Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 13

Fünftes Kapitel

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Am Mor­gen des 19. Ja­nu­ar hat­te es kaum fünf Uhr ge­schla­gen, als Bes­sie ein Licht in mei­ne klei­ne Kam­mer brach­te und mich be­reits au­ßer dem Bet­te und halb an­ge­klei­det fand. Ich war schon eine hal­be Stun­de vor ih­rem Ein­tritt auf­ge­stan­den, hat­te mein Ge­sicht ge­wa­schen und mich beim Schei­ne des gra­de un­ter­ge­hen­den Mon­des, der sei­ne Strah­len durch das schma­le Fens­ter­chen ne­ben mei­nem Bet­te warf, an­ge­klei­det. An die­sem Tage soll­te ich Ga­tes­head mit ei­ner Post­kut­sche ver­las­sen, die um sechs Uhr mor­gens an dem Parktor des Her­ren­hau­ses vor­über­fuhr. Bes­sie war die ein­zi­ge Per­son, die auf­ge­stan­den war; sie hat­te in der Kin­der­stu­be ein Feu­er im Ka­min an­ge­zün­det und be­rei­te­te jetzt mein Früh­stück an dem­sel­ben. Nur we­ni­ge Kin­der ver­mö­gen zu es­sen, wenn sie von dem Ge­dan­ken an eine Rei­se be­herrscht sind, und ich konn­te es auch nicht. Um­sonst bat Bes­sie mich, nur ei­ni­ge Löf­fel voll von dem Milch- und Brot­brei zu es­sen, den sie für mich be­rei­tet hat­te; ich wei­ger­te mich hart­nä­ckig; dann wi­ckel­te sie ei­ni­ge klei­ne Bröt­chen und Zwie­back in ein Pa­pier und schob es in mei­ne Rei­se­ta­sche. Da­rauf be­klei­de­te sie mich mit Hut und Pelz, hüll­te sich in ein dickes Tuch und ver­ließ mit mir die Kin­der­stu­be. Als wir an Mrs. Reeds Schlaf­zim­mer vor­über­ka­men, sag­te sie: »Wol­len Sie hin­ein­ge­hen und Ih­rer Tan­te Le­be­wohl sa­gen?«

»Nein, Bes­sie. Als du ges­tern zum Abend­brot in die Kü­che hin­un­ter ge­gan­gen warst, kam sie an mein Bett und sag­te, dass ich we­der sie noch mei­ne Cou­si­nen heu­te Mor­gen zu stö­ren brau­che, und dann er­mahn­te sie mich, nie zu ver­ges­sen, dass sie stets mei­ne bes­te Freun­din ge­we­sen, und dank­bar von ihr zu spre­chen und an sie zu den­ken.«

»Was ant­wor­te­ten Sie dar­auf, Fräu­lein?«

»Nichts. Ich be­deck­te mein Ge­sicht mit der De­cke und wand­te mich von ihr ab.«

»Das war nicht recht, Miss Jane.«

»Es war ganz recht, Bes­sie. Mrs. Reed ist nie­mals mei­ne Freun­din ge­we­sen, sie war mei­ne er­bit­terts­te Fein­din.«

»O, Miss Jane, das dür­fen Sie nicht sa­gen!«

»Le­be­wohl Ga­tes­head!« rief ich, als wir durch die Hal­le gin­gen und durch die große Haus­tür hin­austra­ten.

Der Mond war un­ter­ge­gan­gen und es war sehr dun­kel. Bes­sie trug eine La­ter­ne, de­ren Licht auf nas­se Stu­fen und einen durch plötz­li­chen Tau auf­ge­weich­ten Kies­weg fiel. Feucht und rau war die­ser Win­ter­mor­gen, mei­ne Zäh­ne schlu­gen vor Käl­te zu­sam­men, als wir den Fahr­weg hin­un­tereil­ten. Aus der Loge des Por­tiers glänz­te ein Licht. Als wir nä­her ka­men, sa­hen wir, dass die Pfört­ners­frau ge­ra­de ein Feu­er mach­te. Mein Kof­fer, wel­cher schon am Abend vor­her hin­un­ter­ge­tra­gen war, stand mit Stri­cken ge­schnürt vor der Tür. Es fehl­ten nur noch we­ni­ge Mi­nu­ten an sechs Uhr, und kurz nach­dem die vol­le Stun­de ge­schla­gen hat­te, ver­kün­de­te das fer­ne Rol­len der Rä­der das Na­hen der Post­kut­sche. Ich ging an die Tür und be­ob­ach­te­te, wie die La­ter­nen des Wa­gens schnell durch die Dun­kel­heit da­her ka­men.

»Fährt sie al­lein?« frag­te die Por­tiers­frau.

»Ja.«

»Und wie weit ist es von hier?«

»Fünf­zig Mei­len.«

»Welch wei­ter Weg! Mich wun­dert es nur, dass Mrs. Reed es wagt, sie die lan­ge Stre­cke al­lein fah­ren zu las­sen.«

Die Kut­sche hielt an; da stand sie mit ih­ren vier Pfer­den und dem von Rei­sen­den be­setz­ten Dach vor der Tür; der Kut­scher und der Kon­duk­teur trie­ben laut zur Eile an; mein Kof­fer wur­de hin­auf ge­hisst; man zog mich von Bes­sie fort, de­ren Na­cken ich um­klam­mert hielt und die ich mit Küs­sen be­deck­te.

»Dass Ihr nur gut acht auf das Kind gebt!« rief sie dem Kon­duk­teur zu, der mich in das In­ne­re des Wa­gens hob.

»Ja! Ja! Ja!« war sei­ne Ant­wort. Die Tür wur­de wie­der zu­ge­schla­gen, eine Stim­me rief »Fer­tig«, und vor­wärts ging es. So trenn­te ich mich von Bes­sie und Ga­tes­head – so roll­te ich da­von, un­be­kann­ten und wie ich da­mals glaub­te, fer­nen und ge­heim­nis­vol­len Re­gio­nen ent­ge­gen.

