Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 15

Siebentes Kapitel

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Das ers­te Vier­tel­jahr in Lo­wood dünk­te mich ein Men­schen­al­ter, aber durch­aus kein gol­de­nes Zeit­al­ter; es be­deu­te­te einen er­mü­den­den Kampf mit der Schwie­rig­keit, mich in neue Re­geln und un­ge­wöhn­te Auf­ga­ben hin­ein­zu­ar­bei­ten. Die Furcht in die­sen Punk­ten zu un­ter­lie­gen, quäl­te mich mehr, als die phy­si­schen Müh­se­lig­kei­ten und Ent­beh­run­gen, die mein Los wa­ren. Und auch die­se wa­ren wahr­lich kei­ne Klei­nig­kei­ten.

Wäh­rend der Mo­na­te Ja­nu­ar, Fe­bru­ar und März hin­der­ten der tie­fe Schnee und, nach­dem er fort­ge­schmol­zen, die fast un­pas­sier­ba­ren Stra­ßen uns dar­an, wei­ter zu ge­hen, als bis an die Mau­ern des Gar­tens – nur der sonn­täg­li­che Weg in die Kir­che mach­te eine Aus­nah­me – aber in­ner­halb die­ser Gren­zen muss­ten wir je­den Tag eine Stun­de in frei­er Luft zu­brin­gen. Un­se­re Be­klei­dung war nicht hin­rei­chend, um uns ge­gen die stren­ge Käl­te zu schüt­zen. Wir hat­ten kei­ne Stie­fel, der Schnee drang in un­se­re Schu­he und schmolz dar­in; un­se­re un­be­hand­schuh­ten Hän­de er­starr­ten und be­deck­ten sich nach und nach mit Frost­beu­len, eben­so un­se­re Füße. Ich er­in­ne­re mich noch der ver­zwei­fel­ten Schmer­zen, wel­che ich aus die­ser Ur­sa­che je­den Abend er­dul­de­te, wenn mei­ne Füße sich ent­zün­de­ten, und der Schmer­zen, wenn ich die ge­schwol­le­nen, wun­den und stei­fen Ze­hen am Mor­gen in die Schu­he zwän­gen muss­te. Auch die Karg­heit der Nah­rung brach­te uns fast zur Verzweif­lung; wir hat­ten den re­gen Ap­pe­tit von im Wachs­tum be­grif­fe­ner Kin­der, und man gab uns kaum ge­nug, um einen schwa­chen Kran­ken da­mit am Le­ben zu er­hal­ten. Aus die­sem Man­gel an Nah­rung ent­stand ein Miss­brauch, wel­cher schwer auf den jün­ge­ren Schü­le­rin­nen las­te­te. Wenn sich näm­lich den grö­ße­ren, heiß­hung­ri­gen Mäd­chen eine Ge­le­gen­heit dazu bot, so brach­ten sie die Klei­nen durch Schmei­che­lei­en oder Dro­hun­gen da­hin, ih­nen ih­ren An­teil ab­zu­tre­ten. Gar man­ches­mal habe ich zwi­schen zwei An­spruch­ma­chen­den den kost­ba­ren Bis­sen Schwarz­brot ge­teilt, den wir zur Tee­stun­de be­ka­men, und nach­dem ich dann noch ei­ner drit­ten die Hälf­te vom In­hal­te mei­nes Kaf­feen­ap­fes ge­ge­ben hat­te, schluck­te ich den Rest zu­sam­men mit bit­te­ren, ge­hei­men Trä­nen hin­un­ter, wel­che der Hun­ger mir im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes er­press­te.

