr vor­sich­tig zu sein und mich wäh­rend der Nacht nicht zu stö­ren. Nach­dem er noch wei­te­re Wei­sun­gen er­teilt und ge­sagt hat­te, dass er am fol­gen­den Tage wie­der­kom­men wür­de, ging er fort; zu mei­ner größ­ten Be­trüb­nis; wäh­rend er auf dem Stuhl ne­ben mei­nem Kopf­kis­sen saß, fühl­te ich mich so be­schützt, so si­cher, und als die Tür sich hin­ter ihm schloss, wur­de das gan­ze Zim­mer dun­kel und mein Herz ver­zag­te von neu­em, es un­ter­lag der Last ei­nes un­be­schreib­li­chen Grams.

»Glau­ben Sie, dass Sie schla­fen kön­nen, Miss?« frag­te Bes­sie mich un­ge­wöhn­lich sanft.

Kaum wag­te ich, ihr zu ant­wor­ten, denn ich fürch­te­te, dass ihre nächs­ten Wor­te wie­der rau klin­gen wür­den. »Ich will es ver­su­chen«, sag­te ich lei­se.

»Möch­ten Sie nicht ir­gend et­was es­sen oder trin­ken?«

»Nein, ich dan­ke, Bes­sie.«

»Nun, dann wer­de ich auch schla­fen ge­hen, denn es ist schon nach Mit­ter­nacht; aber Sie kön­nen mich ru­fen, wenn Sie wäh­rend der Nacht ir­gend et­was brau­chen.«

Wel­che sel­te­ne Höf­lich­keit! Sie er­mu­tig­te mich, eine Fra­ge zu stel­len.

»Bes­sie, was ist denn mit mir ge­sche­hen? Bin ich sehr krank?«

»Ich ver­mu­te, dass Sie vor Schrei­en im ro­ten Zim­mer krank ge­wor­den sind; aber Sie wer­den ohne Zwei­fel bald wie­der ganz ge­sund sein.«

Bes­sie ging in das an­sto­ßen­de Zim­mer der Haus­mäd­chen. Ich hör­te, wie sie dort sag­te:

»Sa­rah, komm und schlaf bei mir in der Kin­der­stu­be, und wenn es mein Le­ben gäl­te, so könn­te ich die­se Nacht nicht mit dem ar­men Kin­de al­lein blei­ben; es könn­te ster­ben! Wie son­der­bar, dass Miss Jane einen sol­chen An­fall ha­ben muss­te! Ich möch­te doch wis­sen, ob sie ir­gend et­was ge­se­hen hat. Mrs. Reed war die­ses Mal aber auch zu hart ge­gen sie.«

Sa­rah kam mit ihr zu­rück; bei­de gin­gen zu Bett; sie flüs­ter­ten we­nigs­tens noch eine hal­be Stun­de mit­ein­an­der, be­vor sie ein­sch­lie­fen. Ich hör­te ei­ni­ge Bruch­stücke ih­rer Un­ter­hal­tung, und aus die­sen schloss ich auf den Haupt­ge­gen­stand ih­rer Dis­kus­si­on.

»Et­was ist an ihr vor­über­ge­schwebt, ganz in Weiß ge­klei­det, dann ist es ver­schwun­den.« – – »Ein großer, schwar­zer Hund hin­ter ihm.« – »Drei­mal hat es laut an der Zim­mer­tür ge­klopft.« – »Ein Licht auf dem Fried­ho­fe ge­ra­de über sei­nem Gra­be« – u.s.w., u.s.w.

End­lich schlie­fen bei­de ein. Feu­er und Licht er­lo­schen. In schau­ri­gem Wa­chen ging die Nacht für mich lang­sam hin; Ent­set­zen und Angst hiel­ten Ohren, Au­gen und Sin­ne wach. – Ent­set­zen und Angst, wie nur Kin­der es zu emp­fin­den im­stan­de sind.