Von je­ner Rei­se er­in­ne­re ich mich nur noch an we­ni­ge Ein­zel­hei­ten. Ich weiß nur noch, dass der Tag mir von ei­ner un­na­tür­li­chen Län­ge er­schi­en, und dass es mich dünk­te, als ob die Land­stra­ße, auf wel­cher wir da­hin­fuh­ren, hun­der­te von Mei­len lang sei. Wir ka­men durch ver­schie­de­ne Städ­te, und in ei­ner der­sel­ben, ei­ner sehr großen, hielt die Kut­sche an; die Pfer­de wur­den aus­ge­spannt und die Pas­sa­gie­re stie­gen aus, um zu Mit­tag zu es­sen. Ich wur­de in ein Wirts­haus ge­führt, wo der Kon­duk­teur mich auf­for­der­te, mich zum spei­sen hin­zu­set­zen; da ich je­doch kei­nen Ap­pe­tit hat­te, ließ er mich in ei­nem großen Zim­mer al­lein, an des­sen bei­den En­den sich je ein Ka­min be­fand; ein Kron­leuch­ter hing von der De­cke her­ab, und oben an der Wand war eine klei­ne, rote Ga­le­rie an­ge­bracht, auf der ver­schie­de­ne mu­si­ka­li­sche In­stru­men­te la­gen. In die­sem Ge­mach ging ich lan­ge auf und ab; mir war gar selt­sam zu Mute und ich hat­te eine To­des­angst, dass je­mand her­ein­kom­men kön­ne, um mich zu rau­ben und fort­zu­füh­ren, denn ich glaub­te an Kin­der­die­be; ihre Ta­ten hat­ten in Bes­sies Ka­min­feu­er­er­zäh­lun­gen stets eine her­vor­ra­gen­de Rol­le ge­spielt. End­lich kam der Kon­duk­teur zu­rück, noch ein­mal wur­de ich in die Kut­sche ge­packt; mein Be­schüt­zer stieg auf sei­nen ei­ge­nen Sitz, ließ sein Horn er­klin­gen, und fort ras­sel­ten wir über die stei­ni­gen Stra­ßen von L.

Nass und ne­be­lig kam der Nach­mit­tag her­an; als die Däm­me­rung her­ein­brach, be­gann ich zu füh­len, dass wir in der Tat schon weit von Ga­tes­head ent­fernt sein muss­ten; wir hör­ten auf, Städ­te zu pas­sie­ren; die Land­schaft ver­än­der­te sich; große, graue Hü­gel be­gan­nen den Ho­ri­zont ein­zu­schlie­ßen. Als es dunk­ler und dunk­ler wur­de, fuh­ren wir in ein düs­te­res, dicht be­wal­de­tes Tal hin­ab, und lan­ge nach­dem die Nacht sich her­ab­ge­senkt hat­te und jede Aus­sicht un­mög­lich mach­te, hör­te ich den wil­den Sturm durch die Bäu­me rau­schen.

Die­ses Rau­schen lull­te mich ein, end­lich schlief ich fest. Doch hat­te ich noch nicht lan­ge ge­schlum­mert, als das plötz­li­che Auf­hö­ren der Be­we­gung mich weck­te. Der Schlag der Post­kut­sche war ge­öff­net und eine Per­son, die wie eine Die­ne­rin ge­klei­det war, stand da­ne­ben. Beim Schein der La­ter­ne sah ich ihr Ge­sicht und ihre Klei­dung.

»Ist ein klei­nes Mäd­chen hier, wel­ches Jane Eyre heißt?« frag­te sie. Ich ant­wor­te­te »ja«, und wur­de dann her­aus­ge­ho­ben; man setz­te mei­nen Kof­fer ab, und au­gen­blick­lich fuhr der Post­wa­gen wei­ter.

Ich war steif vom lan­gen Sit­zen und ganz be­täubt vom Lärm und von der Be­we­gung der Kut­sche; nach­dem ich mich ei­ni­ger­ma­ßen er­holt hat­te, blick­te ich um­her. Re­gen, Wind und Dun­kel­heit füll­ten die Luft; trotz­dem un­ter­schied ich eine Mau­er vor mir und eine ge­öff­ne­te Tür in der­sel­ben. Durch die­se Tür schritt ich mit mei­ner neu­en Füh­re­rin; sie ver­schloss die­sel­be sorg­sam hin­ter uns. Jetzt wur­de ein Haus oder ein Kom­plex von Häu­sern sicht­bar – denn es war ein Ge­bäu­de von großer Aus­deh­nung – mit vie­len, vie­len Fens­tern. Durch ei­ni­ge der­sel­ben fiel Licht­er­schein. Wir gin­gen einen brei­ten, mit Kies be­streu­ten Weg hin­auf und wur­den durch eine Tür in das Haus ein­ge­las­sen, dann führ­te die Die­ne­rin mich durch einen Kor­ri­dor in ein Zim­mer, wo ein hel­les Ka­min­feu­er brann­te. Und nun blieb ich al­lein.

Ich stand und wärm­te mei­ne er­starr­ten Fin­ger an der Glut, dann blick­te ich um­her. Es brann­te kein Licht, aber bei dem un­si­che­ren Schein des Ka­min­feu­ers konn­te ich ta­pe­zier­te Wän­de, einen Tep­pich, Vor­hän­ge und glän­zen­de Ma­ha­go­ni-Mö­beln un­ter­schei­den. Es war ein Wohn­zim­mer, zwar nicht so ge­räu­mig und präch­tig wie der Sa­lon in Ga­tes­head-Hall, aber den­noch hübsch und ge­müt­lich. Ich war gra­de da­mit be­schäf­tigt, einen Kup­fer­stich, wel­cher an der Wand hing, ge­nau zu be­sich­ti­gen, als die Tür ge­öff­net wur­de und eine Ge­stalt ein­trat, wel­che ein Licht in der Hand trug; eine zwei­te folg­te ihr auf dem Fuße.

Die ers­te war eine schlan­ke Dame mit dunklem Haar, dunklen Au­gen und ei­ner wei­ßen, ho­hen Stirn; ihre Ge­stalt wur­de zum Teil durch einen Shawl ver­hüllt; ihr Ge­sicht war ernst, ihre Hal­tung ge­ra­de.

»Das Kind scheint doch zu jung, um die­se Rei­se al­lein zu ma­chen«, sag­te sie, in­dem sie das Licht auf den Tisch stell­te. Meh­re­re Mi­nu­ten be­trach­te­te sie mich auf­merk­sam, dann füg­te sie hin­zu:

»Es wird gut sein, wenn sie bald zu Bet­te geht, sie sieht so müde aus. Bist du müde?« frag­te sie und leg­te ihre Hand auf mei­ne Schul­ter.

»Ein we­nig, Ma­da­me.«

»Und auch hung­rig, ohne Zwei­fel. Sor­gen Sie da­für, Miss Mil­ler, dass sie et­was zu es­sen be­kommt, be­vor sie sich schla­fen legt. Ist es das ers­te Mal, dass du dei­ne El­tern ver­las­sen hast, mein klei­nes Mäd­chen, um hier in die An­stalt zu kom­men?«

Ich er­klär­te ihr, dass ich kei­ne El­tern habe. Sie frag­te mich, wie lan­ge sie schon tot sei­en; dann wie alt ich sei, wie ich hei­ße, ob ich le­sen kön­ne und auch schrei­ben und ein we­nig nä­hen. End­lich be­rühr­te sie mei­ne Wan­ge sanft mit ih­rem Zei­ge­fin­ger und sag­te, »sie hof­fe, dass ich ein gu­tes Kind sein wür­de«, und dann schick­te sie mich mit Miss Mil­ler fort.