Die Sonn­ta­ge wa­ren trü­be Tage in die­ser Win­ter­zeit. Wir muss­ten zwei Mei­len bis zur Kir­che von Brock­le­hurst ge­hen, wo un­ser Schutz­herr den Got­tes­dienst ver­rich­te­te. Halb er­fro­ren mach­ten wir uns auf den Weg, noch er­fro­re­ner lang­ten wir in der Kir­che an; wäh­rend des Mor­gen­got­tes­diens­tes lähm­te uns die Käl­te bei­na­he. Der Weg war zu weit, um zum Mit­ta­ges­sen nach Lo­wood zu­rück­zu­keh­ren, da­her reich­te man uns zwi­schen den bei­den Pre­dig­ten eine Ra­ti­on von kal­tem Fleisch und Bra­ten, wel­che in der­sel­ben kärg­li­chen Pro­por­ti­on ge­hal­ten wur­de, die man bei un­se­ren ge­wöhn­li­chen Mahl­zei­ten zum Maß­stab ge­nom­men.

Nach dem Schluss des Nach­mit­tags­got­tes­diens­tes kehr­ten wir über eine hü­ge­li­ge, dem Win­de aus­ge­setz­te Stra­ße nach Hau­se zu­rück. Der ei­si­ge Win­ter­sturm, der über eine Ket­te schnee­be­deck­ter Hü­gel von Nor­den her blies, riss uns bei­na­he die Haut von den Wan­gen.

Ich er­in­ne­re mich noch Miss Temp­les, wie sie fest in ih­ren schot­ti­schen Man­tel gehüllt, den der Wind ihr fort­wäh­rend zu ent­rei­ßen droh­te, leicht­fü­ßig und schnell an un­se­ren er­mat­te­ten Rei­hen ent­lang ging und uns durch Wor­te und Bei­spiel er­mun­ter­te, Mut zu be­hal­ten und vor­wärts zu schrei­ten »tap­fe­ren Sol­da­ten gleich«, wie sie zu sa­gen pfleg­te. Die üb­ri­gen Leh­re­rin­nen, die ar­men Din­ger, wa­ren ge­wöhn­lich selbst zu nie­der­ge­schla­gen, um das Un­ter­neh­men zu wa­gen, an­de­re zu er­mu­ti­gen und zu trös­ten.

Wie wir uns nach dem Licht und der Wär­me ei­nes hel­len Feu­ers sehn­ten, wenn wir nach Hau­se ka­men! – Aber die­ser Ge­nuss blieb uns ver­sagt – den Klei­ne­ren we­nigs­tens. Je­der Ka­min im Schul­zim­mer war au­gen­blick­lich von ei­ner dop­pel­ten Rei­he großer Mäd­chen be­la­gert und hin­ter die­sen kro­chen die klei­nen Kin­der in trost­lo­sen Grup­pen um­her, ihre ab­ge­ma­ger­ten Arme in ihre Schür­zen hül­lend.

Ein schwa­cher Trost ward uns in der Tee­stun­de in Ge­stalt ei­ner dop­pel­ten Bro­tra­ti­on – eine gan­ze Schei­be an­statt ei­ner hal­b­en – mit der köst­li­chen Zutat ei­ner dün­nen Schicht von But­ter; es war ein all­wö­chent­li­cher Ge­nuss, dem wir von Sab­bath zu Sab­bath sehn­suchts­voll ent­ge­gensa­hen. Ge­wöhn­lich ge­lang es mir, die Hälf­te die­ses lu­kul­li­schen Mahls für mich zu be­hal­ten, die an­de­re Hälf­te muss­te ich un­ab­än­der­lich je­des Mal ver­schen­ken.

Der Sonn­tag­abend wur­de dazu ver­wandt, den Kir­chen­ka­te­chis­mus, das fünf­te, sechs­te und sie­ben­te Ka­pi­tel des Evan­ge­li­ums St. Mat­thäi aus­wen­dig zu wie­der­ho­len, und eine lan­ge Pre­digt mit an­zu­hö­ren, wel­che die arme Miss Mil­ler, de­ren nicht zu un­ter­drücken­des Gäh­nen ihre Mü­dig­keit ver­riet, uns vor­las. Ein häu­fi­ges In­ter­mez­zo die­ser Leis­tun­gen bil­de­te die Auf­füh­rung der Rol­le des Eu­ty­chus durch un­ge­fähr ein hal­b­es Dut­zend der klei­nen Mäd­chen. Über­wäl­tigt von Mü­dig­keit pfleg­ten sie von der Bank zu fal­len – wenn auch nicht vom drit­ten Stock­werk – und halb­tot wie­der em­por­ge­ho­ben zu wer­den. Die Ab­hil­fe hier­ge­gen be­stand dar­in, dass man sie in das Zen­trum des Schul­zim­mers hin­eins­tieß, wo sie ge­zwun­gen wur­den aus­zu­har­ren, bis die Pre­digt zu Ende war. Zu­wei­len ver­sag­ten die Füße ih­nen den Dienst und sie san­ken in einen hilflo­sen Klum­pen zu­sam­men; dann pfleg­te man sie durch die ho­hen Stüh­le der Auf­se­he­rin­nen zu stüt­zen.