Die­sem Zwi­schen­fall im ro­ten Zim­mer folg­te kei­ne lan­ge, erns­te, kör­per­li­che Krank­heit; nur eine hef­ti­ge Er­schüt­te­rung mei­ner Ner­ven, de­ren Wi­der­hall ich noch bis auf den heu­ti­gen Tag emp­fin­de. Ja, Mrs. Reed, Ih­nen ver­dan­ke ich gar man­chen qual­vol­len Schmerz der See­le. Aber ich soll­te Ih­nen ver­zei­hen, denn Sie wuss­ten nicht, was Sie ta­ten, wäh­rend Sie jede Fa­ser mei­nes Her­zens zer­ris­sen, glaub­ten Sie nur mei­ne bö­sen Nei­gun­gen und An­la­gen zu er­sti­cken.

Am nächs­ten Tage ge­gen Mit­tag war ich be­reits auf­ge­stan­den und an­ge­klei­det und saß in einen war­men Shawl gehüllt vor dem Ka­min­feu­er. Ich fühl­te mich kör­per­lich schwach und ge­bro­chen, aber mein schlimms­tes Übel war ein un­aus­sprech­li­cher Jam­mer der See­le, ein Jam­mer, der mir fort­wäh­rend stil­le Trä­nen ent­lock­te, kaum hat­te ich einen sal­zi­gen Trop­fen von mei­ner Wan­ge ge­trock­net, als auch schon ein an­de­rer folg­te. Und doch mein­te ich, dass ich au­gen­blick­lich glück­lich sein müss­te, denn kei­ner von den Reeds war da, alle wa­ren mit ih­rer Mama im großen Wa­gen spa­zie­ren ge­fah­ren; auch Ab­bot näh­te in ei­nem an­de­ren Zim­mer, und wäh­rend Bes­sie hin und her ging, Spiel­sa­chen fort­räum­te und Schieb­la­den ord­ne­te, rich­te­te sie dann und wann ein un­ge­wöhn­lich freund­li­ches Wort an mich. Die­se Lage der Din­ge wäre für mich ein Pa­ra­dies des Frie­dens ge­we­sen, für mich, die ich nur an ein Da­sein voll un­auf­hör­li­chen Ta­dels und grau­sa­me Skla­ve­rei ge­wöhnt war, – aber in der Tat wa­ren mei­ne Ner­ven jetzt in ei­nem sol­chen Zu­stan­de, dass kei­ne Ruhe sie mehr sänf­ti­gen, kein Ver­gnü­gen sie mehr freu­dig er­re­gen konn­te.