Die Dame, die ich so­eben ver­las­sen, moch­te un­ge­fähr neun­und­zwan­zig Jah­re alt sein. Die, wel­che mit mir ging, konn­te um ei­ni­ge Jah­re we­ni­ger zäh­len; die erst­ge­nann­te mach­te durch ihre Mie­nen, ih­ren Blick und ihre Stim­me einen großen Ein­druck auf mich. Miss Mil­ler war von ge­wöhn­li­che­rem Schla­ge, ihr Teint war ge­sund, ob­gleich ihre Züge die Spu­ren von Kum­mer und Sor­gen tru­gen; sie war has­tig in Gang und Be­we­gun­gen wie je­mand, der fort­wäh­rend eine Men­ge der ver­schie­dens­ten Din­ge zu be­sor­gen hat; in der Tat, man sah auf den ers­ten Blick, dass sie war, was ich spä­ter­hin er­fuhr – eine Un­ter­leh­re­rin. Von ihr ge­führt, ging ich von Zim­mer zu Zim­mer, von Kor­ri­dor zu Kor­ri­dor durch ein großes, un­re­gel­mä­ßi­ges Ge­bäu­de. End­lich hör­te die voll­stän­di­ge und trüb­se­li­ge Stil­le des von uns durch­schrit­te­nen Tei­les des Hau­ses auf, und bald schlug ein Ge­wirr von Stim­men an un­ser Ohr. Wir tra­ten in ein großes, lan­ges Zim­mer, in wel­chem an je­dem Ende zwei große, höl­zer­ne Ti­sche stan­den; auf die­sen brann­ten zwei Ker­zen und rund um die­sel­ben sa­ßen auf Bän­ken eine Men­ge von Mäd­chen je­den Al­ters, von neun, zehn bis zu zwan­zig Jah­ren. In dem trü­ben Schein der Talg­ker­zen schi­en ihre An­zahl mir Le­gi­on, ob­gleich ih­rer in Wirk­lich­keit nicht mehr als acht­zig wa­ren. Sie tru­gen sämt­lich eine Uni­form von brau­nen wol­le­nen Klei­dern nach ganz alt­mo­di­schem Schnitt und lan­ge, baum­wol­le­ne Schür­zen. Es war die Stun­de, in wel­cher sie ihre Auf­ga­ben für den mor­gen­den Tag lern­ten und das Ge­sum­me von Stim­men, wel­ches ich zu­erst ver­nom­men, war das ver­ei­nig­te Re­sul­tat ih­rer ge­flüs­ter­ten Re­pe­ti­tio­nen.

Miss Mil­ler mach­te mir ein Zei­chen, mich auf eine Bank nahe der Tür zu set­zen; dann ging sie an das obe­re Ende des großen Zim­mers und rief mit sehr lau­ter Stim­me:

»Auf­se­he­rin­nen, sam­melt die Schul­bü­cher zu­sam­men und legt sie an ih­ren Platz!«

Au­gen­blick­lich er­ho­ben sich vier große Mäd­chen von ver­schie­de­nen Ti­schen, nah­men die Bü­cher zu­sam­men und leg­ten sie fort. Von neu­em er­tön­te Miss Mil­lers tö­nen­des Kom­man­do­wort:

»Auf­se­he­rin­nen, holt die Bret­ter mit dem Abendes­sen!«

Die großen Mäd­chen gin­gen hin­aus und kehr­ten au­gen­blick­lich zu­rück. Jede trug ein großes Prä­sen­tier­brett mit Por­tio­nen von ir­gend­wel­chem Es­sen – ich konn­te nicht un­ter­schei­den, was es war – und in der Mit­te ei­nes je­den sol­chen Bret­tes stand ein Krug mit Was­ser und ein Be­cher. Die Por­tio­nen wur­den um­her ge­reicht, wer woll­te, konn­te auch einen Schluck Was­ser trin­ken, der Be­cher war für alle ge­mein­sam be­stimmt. Als die Rei­he an mich kam, trank ich, denn ich war durs­tig; die kon­sis­ten­te­re Nah­rung ließ ich un­be­rührt. Auf­re­gung und Er­mü­dung mach­ten es mir un­mög­lich zu es­sen, in­des­sen sah ich jetzt, dass es ein dün­ner Ku­chen von Ha­fer­mehl war, der in Stücke ge­schnit­ten wor­den.

Als die Mahl­zeit vor­über war, las Miss Mil­ler das Abend­ge­bet vor, und die Klas­sen gin­gen in Rei­hen von zwei und zwei nach oben. Jetzt hat­te die Mü­dig­keit mich voll­stän­dig über­wäl­tigt, ich be­merk­te kaum, wel­che Art von Auf­ent­halts­ort das Schlaf­zim­mer ei­gent­lich war; ich sah nur, dass es eben­so lang war wie das Schul­zim­mer. Die­se Nacht muss­te ich das Bett mit Miss Mil­ler tei­len, sie half mir beim ent­klei­den. Als ich mich nie­der­leg­te, blick­te ich auf die lan­ge Rei­he von Bet­ten, von de­nen je­des schnell mit zwei Teil­ha­bern sich füll­te, nach zehn Mi­nu­ten wur­de das ein­zi­ge Licht aus­ge­löscht. Stil­le und voll­stän­di­ge Dun­kel­heit herrsch­ten; ich schlief ein.

Die Nacht ver­strich schnell. Ich war so­gar zu müde und ab­ge­spannt, um träu­men zu kön­nen. Nur ein­mal er­wach­te ich und ver­nahm, wie der Wind in wü­ten­den Stö­ßen durch die Bäu­me braus­te. Der Re­gen fiel in Strö­men. Jetzt ge­wahr­te ich auch, dass Miss Mil­ler ih­ren Platz an mei­ner Sei­te ein­ge­nom­men hat­te. Als ich die Au­gen wie­der öff­ne­te, schlug der lau­te Ton ei­ner Glo­cke an mein Ohr. Die Mäd­chen wa­ren be­reits auf­ge­stan­den und klei­de­ten sich an; der Tag war noch nicht an­ge­bro­chen, und ein oder zwei Lich­ter brann­ten im Zim­mer. Wi­der­wil­lig er­hob auch ich mich, es war bit­ter kalt, und ich klei­de­te mich an so gut wie ich es vor Käl­te be­bend ver­moch­te. Als eine Wasch­schüs­sel frei ge­wor­den war, wusch ich mich. Al­ler­dings muss­te ich lan­ge auf die­se glück­li­che Fü­gung war­ten, denn auf den Wasch­ti­schen, wel­che durch die Mit­te des Zim­mers ent­lang stan­den, be­fand sich nur im­mer eine Schüs­sel für je sechs Mäd­chen. Wie­der er­tön­te die Glo­cke. Alle tra­ten wie am vo­ri­gen Abend zwei und zwei in die Ko­lon­ne, und in die­ser Ord­nung gin­gen sie die Trep­pe hin­un­ter. Sie tra­ten in das trü­be er­hell­te und kal­te Schul­zim­mer; hier las Miss Mil­ler das Mor­gen­ge­bet vor; dann rief sie laut:

»Bil­det die Klas­sen!«

Hier­auf folg­te ein großer Tu­mult, der ei­ni­ge Mi­nu­ten an­hielt. In­zwi­schen rief Miss Mil­ler zu wie­der­hol­ten Ma­len: »Ruhe!« und »Ord­nung!« Als die­se end­lich ein­ge­tre­ten, sah ich, dass alle sich in vier Halb­krei­sen vor vier Stüh­len auf­ge­stellt hat­ten, wel­che vor vier Ti­schen stan­den. Alle hiel­ten Bü­cher in den Hän­den und ein großes Buch, ei­ner Bi­bel ähn­lich, lag auf je­dem Tisch vor dem lee­ren Stuhl. Nun ent­stand eine mi­nu­ten­lan­ge Pau­se, wäh­rend wel­cher man nichts ver­nahm, als das lei­se Ge­mur­mel von Zah­len. Miss Mil­ler ging von Klas­se zu Klas­se und mach­te die­se un­be­stimm­ten Lau­te ver­stum­men.