Noch habe ich der Be­su­che Mr. Brock­le­hursts nicht Er­wäh­nung ge­tan; und in der Tat war die­ser Ehren­mann wäh­rend des größ­ten Teils mei­nes ers­ten Mo­nats in Lo­wood von Hau­se ab­we­send; viel­leicht zog sein Be­such bei sei­nem Freun­de dem Erz­bi­schof sich so sehr in die Län­ge.

Sei­ne Ab­we­sen­heit war in der Tat eine Er­leich­te­rung für mich. Ich brau­che wohl nicht zu sa­gen, dass ich mei­ne ei­ge­nen Grün­de hat­te, um sein Kom­men zu fürch­ten. Aber end­lich kam er doch.

Ei­nes Nach­mit­tags – ich war da­mals ge­ra­de drei Wo­chen in Lo­wood ge­we­sen – saß ich mit der Ta­fel in der Hand da und zer­brach mir den Kopf über ein lan­ges Di­vi­si­ons­exem­pel, als mei­ne Bli­cke sich ganz ge­dan­ken­los auf das Fens­ter rich­te­ten. In die­sem Au­gen­blick schritt eine Ge­stalt an dem­sel­ben vor­bei. Fast in­stink­tiv er­kann­te ich die­se ha­ge­ren Um­ris­se, und als zwei Mi­nu­ten spä­ter die gan­ze Schu­le mit In­be­griff der Leh­re­rin­nen sich er­hob, en mas­se er­hob, brauch­te ich nicht auf­zu­bli­cken, um mich zu ver­ge­wis­sern, wes­sen Ein­tritt denn auf die­se Wei­se be­grüßt wur­de. Ein lan­ger Schritt durch­maß das Schul­zim­mer und gleich dar­auf stand ne­ben Miss Tem­ple, die sich eben­falls er­ho­ben hat­te, die­sel­be schwar­ze Säu­le, wel­che vor dem Ka­min im Her­ren­hau­se von Ga­tes­head-Hall so fins­ter und un­heil­voll auf mich her­ab­ge­blickt hat­te. Jetzt blick­te ich von der Sei­te auf die­ses ar­chi­tek­to­ni­sche Werk. Ja, ich hat­te mich nicht ge­täuscht, es war Mr. Brock­le­hurst, fest in sei­nen Über­zie­her ge­knöpft, und län­ger, schmä­ler und stei­fer aus­se­hend denn je.