Bes­sie war un­ten in der Kü­che ge­we­sen und brach­te mir jetzt einen Ku­chen her­auf, der auf ei­nem ge­wis­sen, bunt ge­mal­ten Por­zel­lan­tel­ler lag, des­sen Pa­ra­dies­vo­gel, wel­cher sich auf ei­nem Kranz von Maiglöck­chen und Ro­sen­knos­pen schau­kel­te, stets eine en­thu­sias­ti­sche Be­wun­de­rung in mir wach ge­ru­fen hat­te. Gar oft hat­te ich in­nig ge­be­ten, die­sen Tel­ler in die Hand neh­men zu dür­fen, um ihn ge­nau­er be­trach­ten zu kön­nen, bis jetzt hat­te man mich aber stets ei­ner sol­chen Gunst für un­wür­dig ge­hal­ten. Jetzt stell­te man mir nun die­sen kost­ba­ren Tel­ler auf den Schoß und bat mich freund­lich, das Stück­chen aus­er­le­se­nen Ge­bäcks, wel­ches auf dem­sel­ben lag, zu es­sen. Eit­le Gunst! Sie kam zu spät, wie so man­che an­de­re, die so in­nig er­wünscht, und so lan­ge ver­sagt wor­den war! Ich konn­te den Ku­chen nicht es­sen, und das Ge­fie­der des Vo­gels, die Far­ben der Blu­men schie­nen mir selt­sam ver­blasst – ich schob so­wohl Tel­ler wie Ge­bäck von mir. Bes­sie frag­te mich, ob ich ein Buch ha­ben wol­le. Das Wort Buch wirk­te wie ein vor­über­ge­hen­des Reiz­mit­tel, und ich bat sie, mir »Gul­li­vers Rei­sen« aus der Biblio­thek zu ho­len. Die­ses Buch hat­te ich schon un­zäh­li­ge Male mit Ent­zücken ge­le­sen; ich hielt es für eine Er­zäh­lung von Tat­sa­chen und ent­deck­te in ihm eine Ader, die ein weit tiefe­res In­ter­es­se für mich hat­te, als das­je­ni­ge, wel­ches ich in Mär­chen ge­fun­den hat­te; denn nach­dem ich die El­fen ver­ge­bens un­ter den Blät­tern des Fin­ger­huts und der Glo­cken­blu­me, un­ter Pil­zen und al­tem, von Epheu um­rank­ten Ge­mäu­er ge­sucht, hat­te ich mein Ge­müt mit der trau­ri­gen Wahr­heit aus­ge­söhnt, dass sie alle Eng­land ver­las­sen hät­ten, um in ein un­be­kann­tes Land zu ge­hen, wo die Wäl­der noch stil­ler und wil­der und di­cker, die Men­schen noch spär­li­cher ge­sä­et sei­en. Li­li­put hin­ge­gen und Brob­di­g­nag wa­ren nach mei­nem Glau­ben so­li­de Be­stand­tei­le der Erd­ober­flä­che; ich zwei­fel­te gar nicht, dass, wenn ich ei­nes Ta­ges eine wei­te Rei­se ma­chen könn­te, ich mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen die klei­nen Fel­der und Häu­ser, die win­zi­gen Men­schen, die zier­li­chen Kühe, Scha­fe und Vö­gel des ei­nen Kö­nig­reichs se­hen wür­de, und eben­so die baum­ho­hen Korn­fel­der, die mäch­ti­gen Bul­len­bei­ßer, die Kat­zen-Un­ge­heu­er, die turm­ho­hen Män­ner und Frau­en des an­de­ren. Und doch, als ich den ge­lieb­ten Band jetzt in Hän­den hielt – als ich die Sei­ten um­blät­ter­te und in den wun­der­sa­men Bil­dern den Reiz such­te, wel­chen sie mir bis jetzt stets ge­währt hat­ten – da war al­les alt und trüb­se­lig; die Rie­sen wa­ren ha­ge­re Ko­bol­de; die Pig­mä­en bos­haf­te und scheuß­li­che Gno­men, Gul­li­ver ein trüb­se­li­ger Wan­de­rer in öden und ge­fähr­li­chen Re­gio­nen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht län­ger zu le­sen wag­te und leg­te es auf den Tisch ne­ben das un­be­rühr­te Stück Ku­chen.

Bes­sie war jetzt mit dem Ab­stau­ben und Auf­räu­men des Zim­mers zu Ende, und nach­dem sie ihre Hän­de ge­wa­schen hat­te, öff­ne­te sie eine ge­wis­se klei­ne Schieb­la­de, wel­che mit den schöns­ten, präch­tigs­ten Lap­pen von Sei­de und At­las an­ge­füllt war, und be­gann einen Hut für Ge­or­gi­nas neue Pup­pe zu ma­chen. Dann be­gann sie zu sin­gen; das Lied lau­te­te:

»Als wir durch Wald und Flur streif­ten.