Aus der Fer­ne er­tön­te eine Glo­cke. Gleich dar­auf tra­ten drei Da­men ins Zim­mer. Jede der­sel­ben ging an einen der Ti­sche und nahm ih­ren Platz ein. Miss Mil­ler nahm den vier­ten Stuhl, wel­cher der Tür am nächs­ten stand und um den die kleins­ten Kin­der sich ver­sam­melt hat­ten; die­ser letz­ten Klas­se wur­de auch ich zu­ge­wie­sen und zwar als letz­te in der­sel­ben.

Jetzt be­gann die Ar­beit. Die Kol­lek­te des Ta­ges wur­de wie­der­holt, dann wur­den meh­re Tex­te aus der hei­li­gen Schrift her­ge­sagt, und end­lich folg­te das Le­sen von Ka­pi­teln aus der Bi­bel, wel­ches eine gan­ze Stun­de dau­er­te. Als wir mit die­ser Übung zu Ende ge­langt, war der Tag voll­stän­dig an­ge­bro­chen. Die un­er­müd­li­che Glo­cke er­tön­te jetzt zum vier­ten Mal. Die Klas­sen sam­mel­ten sich und mar­schier­ten in ein an­de­res Zim­mer, wo das Früh­stück ein­ge­nom­men wur­de. Wie froh war ich bei der Aus­sicht, jetzt end­lich et­was zu es­sen zu be­kom­men. Der Hun­ger hat­te mich bei­na­he schon krank ge­macht, denn tags zu­vor hat­te ich fast gar kei­ne Nah­rung zu mir ge­nom­men.

Das Re­fek­to­ri­um war ein großes, nied­ri­ges, düs­te­res Ge­mach. Auf zwei lan­gen Ti­schen dampf­te et­was Hei­ßes in klei­nen Näp­fen, das in­des­sen zu mei­ner größ­ten Ent­täu­schung einen Ge­ruch aus­ström­te, der nichts we­ni­ger als ein­la­dend war. Als der Dampf die­ser Mahl­zeit in die Ge­ruchs­or­ga­ne der­je­ni­gen drang, wel­che be­stimmt wa­ren, sel­bi­ge zu ver­til­gen, be­merk­te ich eine all­ge­mei­ne Kund­ge­bung der Un­zu­frie­den­heit. Aus dem Nachtrab der Pro­zes­si­on, den die großen Mäd­chen der ers­ten Klas­se bil­de­ten, hör­te man die ge­flüs­ter­ten Wor­te:

»Ekel­haft! Der Ha­fer­brei ist schon wie­der an­ge­brannt!«

»Ruhe!« ge­bot eine Stim­me. Es war nicht die­je­ni­ge Miss Mil­lers, son­dern sie ge­hör­te ei­ner der Ober­leh­re­rin­nen, ei­ner klei­nen dunklen Per­son, die hübsch ge­klei­det war, hin­ge­gen sehr mür­risch und un­an­ge­nehm aus­sah. Die­se nahm an dem obe­ren Ende an ei­nem der Ti­sche Platz, wäh­rend eine be­hä­bi­ge­re Dame an dem an­de­ren prä­si­dier­te. Um­sonst hielt ich Um­schau nach der Ge­stalt, wel­che ich am ers­ten Abend ge­se­hen hat­te, sie war nicht sicht­bar. Miss Mil­ler hat­te am un­te­ren Ende des Ti­sches Platz ge­nom­men, an wel­chem ich saß und eine selt­sam fremd­ar­tig aus­se­hen­de, ält­li­che Dame – die fran­zö­si­sche Leh­re­rin – wie ich spä­ter er­fuhr – nahm den­sel­ben Platz am nächs­ten Ti­sche ein. Ein lan­ges Ge­bet wur­de ge­spro­chen, eine Hym­ne ge­sun­gen, dann brach­te eine Die­ne­rin den Tee für die Leh­re­rin­nen her­ein und die Mahl­zeit nahm ih­ren An­fang.

Voll­stän­dig aus­ge­hun­gert und er­mat­tet ver­schlang ich meh­re­re Löf­fel voll von mei­ner Por­ti­on, ohne an den Ge­schmack zu den­ken; als aber der ers­te, quä­len­de Hun­ger ge­stillt war, be­merk­te ich, dass ein übel­rie­chen­des Ge­misch vor mir stand. An­ge­brann­ter Ha­fer­brei ist bei­na­he eben­so ab­scheu­lich wie ver­faul­te Kar­tof­feln; selbst die Hun­gers­not schreckt da­vor zu­rück. Die Löf­fel wur­den ganz lang­sam in Be­we­gung ge­setzt, ich sah, wie je­des Mäd­chen die ihr vor­ge­setz­te Nah­rung kos­te­te und ver­such­te, sie hin­un­ter­zu­schlu­cken, aber in den meis­ten Fäl­len wur­den die­se Be­mü­hun­gen auf­ge­ge­ben. Das Früh­stück war vor­über und nie­mand hat­te ge­früh­stückt. Wir spra­chen das Dank­ge­bet für et­was, was wir gar nicht be­kom­men hat­ten, und nach­dem eine zwei­te Hym­ne ab­ge­sun­gen wor­den, leer­te das Re­fek­to­ri­um sich und wir be­ga­ben uns in das Schul­zim­mer. Ich war eine der letz­ten, die hin­aus­ging und als ich die Ti­sche pas­sier­te, sah ich, wie eine der Leh­re­rin­nen einen Napf mit Ha­fer­brei nahm, um den In­halt des­sel­ben zu kos­ten; sie blick­te die an­de­ren an; die sämt­li­chen Ge­sich­ter drück­ten Ent­rüs­tung aus, und eine der Da­men, die be­hä­bi­ge, flüs­ter­te:

»Ab­scheu­li­cher Misch­masch! Das ist em­pö­rend!«

Eine Vier­tel­stun­de ver­ging, be­vor die Stun­den wie­der be­gan­nen. Wäh­rend die­ser Zeit herrsch­te in dem Schul­zim­mer ein glor­rei­cher Auf­stand! In die­ser Vier­tel­stun­de schi­en es näm­lich er­laubt, frei und laut zu spre­chen; und die Mäd­chen mach­ten den um­fas­sends­ten Ge­brauch von die­sem Pri­vi­le­gi­um. Die gan­ze Kon­ver­sa­ti­on dreh­te sich um das Früh­stück, auf das eine und alle un­ge­niert schal­ten. Die ar­men Din­ger! Es war der ein­zi­ge Trost, den sie hat­ten! Au­ßer Miss Mil­ler war kei­ne an­de­re Leh­re­rin im Zim­mer. Ei­ni­ge der er­wach­se­nen Mäd­chen bil­de­ten eine Grup­pe um sie und spra­chen mit erns­ten, trot­zi­gen Ge­bär­den. Ich hör­te von ei­ni­gen Lip­pen den Na­men Mr. Brock­le­hursts. Miss Mil­ler schüt­tel­te miss­bil­li­gend den Kopf, aber sie mach­te kei­ne großen An­stren­gun­gen, um die all­ge­mei­ne Wut und Em­pö­rung zu dämp­fen; ohne Zwei­fel teil­te sie die­sel­be.

Eine Uhr im Schul­zim­mer schlug die neun­te Stun­de. Miss Mil­ler ver­ließ den Kreis, wel­cher sich um sie ge­bil­det hat­te, trat in die Mit­te des Zim­mers und rief mit lau­ter Stim­me:

»Ruhe! Auf die Plät­ze!«

Die Dis­zi­plin trug den Sieg da­von. Nach fünf Mi­nu­ten war Ord­nung in die wir­re Men­ge ge­kom­men, und ver­hält­nis­mä­ßi­ge Ruhe folg­te auf die Spra­chen­ver­wir­rung von Ba­bel. Die Ober­leh­re­rin­nen nah­men jetzt pünkt­lich ihre Pos­ten ein, und doch schie­nen alle noch auf ir­gend et­was zu war­ten. Auf den Bän­ken, wel­che sich an den Sei­ten des Zim­mers ent­lang zo­gen, sa­ßen acht­zig Mäd­chen be­we­gungs­los und ker­zen­ge­ra­de; eine selt­sa­me Ver­samm­lung in der Tat – al­len war das Haar glatt aus der Stirn ge­kämmt, nicht eine Lo­cke war sicht­bar – in ih­ren brau­nen Klei­dern, die bis an den Hals reich­ten und oben mit ei­ner schma­len Rü­sche ab­schlos­sen – mit klei­nen Ta­schen aus baum­wol­le­nem Stof­fe, (un­ge­fähr so ge­formt wie die Sä­cke der Hoch­län­der) die an der Vor­der­sei­te des Klei­des be­fes­tigt wa­ren und den Zweck hat­ten als Ar­beit­sta­sche zu die­nen – dazu die wol­le­nen St­rümp­fe und die ein­fach ge­ar­bei­te­ten Schu­he, wel­che mit Mes­sing­schnal­len be­fes­tigt wa­ren – ja, in der Tat, eine selt­sa­me Ver­samm­lung! – Un­ge­fähr zwan­zig der auf die­se Wei­se ge­klei­de­ten Mäd­chen wa­ren er­wach­sen oder ei­gent­lich schon über die al­ler­ers­te Ju­gend hin­aus; das Ko­stüm klei­de­te sie schlecht und gab selbst der hüb­sche­s­ten un­ter ih­nen ein son­der­bar ab­sto­ßen­des Aus­se­hen.

Ich be­trach­te­te sie noch, und dann und wann auch die Leh­re­rin­nen, von de­nen kei­ne ein­zi­ge mir be­son­ders ge­fiel, denn die Be­hä­bi­ge hat­te et­was ge­wöhn­li­ches, die Dunkle sah sehr trot­zig aus, die Frem­de hef­tig und gro­tesk und Miss Mil­ler, das arme Ding, sah blau­rot und ab­ge­härmt und über­ar­bei­tet aus – da plötz­lich, als mei­ne Bli­cke noch von ei­nem Ge­sicht zum an­de­ren wan­der­ten, er­hob die gan­ze Schu­le sich gleich­zei­tig und wie auf Kom­man­do, als hät­te eine ein­zi­ge Sprung­fe­der sie alle in die Höhe ge­schnellt.

Was war denn ge­sche­hen? Ich hat­te kei­nen Be­fehl ver­nom­men – ich war ganz be­stürzt. Be­vor ich mich noch ge­sam­melt und ori­en­tiert hat­te, sa­ßen die Klas­sen schon wie­der. Da sich jetzt aber alle Bli­cke auf ei­nen Punkt rich­te­ten, so folg­ten auch die mei­nen je­ner Rich­tung – und fie­len auf die Dame, wel­che mich am vor­her­ge­hen­den Abend emp­fan­gen hat­te. Sie stand am Ka­min, am un­te­ren Ende des Zim­mers, an je­dem Ende des­sel­ben be­fand sich näm­lich ein Ka­min­feu­er. Ernst und ru­hig mus­ter­te sie die bei­den Rei­hen der Mäd­chen. Miss Mil­ler nä­her­te sich ihr und schi­en eine Fra­ge zu tun. Nach­dem sie die Ant­wort er­hal­ten, ging sie an ih­ren Platz zu­rück und sag­te laut:

»Auf­se­he­rin der ers­ten Klas­se, ge­hen Sie und ho­len Sie den Glo­bus.«

Wäh­rend die­se Wei­sung be­folgt wur­de, ging die Dame, wel­che be­fragt wor­den war, lang­sam durch das Zim­mer. Ich glau­be, mein Or­gan der Ehr­er­bie­tung muss stark ent­wi­ckelt sein, denn noch heu­te er­in­ne­re ich mich des Ge­fühls von stau­nen­der Be­wun­de­rung, mit wel­chem ich ih­ren Schrit­ten folg­te. Jetzt im hel­len Ta­ges­licht sah sie schlank, groß und statt­lich aus. Brau­ne Au­gen mit wohl­wol­len­dem, kla­rem Blick und fein ge­zeich­ne­te Wim­pern, wel­che sie um­ga­ben, ho­ben die schne­ei­ge Wei­ße ih­rer Stirn noch be­son­ders her­vor. Nach der Mode je­ner Zeit, wo we­der glat­te Schei­tel, noch lan­ge Schmacht­lo­cken en vo­gue wa­ren, trug sie ihr schö­nes, dun­kel­brau­nes Haar in kur­z­en, di­cken Lo­cken an den Schlä­fen zu­sam­men­ge­fasst. Ihre Klei­dung, eben­falls nach der Mode des Ta­ges, be­stand aus dun­kel-vio­let­tem Tuch mit ei­ner Art von spa­ni­schem Be­satz aus schwar­zem Sam­met. Eine gol­de­ne Uhr (Uhren wur­den in je­nen Ta­gen noch nicht all­ge­mein ge­tra­gen) hing an ih­rem Gür­tel. Um das Bild voll­stän­dig zu ma­chen, muss der Le­ser sich noch fei­ne, vor­neh­me Züge hin­zu­den­ken, eine blei­che, aber kla­re Ge­sichts­far­be, eine statt­li­che Hal­tung und Ge­stalt – und dann hat er, so deut­lich wie Wor­te ihn zu ge­ben ver­mö­gen, einen rich­ti­gen Be­griff von dem Äu­ße­ren der Miss Tem­ple – Ma­ria Tem­ple, wie ich spä­ter ein­mal in ei­nem Ge­bet­bu­che las, wel­ches mir an­ver­traut wur­de, um es in die Kir­che zu tra­gen.