Ich hat­te mei­ne be­son­de­ren Grün­de, beim An­blick die­ser Er­schei­nung zu er­schre­cken. Ich er­in­ne­re mich nur zu wohl der per­fi­den Win­ke, wel­che Mrs. Reed ihm über mei­nen Cha­rak­ter ge­ge­ben hat­te, und des von Mr. Brock­le­hurst ge­ge­be­nen Ver­spre­chens, Miss Tem­ple und die Leh­re­rin­nen von mei­ner las­ter­haf­ten, ver­derb­ten Na­tur in Kennt­nis zu set­zen. Wäh­rend der gan­zen Zeit hat­te ich schon die Er­fül­lung sei­nes Ver­spre­chens ge­fürch­tet; täg­lich hat­te ich nach dem »Man­ne, der da kom­men soll­te«, um durch sei­ne Aus­kunft über mein ver­gan­ge­nes Le­ben und mein Be­tra­gen mich als ein schlech­tes Kind zu brand­mar­ken, aus­ge­se­hen – jetzt war er da! Er stand ne­ben Miss Tem­ple; er sprach lei­se zu ihr ins Ohr. Ich zwei­fel­te kei­nen Au­gen­blick dar­an, dass er ihr Ent­hül­lun­gen über mei­ne Schlech­tig­keit mach­te; mit qual­vol­ler Angst be­ob­ach­te­te ich ihre Bli­cke, jede Mi­nu­te er­war­te­te ich, ihr dunkles Auge sich voll Ab­scheu und Ver­ach­tung auf mich hef­ten zu se­hen. Auch horch­te ich. Und da ich am obe­ren Ende des Zim­mers saß, konn­te ich den größ­ten Teil des von ihm ge­führ­ten Ge­sprächs hö­ren. Der In­halt des­sel­ben be­frei­te mich we­nigs­tens von der au­gen­blick­li­chen Furcht.

»Ich hof­fe, Miss Tem­ple, dass der Zwirn, den ich in Low­ton ge­kauft habe, ge­nü­gen wird. Es fiel mir ein, dass die­se Qua­li­tät ge­ra­de für die Ca­li­ko­hem­den gut sein wer­de und ich habe auch die dazu pas­sen­den Na­deln aus­ge­sucht. Wol­len Sie Miss Smith sa­gen, dass ich ver­gaß, mir die Stopf­na­deln zu no­tie­ren; nächs­te Wo­che wird sie in­des­sen meh­re­re Päck­chen der­sel­ben be­kom­men, und sa­gen Sie ihr auch, dass sie je­der Schü­le­rin un­ter kei­ner Be­din­gung mehr als eine Na­del zur Zeit gibt, wenn sie meh­re da­von ha­ben, wer­den sie oft nach­läs­sig und ver­lie­ren sie nur. Und dann, o, Miss Tem­ple! Ich wünsch­te wirk­lich, dass den wol­le­nen St­rümp­fen mehr Be­ach­tung ge­schenkt wür­de! – Als ich das letz­te­mal hier war, ging ich in den Kü­chen­gar­ten und be­sah mir die Wä­sche, wel­che auf der Lei­ne trock­ne­te. Eine gan­ze Men­ge der schwar­zen St­rümp­fe war auf die man­gel­haf­tes­te Wei­se ge­stopft. Aus der Grö­ße der Lö­cher, wel­che ich in ih­nen be­merk­te, schloss ich, dass sie nicht gut aus­ge­bes­sert sein konn­ten.«

Hier hielt er inne.

»Ihre Wei­sun­gen sol­len be­folgt wer­den, Sir«, sag­te Miss Tem­ple.

»Und, Ma­dam«, fuhr er fort, »die Wä­sche­rin er­zählt mir, dass ei­ni­ge der Mäd­chen zwei rei­ne Hals­krau­sen in der Wo­che ge­habt ha­ben; das ist viel zu viel. Die Haus­re­gel be­schränkt sie auf ei­ne

»Ich glau­be, Sir, dass ich die­sen Um­stand ge­nü­gend er­klä­ren kann. Am vo­ri­gen Don­ners­tag wa­ren Ag­nes und Ca­the­ri­ne John­ston ein­ge­la­den, bei ih­ren Freun­den in Low­ton den Tee zu neh­men. Ich gab ih­nen die Er­laub­nis, für die­se Ge­le­gen­heit rei­ne Hals­krau­sen an­zu­le­gen.«

Mr. Brock­le­hurst nick­te.