Vor lan­ger, lan­ger Zeit.«

Wie oft hat­te ich dies Lied schon ge­hört, und im­mer mit dem größ­ten Ent­zücken; denn Bes­sie hat­te eine süße Stim­me – we­nigs­tens nach mei­nem Ge­schmack. Aber jetzt, ob­gleich ihre Stim­me noch im­mer lieb­lich klang, lag für mich eine un­be­schreib­li­che Trau­rig­keit in die­ser Me­lo­die. Zu­wei­len, wenn ihre Ar­beit sie ganz in An­spruch nahm, sang sie den Re­frain sehr lei­se, sehr lang­sam: »Vor lan­ger, lan­ger Zeit«; dann klang es wie die Schluss­ka­denz ei­nes Gra­b­lie­des. End­lich be­gann sie eine an­de­re Bal­la­de zu sin­gen, dies­mal eine wirk­lich trau­ri­ge.

Mein Kör­per ist müd und wund ist mein Fuß,

Weit ist der Weg, den ich wan­dern muss.

Bald wird es Nacht, und den Weg ich nicht fin­d’.

Den ich wan­dern muss, ar­mes Wai­sen­kind!


Wes­halb sand­ten sie mich so weit, so weit,

Durch Feld und Wald, auf die Ber­g’, wo es schneit?

Die Men­schen sind hart! Doch En­gel so lind.

Be­wa­chen mich ar­mes Wai­sen­kind.


Die Ster­ne, sie schei­nen her­ab so klar.

Die Luft ist mild! Es ist doch wahr: Gott ist barm­her­zig, er steu­ert dem Wind, Dass er nicht er­fas­se das Wai­sen­kind. Und wenn ich nun strauch­le am Wal­des­rand Oder ins Meer ver­sink, wo mich führt kei­ne Han­d’, So weiß ich doch, dass den Va­ter ich fin­d’, Er nimmt an sein Herz das Wai­sen­kind! Das ist mei­ne Hoff­nung, die Kraft mir gibt. Dass Gott da dro­ben sein Kind doch liebt. Bei ihm dort oben die Hei­mat ich fin­d’. Er liebt auch das arme Wai­sen­kind!

»Kom­men Sie, Miss Jane, wei­nen Sie nicht«, sag­te Bes­sie, als sie zu Ende war. Eben­so­gut hät­te sie dem Feu­er sa­gen kön­nen »bren­ne nicht!« aber wie hät­te sie denn auch eine Ah­nung von dem herz­zer­rei­ßen­den Schmerz ha­ben kön­nen, des­sen Beu­te ich war? – Im Lau­fe des Mor­gens kam Mr. Lloyd wie­der.

»Wie? Schon auf­ge­stan­den?« rief er, als er in die Kin­der­stu­be trat. »Nun, Wär­te­rin, wie geht es ihr denn ei­gent­lich?«

Bes­sie ent­geg­ne­te, dass es mir au­ßer­or­dent­lich gut gehe.

»Dann soll­te sie aber fröh­li­cher aus­se­hen. Kom­men Sie her, Miss Jane. Sie hei­ßen Jane, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr, Jane Eyre!«

»Nun, Sie ha­ben ge­weint, Miss Jane Eyre, wol­len Sie mir nicht sa­gen, wes­halb? Ha­ben Sie Schmer­zen?«

»Nein, Herr.«

»Ah, ich ver­mu­te, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spa­zie­ren fah­ren durf­te«, warf Bes­sie hier ein.

»O nein, ge­wiss nicht, für sol­che Al­bern­heit ist sie denn doch zu alt.«

Das dach­te ich auch; und da mei­ne Selb­st­ach­tung durch die falsche Be­schul­di­gung ver­letzt war, ant­wor­te­te ich schnell: »In mei­nem gan­zen Le­ben habe ich noch kei­ne Trä­nen um sol­che Din­ge ver­gos­sen. Ich has­se die Spa­zier­fahr­ten. Ich wei­ne, weil ich so un­glück­lich bin.«

»Schä­men Sie sich, Miss!« rief Bes­sie.