Die Obe­rin oder Vor­ste­he­rin von Lo­wood (denn die­ses Amt be­klei­de­te die Dame) nahm ih­ren Sitz vor ei­nem Glo­bus ein, der auf ei­nem der Ti­sche stand, rief die ers­te Klas­se auf, sich um sie zu sam­meln, und be­gann dann, eine Un­ter­richts­stun­de in Geo­gra­fie zu ge­ben. Die nie­de­ren Klas­sen wur­den von den Leh­re­rin­nen auf­ge­ru­fen: Re­pe­ti­tio­nen in der Welt­ge­schich­te, Gram­ma­tik u.s.w. Dies dau­er­te eine Stun­de. Dann folg­te Arith­me­tik und Schreib­un­ter­richt, und Miss Tem­ple gab ei­ni­gen der grö­ße­ren Mäd­chen Mu­sik­stun­de. Die Dau­er je­der Un­ter­richts­stun­de wur­de nach der Uhr be­mes­sen. End­lich schlug es zwölf. Die Vor­ste­he­rin er­hob sich:

»Ich habe ei­ni­ge Wor­te an die Schü­le­rin­nen zu rich­ten«, sag­te sie.

Der Tu­mult, wel­cher stets nach Been­di­gung der Schul­stun­den ein­zu­tre­ten pflegt, hat­te sich be­reits er­ho­ben, aber er leg­te sich so­fort beim Klan­ge ih­rer Stim­me. Sie fuhr fort: »Ihr habt heu­te Mor­gen ein Früh­stück ge­habt, wel­ches ihr nicht es­sen konn­tet, ihr müsst hung­rig sein – ich habe be­foh­len, dass für euch alle ein Ga­bel­früh­stück von Brot und Käse auf­ge­tra­gen wird.«

Die Leh­re­rin­nen rich­te­ten Bli­cke auf sie, wel­che das größ­te Er­stau­nen ver­rie­ten.

»Es soll auf mei­ne Verant­wor­tung ge­sche­hen«, füg­te sie hin­zu, ge­wis­ser­ma­ßen in ei­nem er­klä­ren­den Tone für die Da­men; gleich dar­auf ver­ließ sie das Zim­mer.

Brot und Käse wur­den als­bald her­ein­ge­bracht und ver­teilt, zum größ­ten Er­göt­zen und zur höchs­ten Be­frie­di­gung der gan­zen Schu­le. Und nun er­ging die Or­der: »In den Gar­ten!« Jede Schü­le­rin setz­te einen gro­ben, häss­li­chen Stroh­hut mit Bän­dern von bun­tem Ka­li­ko auf und band einen Man­tel von grau­em Fries um. Ich wur­de in glei­cher Wei­se equi­piert, und dem Stro­me fol­gend mach­te ich mei­nen Weg in die fri­sche Luft hin­aus.

Der Gar­ten war ein wei­ter Plan, der mit so ho­hen Mau­ern um­ge­ben war, dass er je­den Blick in die Au­ßen­welt un­mög­lich mach­te; eine über­dach­te Ve­ran­da zog sich an der einen Sei­te ent­lang, und brei­te Kies­we­ge um­schlos­sen einen Mit­tel­raum, der in un­zäh­li­ge, klei­ne Bee­te ab­ge­teilt war. Die­se Bee­te wa­ren den Schü­le­rin­nen zum Be­bau­en und zur Pfle­ge über­ge­ben, und je­des Beet hat­te eine Be­sit­ze­rin. Ohne Zwei­fel wa­ren sie sehr hübsch, wenn sie mit blü­hen­den Blu­men be­deckt wa­ren, aber jetzt ge­gen Ende des Mo­nats Ja­nu­ar bo­ten sie dem Auge nur ein Bild der win­ter­li­chen Zer­stö­rung und des trau­ri­gen Ver­falls. Es durch­schau­er­te mich, als ich so da­stand und um­her­blick­te. Der Tag war der Be­we­gung im Frei­en durch­aus nicht güns­tig, es war kein or­dent­li­cher Re­gen, der al­les durch­näss­te, son­dern ein di­cker, gel­ber, her­abrie­seln­der Ne­bel. Der Bo­den un­ter un­se­ren Fü­ßen war durch den gest­ri­gen Re­gen noch gänz­lich durch­weicht. Die kräf­ti­ge­ren un­ter den Mäd­chen lie­fen um­her und be­lus­tig­ten sich mit fröh­li­chen Spie­len: aber un­ter der Ve­ran­da stand eine gan­ze Schar blei­cher, ma­ge­rer Ge­stal­ten, die ängst­lich zu­sam­men­kro­chen, als such­ten sie hier Schutz und Wär­me. Oft er­tön­te aus ih­rer Mit­te, als der dich­te Ne­bel ih­nen fast bis auf die Haut drang, ein hoh­ler, bö­ses ver­kün­den­der Hus­ten.

Bis jetzt hat­te ich noch mit nie­mand ge­spro­chen und nie­mand schi­en mir son­der­li­che Be­ach­tung zu schen­ken, ganz ein­sam stand ich da; aber an die­ses Ge­fühl der Ver­ein­sa­mung war ich ja ge­wöhnt, es be­drück­te mich nicht mehr als sonst. Ich lehn­te mich ge­gen einen Pfei­ler der Ve­ran­da, zog mei­nen grau­en Man­tel fest um mich zu­sam­men und in­dem ich ver­such­te, die Käl­te, die mich von au­ßen schmerz­te, und den un­be­frie­dig­ten Hun­ger, der von in­nen an mir nag­te, zu ver­ges­sen, gab ich mich ganz der Be­schäf­ti­gung hin, zu be­ob­ach­ten und nach­zu­den­ken. Mei­ne Re­fle­xio­nen wa­ren zu un­be­stimmt und zu frag­men­ta­risch, als dass sie ei­ner Er­wäh­nung ver­dien­ten. Ich wuss­te noch kaum, wo ich mich ei­gent­lich be­fand. Ga­tes­head und mein bis­he­ri­ges Le­ben schie­nen in ei­ner un­er­mess­li­chen Fer­ne zu ver­schwin­den, die Ge­gen­wart war selt­sam und vag und von der Zu­kunft wag­te ich nicht, mir ir­gend ein Bild zu ma­chen. Ich blick­te in dem klös­ter­li­chen Gar­ten um­her, dann zum Hau­se hin­auf. Es war ein großes Ge­bäu­de, des­sen eine Hälf­te grau und alt er­schi­en, wäh­rend die an­de­re ganz neu war. Die­ser neue Teil, wel­cher das Schul­zim­mer und den Schlaf­saal ent­hielt, hat­te ver­git­ter­te Bo­gen­fens­ter, die ihm ein kir­chen­ähn­li­ches Aus­se­hen ga­ben. Eine stei­ner­ne Ta­fel ober­halb der Tür trug die In­schrift:

»In­sti­tut von Lo­wood. – Die­ser Teil des Hau­ses wur­de wie­der er­baut an. dom … durch Nao­mi Brock­le­hurst von Brock­le­hurst-Hall in die­ser Graf­schaft.«

»Las­set euer Licht leuch­ten vor den Leu­ten, dass sie eure gu­ten Wer­ke se­hen und eu­ren Va­ter im Him­mel prei­sen.« Ev. Mat­thäi, 16.

Wie­der und wie­der las ich die­se Wor­te. Ich fühl­te, dass sie noch eine Er­klä­rung ha­ben muss­ten, und war au­ßer stan­de, ih­ren gan­zen In­halt zu er­fas­sen. Noch dach­te ich über die Be­deu­tung des Wor­tes »In­sti­tut« nach und be­müh­te mich, einen Zu­sam­men­hang zwi­schen den ers­ten Wor­ten und dem Bi­bel­vers zu fin­den, als ein hoh­ler Hus­ten hin­ter mir mich ver­an­lass­te, den Kopf zu wen­den.

Ich sah ein Mäd­chen auf ei­ner na­hen Stein­bank sit­zen, sie war über ein Buch ge­beugt, des­sen In­halt sie voll­stän­dig zu fes­seln schi­en. Von der Stel­le aus, wo ich stand, konn­te ich den Ti­tel le­sen – es war »Ras­se­las«, ein Name, der mich selt­sam dünk­te und mich in­fol­ge­des­sen fes­sel­te. Als sie ein Blatt um­wand­te, blick­te sie zu­fäl­lig auf, und so­gleich sag­te ich:

»Ist dein Buch in­ter­essant?« Ich hat­te be­reits den Ent­schluss ge­fasst, sie ei­nes Ta­ges zu bit­ten, dass sie es mir lei­hen möge.

»Mir ge­fällt es«, sag­te sie nach ei­ner Pau­se von ei­ni­gen Se­kun­den, wäh­rend wel­cher sie mich an­ge­blickt.

»Wo­von han­delt es denn?« fuhr ich fort. Noch weiß ich kaum, wo­her ich den Mut nahm, in die­ser Wei­se eine Kon­ver­sa­ti­on mit ei­ner gänz­lich Un­be­kann­ten an­zu­fan­gen, – es war so gänz­lich mei­ner sons­ti­gen Ge­wohn­heit und mei­ner Na­tur ent­ge­gen, aber ich glau­be, dass ihre Be­schäf­ti­gung ir­gend eine sym­pa­thi­sche Sei­te in mir be­rührt hat­te, denn auch ich lieb­te die Lek­tü­re, ob­gleich die mei­ne stets kin­disch und nichts­sa­gend ge­we­sen war; die schwe­re und erns­te konn­te ich we­der ver­ste­hen noch ver­dau­en.

»Du darfst es dir an­se­hen«, sag­te das Mäd­chen und gab mir das Buch.

Das tat ich. Eine kur­ze Be­sich­ti­gung über­zeug­te mich, dass der In­halt weit we­ni­ger fes­selnd war als der Ti­tel. »Ras­se­las« schi­en mei­nem seich­ten Ge­schmack höchst lang­wei­lig; ich fand nichts von Feen, von Ge­ni­en, die eng ge­druck­ten Sei­ten schie­nen kei­ne fröh­li­che Ab­wech­se­lung zu bie­ten. Ich gab ihr das Buch zu­rück. Sie nahm es ru­hig und ohne ein wei­te­res Wort zu spre­chen war sie im Be­griff, sich ganz ih­rer frü­he­ren Be­schäf­ti­gung wie­der hin­zu­ge­ben, als ich noch ein­mal wag­te, sie zu stö­ren:

»Kannst du mir sa­gen, was die In­schrift dort auf dem Stein über der Tür be­deu­tet? Was ist ›In­sti­tut von Lo­wood?‹«

»Es ist das Haus, in wel­chem du hier lebst.«

»Und wes­halb nen­nen sie es In­sti­tut? Ist es denn in ir­gend ei­ner Wei­se von an­de­ren Schu­len ver­schie­den?«

»Es ist zum Teil eine Mild­tä­tig­keits-Schu­le. Du und ich und alle üb­ri­gen sind Mild­tä­tig­keits-Zög­lin­ge. Ich ver­mu­te, dass du eine Wai­se bist; ist nicht dein Va­ter oder dei­ne Mut­ter tot?«

»Sie sind bei­de tot, schon lan­ge, ich habe gar kei­ne Erin­ne­rung mehr an sie.«

»Nun, all die Mäd­chen hier ha­ben ent­we­der Va­ter oder Mut­ter oder bei­de El­tern ver­lo­ren, und man nennt dies ein In­sti­tut für die Er­zie­hung von Wai­sen.«

»Be­zah­len wir denn kein Schul­geld? Wer­den wir hier um­sonst er­hal­ten?«

»Wir oder un­se­re Ver­wand­ten be­zah­len fünf­zehn Pfund Ster­ling jähr­lich.«

»Wes­halb nennt man uns denn Mild­tä­tig­keits-Kin­der?«

»Weil fünf­zehn Pfund nicht hin­rei­chend sind für Kost und Schu­le – und das Feh­len­de wird durch Sub­skrip­tio­nen auf­ge­bracht.«

»Wer sub­skri­biert denn?«

»Ver­schie­de­ne barm­her­zi­ge Da­men und Her­ren in die­ser Ge­gend und in Lon­don.«

»Wer war Nao­mi Brock­le­hurst?«

»Die Dame, wel­che den neu­en Teil die­ses Hau­ses ge­baut hat, wie die In­schrift be­sagt, und de­ren Sohn hier al­les über­wacht und an­ord­net.«

»Wes­halb tut er das?«

»Weil er der Schatz­meis­ter und Ver­wal­ter des gan­zen In­sti­tuts ist.«

»Dann ge­hört die­ses Haus also nicht der großen, schlan­ken Dame, wel­che eine Uhr trägt, und die sag­te, dass wir Brot und Käse be­kom­men soll­ten?«