»Nun, für ein­mal mag es hin­ge­hen, aber ich er­su­che Sie, die­sen Fall nicht zu oft ein­tre­ten zu las­sen. Noch eine an­de­re Sa­che hat mich höch­lichst über­rascht. In­dem ich die Rech­nung mit der Haus­häl­te­rin ab­schloss, fand ich, dass wäh­rend der letz­ten zwei Wo­chen den Schü­le­rin­nen zwei­mal ein Ga­bel­früh­stück ser­viert wor­den ist, wel­ches aus Brot und Käse be­stand. Was be­deu­tet das? Ich habe die Sta­tu­ten durch­le­sen und fand dort kei­ner Mahl­zeit er­wähnt, die sich Ga­bel­früh­stück nennt. Wer hat die­se Neue­rung ein­ge­führt und auf wel­che Au­to­ri­tät ge­stützt?«

»Für die­sen Um­stand bin ich ver­ant­wort­lich, Sir«, ent­geg­ne­te Miss Tem­ple, »das Früh­stück war so au­ßer­ge­wöhn­lich schlecht zu­be­rei­tet, dass die Schü­le­rin­nen es nicht es­sen konn­ten, und ich durf­te nicht zu­ge­ben, dass sie bis zum Mit­ta­ges­sen fas­te­ten.«

»Miss Tem­ple, ge­stat­ten Sie mir einen Au­gen­blick zu re­den. – Sie wis­sen, dass es mei­ne Ab­sicht bei der Er­zie­hung die­ser Mäd­chen ist, sie nicht an Lu­xus und Wohl­le­ben zu ge­wöh­nen, son­dern sie ab­zu­här­ten und sie selbst­ver­leug­nend, ge­dul­dig und ent­sa­gend zu ma­chen. Soll­te nun ein­mal zu­fäl­lig solch eine klei­ne Ent­täu­schung des Ap­pe­tits vor­kom­men, wie z.B. das Ver­der­ben ei­ner Mahl­zeit, das Ver­salzt­wer­den ei­nes Fi­sches u.s.w., so soll­te die­ser klei­ne, un­be­deu­ten­de Zwi­schen­fall nicht neu­tra­li­siert wer­den, in­dem man den ver­lo­re­nen Ge­nuss noch durch einen grö­ße­ren Lecker­bis­sen er­setzt und da­mit den Kör­per ver­weich­licht und den Zweck und das Ziel die­ser barm­her­zi­gen Stif­tung ver­rückt. Man soll­te ein sol­ches Vor­komm­nis dazu be­nüt­zen, den Schü­le­rin­nen eine geis­ti­ge Er­bau­ung zu schaf­fen, in­dem man sie er­mu­tigt, auch bei tem­po­rä­ren Ent­beh­run­gen ihre geis­ti­ge Kraft zu be­haup­ten. Eine kur­ze An­spra­che bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten wür­de sehr an­ge­mes­sen sein. Ein klu­ger Leh­rer wür­de z.B. auf die Lei­den und Ent­sa­gun­gen der ers­ten Chris­ten hin­wei­sen; auf die Qua­len der Mär­ty­rer, ja, so­gar auf die Ge­be­te un­sers ge­seg­ne­ten Hei­lands selbst, der sei­ne Jün­ger er­mahnt, ihr Kreuz auf sich zu neh­men und ihm zu fol­gen; auf sei­ne War­nun­gen, dass der Mensch nicht vom Bro­te al­lein lebt, son­dern von ei­nem jeg­li­chen Wor­te, so aus dem Mun­de Got­tes ge­het; auf sei­ne gött­li­chen Trös­tun­gen ›glück­lich seid ihr, so ihr für mich Hun­ger oder Durst lei­det!‹ O, Miss Tem­ple, wenn sie an­statt des an­ge­brann­ten Ha­fer­breis Brot und Käse in den Mund die­ser Kin­der le­gen, so füt­tern sie al­ler­dings ihre sün­di­gen Lei­ber, aber Sie den­ken we­nig dar­an, dass sie ihre un­s­terb­li­chen See­len ver­hun­gern las­sen.«

Mr. Brock­le­hurst hielt wie­der inne – – wahr­schein­lich von sei­nen Ge­füh­len über­mannt. Beim Be­ginn sei­ner Rede hat­te Miss Tem­ple zu Bo­den ge­blickt; jetzt aber sah sie ge­ra­de vor sich hin, und ihr Ge­sicht, wel­ches von Na­tur bleich wie Mar­mor war, schi­en auch die Käl­te und Un­be­weg­lich­keit die­ses Ma­te­ri­als an­zu­neh­men; be­son­ders ihr Mund schloss sich so fest, als hät­te es des Mei­ßels ei­nes Bild­hau­ers be­durft, um ihn wie­der zu öff­nen, und auf ih­rer Stirn la­ger­te eine ver­stei­ner­te Stren­ge.