Der gute Apo­the­ker schi­en ein we­nig ver­wirrt. Ich stand vor ihm; er hef­te­te sei­ne Au­gen fest auf mich. Die­se Au­gen wa­ren klein und grau, nicht sehr leuch­tend, aber ich glau­be, dass ich sie jetzt sehr klug fin­den wür­de. Trotz der har­ten Züge hat­te er ein gut­mü­ti­ges Ge­sicht. Nach­dem er mich lan­ge mit Muße be­trach­tet hat­te, sag­te er: »Was hat Sie ges­tern krank ge­macht?«

»Sie ist ge­fal­len«, sag­te Bes­sie wie­der ein­fal­lend.

»Ge­fal­len! Nun, das ist ge­ra­de wie­der wie ein Kind! Kann sie bei ih­rem Al­ter denn noch nicht al­lein ge­hen? Sie muss doch acht oder neun Jah­re alt sein?«

»Je­mand hat mich zu Bo­den ge­schla­gen«, lau­te­te die der­be Er­klä­rung, wel­che der Schmerz ge­kränk­ten Stol­zes mir wie­der­um ent­riss, »aber das hat mich nicht krank ge­macht«, füg­te ich hin­zu, wäh­rend Mr. Lloyd be­däch­tig eine Pri­se Ta­bak nahm.

Als er die Ta­baks­do­se wie­der in sei­ne Wes­ten­ta­sche schob, rief der lau­te Klang ei­ner Glo­cke die Dienst­bo­ten zum Mit­ta­ges­sen; er wuss­te, was es be­deu­te­te: »Das gilt Ih­nen, Wär­te­rin«, sag­te er, »Sie kön­nen hin­un­ter ge­hen; ich wer­de Miss Jane ei­ni­ge Leh­ren ge­ben, bis Sie zu­rück­keh­ren.«

Bes­sie wäre lie­ber ge­blie­ben, aber sie war ge­zwun­gen zu ge­hen, weil die Pünkt­lich­keit bei den Mahl­zei­ten eine Sa­che war, auf wel­che in Ga­tes­head-Hall stren­ge ge­hal­ten wur­de.

»Der Fall hat Sie nicht krank ge­macht? Nun, was war es denn?« frag­te Mr. Lloyd wei­ter, nach­dem Bes­sie ge­gan­gen war.

»Ich war in ei­nem Zim­mer ein­ge­sperrt, wo ein Geist um­geht – und es war schon lan­ge dun­kel.«

Ich sah, wie Mr. Lloyd lä­chel­te und zu­gleich die Stirn run­zel­te. »Ein Geist! Was! Sie sind am Ende doch nichts an­de­res, als ein klei­nes Kind! Sie fürch­ten sich vor Geis­tern?«

»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürch­te ich mich. Er starb in je­nem Zim­mer und lag dort auf der Bah­re. We­der Bes­sie noch sonst je­mand geht am Abend hin­ein, wenn es nicht drin­gend not­wen­dig ist; und es war so furcht­bar grau­sam, mich dort al­lein, ohne Licht, ein­zu­schlie­ßen – so grau­sam, dass ich glau­be, ich wer­de es nie­mals ver­ges­sen kön­nen.«

»Un­sinn! Und macht das Sie so elend? Fürch­ten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«

»Nein. Aber es dau­ert nicht lan­ge und dann wird es wie­der Nacht. Und au­ßer­dem, ich bin un­glück­lich, sehr un­glück­lich um an­de­rer Din­ge wil­len.«