»Miss Tem­ple? O nein! Ich woll­te, es ge­hör­te ihr! Sie ist Mr. Brock­le­hurst für al­les, was sie tut, ver­ant­wort­lich. Mr. Brock­le­hurst kauft alle Nah­rungs­mit­tel und alle Klei­der für uns.«

»Wohnt er hier?«

»Nein – zwei Mei­len von hier, in ei­nem großen, präch­ti­gen Her­ren­hau­se.«

»Ist er ein gu­ter Mann?«

»Er ist ein Geist­li­cher, und man sagt, dass er sehr viel Gu­tes tut.«

»Sag­test du, dass die schlan­ke Dame Miss Tem­ple heißt?«

»Ja.«

»Und wie hei­ßen die an­de­ren Leh­re­rin­nen?«

»Die eine mit den ro­ten Wan­gen heißt Miss Smith, sie muss auf die Hand­ar­bei­ten ach­ten und schnei­det zu – denn wir nä­hen un­se­re ei­ge­ne Wä­sche, un­se­re Klei­der und un­se­re Män­tel – kurz­um al­les; die klei­ne mit dem schwar­zen Haar heißt Miss Scat­cherd, sie lehrt Ge­schich­te und Gram­ma­tik und über­hört die Re­pe­ti­tio­nen der zwei­ten Klas­se; die drit­te, die ein Tuch trägt und das Ta­schen­tuch mit ei­nem gel­ben Ban­de an der Sei­te fest­ge­bun­den hat, ist Ma­da­me Pier­rot, sie kommt aus Lis­le in Frank­reich und lehrt Fran­zö­sisch.«

»Liebst du die Leh­re­rin­nen?«

»O ja, so ziem­lich.«

»Liebst du auch die klei­ne Schwar­ze und die Ma­da­me …? Ich kann ih­ren Na­men nicht so gut aus­spre­chen wie du.«

»Miss Scat­cherd ist hef­tig – du musst dich hü­ten, sie är­ger­lich zu ma­chen. Ma­da­me Pier­rot ist ge­ra­de kei­ne böse Per­son.«

»Aber Miss Tem­ple ist die bes­te – nicht wahr?«

»Miss Tem­ple ist sehr klug und sehr gut; sie steht über all den an­de­ren, weil sie viel mehr weiß, als sie.«

»Bist du schon lan­ge hier?«

»Zwei Jah­re.«

»Bist du eine Wai­se?«

»Mei­ne Mut­ter ist tot.«

»Fühlst du dich hier glück­lich?«

»Du tust ei­gent­lich zu vie­le Fra­gen. Für jetzt habe ich dir ge­nug geant­wor­tet. Jetzt will ich le­sen.«

In die­sem Au­gen­blick er­klang die Glo­cke, die uns zum Mit­ta­ges­sen rief. Alle kehr­ten zu­rück in das Haus. Der Ge­ruch, wel­cher jetzt das Re­fek­to­ri­um füll­te, war kaum ap­pe­tit­li­cher als je­ner, wel­cher un­se­re Na­sen beim Früh­stück re­ga­liert hat­te. Das Mit­ta­ges­sen wur­de in zwei un­end­lich großen Zinn­schüs­seln ser­viert, aus de­nen ein schar­fer Dampf auf­stieg, der stark an ran­zi­ges Fett er­in­ner­te. Ich fand, dass die­ses Ge­meng­sel aus be­deu­tungs­lo­sen Kar­tof­feln und selt­sa­men Fet­zen röt­li­chen Flei­sches be­stand, die un­ter­ein­an­der ge­rührt und zu­sam­men ge­kocht wa­ren. Von die­ser köst­li­chen Spei­se wur­de je­der Schü­le­rin eine ziem­lich große Por­ti­on vor­ge­setzt. Ich aß so viel ich konn­te und frag­te mich still ver­wun­dert, ob die Kost der an­de­ren Tage nicht bes­ser sein wür­de als die­se.

Nach dem Mit­ta­ges­sen ver­füg­ten wir uns so­fort in das Schul­zim­mer. Die Stun­den be­gan­nen von neu­em und dau­er­ten bis fünf Uhr.

Die ein­zig be­mer­kens­wer­te Be­ge­ben­heit des Nach­mit­tags be­stand dar­in, dass ich sah, wie das Mäd­chen, mit dem ich in der Ve­ran­da ge­spro­chen von Miss Scat­cherd mit Schimpf und Schan­de aus der Welt­ge­schichts­stun­de ge­jagt wur­de und in­mit­ten des großen Schul­zim­mers ste­hen muss­te. Die Stra­fe schi­en mir im höchs­ten Gra­de ent­eh­rend, be­son­ders für ein so großes Mäd­chen, das mehr als drei­zehn Jah­re zu zäh­len schi­en. Ich er­war­te­te bei ihm An­zei­chen von großer Scham und Verzweif­lung zu se­hen, aber zu mei­nem größ­ten Er­stau­nen wein­te sie we­der noch er­rö­te­te sie; ge­fasst, wenn auch ernst, stand sie da, al­ler Bli­cke wa­ren auf sie ge­rich­tet. »Wie kann sie das so ru­hig – so ge­fasst tra­gen?« frag­te ich mich. »Wenn ich an ih­rer Stel­le wäre, so wür­de ich doch ge­wiss wün­schen, dass die Erde sich öff­nen möch­te, um mich zu ver­schlin­gen. Sie sieht aus, als däch­te sie an et­was, das über ihre Stra­fe hin­aus liegt – – über ihre gan­ze Lage, an et­was, das nicht um sie, nicht vor ihr ist. Ich habe von wa­chen Träu­men ge­hört – träumt sie jetzt einen sol­chen Traum? Ihre Au­gen sind auf den Bo­den ge­hef­tet, aber ich bin über­zeugt, dass sie ihn nicht se­hen – ihr Auge scheint nach in­nen ge­wen­det, in ihr Herz ge­senkt, sie sieht nur die Din­ge, die in ih­rer Erin­ne­rung le­ben, nichts, was die Ge­gen­wart ihr bringt. Ich möch­te doch wis­sen, was für ein Mäd­chen sie ist – ob gut oder un­ar­tig.«

Bald nach fünf Uhr Nach­mit­tags hat­ten wir wie­der eine Mahl­zeit, die aus ei­nem klei­nen Be­cher Kaf­fee und ei­ner hal­b­en Schnit­te Schwarz­brot be­stand. Ich ver­schlang mein Brot und trank mei­nen Kaf­fee mit wah­rem Er­göt­zen. Aber ich wäre froh ge­we­sen, wenn ich dop­pelt so viel ge­habt hät­te – ich war noch hung­rig. Da­rauf folg­te eine halb­stün­di­ge Er­ho­lung, und dann be­gan­nen die Stu­di­en von neu­em. Schließ­lich kam das Glas Was­ser mit dem Stück­chen Ha­fer­ku­chen, das Ge­bet und das Schla­fen­ge­hen. – Das war mein ers­ter Tag in Lo­wood.

Jane Eyre

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