In­zwi­schen stand Mr. Brock­le­hurst vor dem Ka­min, die Hän­de hat­te er auf den Rücken ge­legt und ma­je­stä­tisch ließ er sei­ne Bli­cke über die gan­ze Schu­le schwei­fen. Plötz­lich zuck­te er zu­sam­men, wie wenn sein Auge ge­blen­det oder schmerz­haft be­rührt wor­den sei; dann wand­te er sich um und in schnel­le­ren Ak­zen­ten, als er bis­her ge­spro­chen, sag­te er:

»Miss Tem­ple, Miss Tem­ple, was – was ist je­nes Mäd­chen da mit dem lo­cki­gen Haar? Ro­tes Haar, Ma­dam, lo­ckig – ganz und gar lo­ckig?« – Mit die­sen Wor­ten streck­te er sei­nen Stock aus und zeig­te nach dem ent­setz­li­chen Ge­gen­stan­de. Sei­ne Hän­de zit­ter­ten vor Er­re­gung.

»Es ist Ju­lia Se­vern«, ent­geg­ne­te Miss Tem­ple sehr ru­hig.

»Ju­lia Se­vern, Ma­dam! Und wes­halb hat sie oder ir­gend eine an­de­re ge­lock­tes Haar? Wes­halb be­kennt sie sich so of­fen al­len Vor­schrif­ten und Grund­sät­zen die­ses Hau­ses ent­ge­gen zu den Ge­lüs­ten der Welt – hier in ei­nem evan­ge­li­schen In­sti­tut der Barm­her­zig­keit – dass sie es wagt, ihr Haar in ei­nem großen Wust von Lo­cken zu tra­gen?«

»Ju­li­as Haar ist von Na­tur lo­ckig«, ent­geg­ne­te Miss Tem­ple noch ru­hi­ger.

»Von Na­tur! Ja! Aber wir sol­len uns der Na­tur nicht an­pas­sen. Ich wün­sche, dass die­se Mäd­chen Kin­der der Gna­de wer­den. Und wozu je­ner Über­fluss? ich habe doch zu wie­der­hol­ten Ma­len an­ge­deu­tet, dass ich das Haar ein­fach, be­schei­den, glatt an­lie­gend ar­ran­giert zu se­hen wün­sche. Miss Tem­ple, das Haar je­nes Mäd­chens muss au­gen­blick­lich ab­ge­schnit­ten wer­den, förm­lich ra­siert; mor­gen wer­de ich einen Bar­bier her­aus­schi­cken, und ich sehe noch an­de­re, die viel zu viel von die­sem Aus­wuchs ha­ben – das große Mäd­chen dort zum Bei­spiel; sa­gen Sie ihr, dass sie sich um­dreht. Sa­gen Sie den Mäd­chen der gan­zen ers­ten Bank, dass sie sich er­he­ben und die Ge­sich­ter der Wand zu­wen­den.«

Miss Tem­ple fuhr mit dem Ta­schen­tuch über die Lip­pen, als woll­te sie ein un­will­kür­li­ches Lä­cheln ver­ja­gen, das die­sel­ben kräu­sel­te; in­des­sen er­teil­te sie den ge­wünsch­ten Be­fehl, und als die ers­te Klas­se ver­stan­den hat­te, was man von ihr ver­lang­te, kam sie dem­sel­ben nach. Ich lehn­te mich ein we­nig auf mei­ner Bank zu­rück und konn­te die Bli­cke und Gri­mas­sen wahr­neh­men, mit wel­chen die Mäd­chen dies Ma­nö­ver be­glei­te­ten, scha­de, dass nicht auch Mr. Brock­le­hurst die­sen Ge­nuss ha­ben konn­te; viel­leicht wür­de er dann ein­ge­se­hen ha­ben, dass was er auch mit der Au­ßen­sei­te der Scha­le und der Schüs­sel tun moch­te, die In­nen­sei­te sei­ner Ein­mi­schung wei­ter ent­rückt war, als er zu be­grei­fen im stan­de war.