»Was für Din­ge denn? Kön­nen Sie mir die nicht nen­nen?«

Wie sehr wünsch­te ich, of­fen und ehr­lich auf die­se Fra­ge zu ant­wor­ten! Wie schwer war es aber, Wor­te für eine sol­che Ant­wort zu fin­den! Kin­der kön­nen wohl emp­fin­den, aber sie kön­nen ihr Emp­fin­den nicht zer­glie­dern; und wenn ih­nen die Zer­glie­de­rung zum Teil auch in Ge­dan­ken ge­lingt, so wis­sen sie nicht, wie sie das Re­sul­tat die­ses Vor­gan­ges in Wor­te klei­den sol­len. Da ich aber fürch­te­te, dass ich die­se ers­te und ein­zi­ge Ge­le­gen­heit, mei­nen Kum­mer durch Mit­tei­lung zu er­leich­tern, un­ge­nützt vor­über­ge­hen las­sen könn­te, ge­lang es mir nach ei­ner un­ru­hi­gen Pau­se, eine un­zu­läng­li­che, aber wah­re Ant­wort her­vor­zu­brin­gen.

»Ers­tens habe ich kei­nen Va­ter, kei­ne Mut­ter, kei­nen Bru­der, kei­ne Schwes­ter.«

»Aber Sie ha­ben eine gü­ti­ge Tan­te und lie­be Vet­tern und Cou­si­nen.«

Wie­de­r­um hielt ich inne, dann rief ich kin­disch aus:

»Aber John Reed hat mich zu Bo­den ge­schla­gen und mei­ne Tan­te hat mich im ro­ten Zim­mer ein­ge­sperrt.«

Zum zwei­ten Mal hol­te Mr. Lloyd sei­ne Schnupf­ta­baks­do­se her­vor.

»Fin­den Sie denn nicht, dass Ga­tes­head-Hall ein wun­der­schö­nes Haus ist?« frag­te er. »Sind Sie nicht dank­bar, an ei­nem so schö­nen Orte le­ben zu kön­nen?«

»Es ist nicht mein ei­ge­nes Haus, Sir; und Ab­bot sagt, dass ich we­ni­ger recht habe, hier zu sein, als ein Dienst­bo­te.«

»Dum­mes Zeug! Sie kön­nen doch nicht so dumm sein, zu wün­schen, dass Sie einen so herr­li­chen Ort wie die­sen ver­las­sen dürf­ten?«

»Wenn ich nur wüss­te, wo­hin ich ge­hen soll­te, ich wäre wahr­haf­tig froh zu ge­hen; aber ich darf Ga­tes­head erst ver­las­sen, wenn ich er­wach­sen bin.«

»Vi­el­leicht doch frü­her – wer weiß? Ha­ben Sie au­ßer Mrs. Reed kei­ne Ver­wand­te?«

»Ich glau­be nicht, Sir.«

»Nie­man­den, der mit Ihrem Va­ter ver­wandt war?«

»Ich weiß es nicht. Ein­mal frag­te ich Tan­te Reed, und da sag­te sie, dass ich mög­li­cher­wei­se ir­gend­wel­che arme, her­un­ter­ge­kom­me­ne Ver­wand­te, na­mens Eyre, ha­ben kön­ne, dass sie aber nichts über sie wis­se.«

»Möch­ten Sie denn zu ih­nen ge­hen, wenn Sie sol­che An­ge­hö­ri­ge hät­ten?«

Ich be­sann mich. Ar­mut hat et­was ab­schre­cken­des für er­wach­se­ne Men­schen; für Kin­der aber noch mehr; sie ha­ben nicht viel Sinn für flei­ßi­ge, ar­beit­sa­me, eh­ren­haf­te Ar­mut; dies Wort er­weckt in ih­nen nur den Ge­dan­ken an zer­lump­te Klei­der, kärg­li­che Nah­rung, einen kal­ten Ofen, rohe Ma­nie­ren und ent­wür­di­gen­de Las­ter: auch für mich war Ar­mut gleich­be­deu­tend mit Ent­eh­rung.

»Nein. Ich möch­te nicht bei ar­men Leu­ten le­ben«, war mei­ne Ant­wort.

»Auch nicht, wenn sie gü­tig ge­gen Sie wä­ren?«

Ich schüt­tel­te den Kopf. Ich konn­te nicht be­grei­fen, wie arme Leu­te über­haupt die Mit­tel ha­ben, gü­tig zu sein. Und dann – spre­chen ler­nen wie sie – ihre Ma­nie­ren an­neh­men – schlecht er­zo­gen wer­den – auf­wach­sen wie eins je­ner ar­men Wei­ber, die ich zu­wei­len vor den Tü­ren der Hüt­ten ihre Kin­der war­ten und ihre Klei­der wa­schen sah? – nein, ich war nicht he­ro­isch ge­nug, mei­ne Frei­heit um den Preis mei­ner Kas­te zu er­kau­fen.

»Aber sind Ihre Ver­wand­ten denn so arm? Ge­hö­ren sie zur ar­bei­ten­den Klas­se?«

»Das weiß ich nicht; Tan­te Reed sagt, wenn ich über­haupt An­ge­hö­ri­ge habe, so müs­sen sie Bettl­er­ge­sin­del sein. Nein, nein, ich möch­te nicht bet­teln ge­hen.«

»Möch­ten Sie nicht in die Schu­le ge­hen?«

Wie­de­r­um dach­te ich nach; kaum wuss­te ich, was eine Schu­le denn ei­gent­lich sei; Bes­sie sprach zu­wei­len da­von wie von ei­nem Orte, an dem man von jun­gen Da­men er­war­tet, dass sie au­ßer­or­dent­lich ma­nier­lich und ge­ziert sind; John Reed hass­te sei­ne Schu­le und schmäh­te sei­nen Leh­rer, aber John Reeds An­sich­ten und Ge­schmack wa­ren kei­ne Re­gel für die mei­nen, und wenn Bes­sies Be­rich­te über Schul­dis­zi­plin (die­se stamm­ten von den Töch­tern ei­ner Fa­mi­lie, in wel­cher sie ge­dient hat­te, be­vor sie nach Ga­tes­head kam) et­was ab­schre­ckend lau­te­ten, so wa­ren ihre Er­zäh­lun­gen von ver­schie­de­nen Ta­len­ten und Kennt­nis­sen, wel­che die­se sel­ben jun­gen Da­men sich an­ge­eig­net hat­ten, an­de­rer­seits höchst ver­lo­ckend. Sie prahl­te von wun­der­schö­nen Ge­mäl­den, von Land­schaf­ten und Blu­men, wel­che sie vollen­det, von Lie­dern, die sie sin­gen und Kla­vier­pie­cen, die sie spie­len, von Geld­bör­sen, die sie hä­keln, von fran­zö­si­schen Bü­chern, die sie über­set­zen konn­ten, bis mein Ge­müt, wäh­rend ich ihr lausch­te, zur Nach­ah­mung auf­ge­sta­chelt wur­de. Au­ßer­dem wäre die Schu­le doch eine gründ­li­che Ab­wech­se­lung: da­mit war eine lan­ge Rei­se ver­knüpft, eine gänz­li­che Tren­nung von Ga­tes­head, ein Ein­tritt in ein neu­es Le­ben.

»Ich möch­te in der Tat in eine Schu­le ge­hen«, war die hör­ba­re Schluss­fol­ge­rung mei­nes Nach­sin­nens.

»Nun, nun, wer weiß denn, was ge­schieht!« sag­te Mr. Lloyd, in­dem er sich er­hob. »Das Kind braucht Luft- und Orts­ver­än­de­rung«, füg­te er hin­zu, mit sich selbst re­dend, »die Ner­ven sind in ei­ner bö­sen Ver­fas­sung.«

Jetzt kam Bes­sie zu­rück; in dem­sel­ben Au­gen­blick hör­te man Mrs. Reeds Wa­gen über den Kies der Gar­ten­we­ge rol­len.

»Ist das Ihre Her­rin, Wär­te­rin?« frag­te Mr. Lloyd, »ich möch­te noch mit ihr re­den be­vor ich gehe.«

Bes­sie for­der­te ihn auf, ins Früh­stücks­zim­mer zu ge­hen und ge­lei­te­te ihn hin­aus. Wie ich aus den nach­fol­gen­den Be­ge­ben­hei­ten schloss, wag­te der Apo­the­ker wäh­rend der Un­ter­re­dung mit Mrs. Reed ihr an­zu­emp­feh­len, dass sie mich in eine Schu­le schi­cke; und ohne Zwei­fel wur­de die­ser Rat sehr be­reit­wil­lig an­ge­nom­men, denn als ich an ei­nem der fol­gen­den Aben­de im Bet­te lag, und Bes­sie und Ab­bot mich schla­fend glaub­ten, sag­te letz­te­re: »Ich glau­be, die gnä­di­ge Frau ist nur zu froh, solch ein lang­wei­li­ges, bos­haf­tes Kind los zu wer­den; sie sieht im­mer aus, als be­ob­ach­te sie je­den Men­schen und schmie­de heim­li­che Plä­ne.« – Ich glau­be wahr­haf­tig, dass Ab­bot mich für eine Art kind­li­chen Guy Fawkes1 hielt.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit er­fuhr ich auch aus Miss Ab­bots Mit­tei­lun­gen an Bes­sie, dass mein Va­ter ein ar­mer Pre­di­ger ge­we­sen; dass mei­ne Mut­ter ihn ge­gen den Wil­len ih­rer An­ge­hö­ri­gen ge­hei­ra­tet habe, wel­che die­se Hei­rat für er­nied­ri­gend ge­hal­ten; dass mein Groß­va­ter Reed so er­zürnt über ih­ren Un­ge­hor­sam ge­we­sen, dass er sie gänz­lich ent­erb­te; dass mein Va­ter, nach­dem er kaum ein Jahr mit mei­ner Mut­ter ver­hei­ra­tet ge­we­sen, ein ty­phöses Fie­ber be­kom­men, wäh­rend er die arme Be­völ­ke­rung ei­ner großen Fa­brik­stadt, in wel­cher sei­ne Pfar­re lag, be­such­te; und dass mei­ne arme Mut­ter kaum einen Mo­nat spä­ter ih­rem Gat­ten ins Grab folg­te.

Als Bes­sie die­se Er­zäh­lung mit an­hör­te, seufz­te sie und sag­te: »Ab­bot, die arme Miss Jane ist auch zu be­dau­ern.«

»Ja, ja«, ent­geg­ne­te Ab­bot, »wenn sie ein lie­bes, gu­tes, hüb­sches Kind wäre, so könn­te man Mit­leid mit ihr ha­ben, weil sie so gänz­lich ver­las­sen ist; aber solch eine scheuß­li­che klei­ne Krö­te kann ei­nem doch un­mög­lich Er­bar­men ein­flö­ßen.«

»Nein, nicht viel«, stimm­te Bes­sie ihr bei, »auf je­den Fall wür­de eine so präch­ti­ge Schön­heit wie Miss Ge­or­gia­na in ei­ner sol­chen Lage viel rüh­ren­der sein.«

»Ja, ja, ich bete Miss Ge­or­gia­na an!« rief die be­geis­ter­te Ab­bot. »Der klei­ne süße Lieb­ling! – Mit ih­ren lan­gen Lo­cken und blau­en Au­gen, und den sü­ßen, lieb­li­chen Far­ben, ge­ra­de als ob sie an­ge­malt wäre! – Bes­sie, ich hät­te wahr­haf­tig Ap­pe­tit auf einen ge­rös­te­ten Käse zum Abend­brot.«

»Ich auch, ich auch – mit ge­schmor­ten Zwie­beln. Kom­men Sie, wir wol­len hin­un­ter ge­hen.«

Und sie gin­gen.

1 Guy Fawkes, ge­bo­ren 1570, Haupt der Pul­ver­ver­schwö­rung in Lon­don, 1605 hin­ge­rich­tet. <<<

Jane Eyre

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