Un­ge­fähr fünf Mi­nu­ten lang be­trach­te­te er den Re­vers die­ser le­ben­den Me­dail­len mit prü­fen­den Bli­cken – dann fäll­te er das Ur­teil. Die Wor­te wirk­ten wie die Po­sau­ne des jüngs­ten Ge­richts:

»All die­se Haar­flech­ten und Kno­ten müs­sen ab­ge­schnit­ten wer­den!«

Miss Tem­ple schi­en ihm Vor­stel­lun­gen zu ma­chen.

»Ma­dam«, fuhr er fort, »ich die­ne ei­nem Herrn, des­sen Reich nicht von die­ser Welt ist; mei­ne Mis­si­on ist es, in die­sen Mäd­chen die Lüs­te des Flei­sches zu er­sti­cken – sie zu leh­ren, dass sie sich mit Ehr­bar­keit und Scham­haf­tig­keit klei­den, nicht mit ge­salb­ten Haa­ren und köst­li­cher Ge­wan­dung; aber jede die­ser jun­gen Per­so­nen da vor uns hat ihr Haar in Flech­ten ge­dreht, wel­che die Ei­tel­keit die­ser Welt ge­floch­ten hat – und die­se, ich wie­der­ho­le es, müs­sen ab­ge­schnit­ten wer­den, den­ken Sie an die Zeit, wel­che da­mit ver­lo­ren geht, an – –«

Hier wur­de Mr. Brock­le­hurst un­ter­bro­chen. Drei neue Be­su­cher, Da­men, tra­ten ins Zim­mer. Sie hät­ten ein we­nig frü­her kom­men sol­len, um die­sen Vor­trag über Klei­dung zu hö­ren, denn sie wa­ren köst­lich in Samt und Sei­de und Pel­ze ge­klei­det. Die bei­den jün­ge­ren Da­men des Tri­os (schö­ne Mäd­chen von sech­zehn und sieb­zehn Jah­ren) hat­ten graue Bi­ber­hü­te, da­mals die neues­te Mode, mit wal­len­den Strau­ßen­fe­dern, und un­ter dem Ran­de die­ser gra­zi­ösen Kopf­be­de­ckung her­vor fiel ein Reich­tum von gol­de­nen, künst­lich ge­lock­ten Haa­ren. Die äl­te­re Dame war in einen kost­ba­ren Samts­hawl gehüllt, der mit Her­me­lin ver­brämt war; auf ihre Stirn fiel eine Wol­ke von falschen fran­zö­si­schen Lo­cken.

Die­se Da­men wur­den von Miss Tem­ple mit großer Hochach­tung als Mrs. Brock­le­hurst und ihre Töch­ter be­grüßt und dann auf die Ehren­sit­ze am obe­ren Ende des Zim­mers ge­lei­tet. Es scheint, dass sie mit ih­rem hoch­ehr­wür­di­gen An­ver­wand­ten in der Equi­pa­ge ge­kom­men wa­ren und die obe­ren Zim­mer ei­ner durch­stö­bern­den, ein­grei­fen­den Be­sich­ti­gung un­ter­wor­fen hat­ten, wäh­rend er mit der Haus­häl­te­rin die Ge­schäf­te ord­ne­te, die Wä­sche­rin aus­frag­te und die Vor­ste­he­rin des In­sti­tuts maß­re­gel­te. Die Da­men be­gan­nen jetzt Miss Smith, wel­cher die Ver­wal­tung der Wä­sche und die Beauf­sich­ti­gung der Schlaf­sä­le an­ver­traut war, ei­ni­ge schar­fe Ver­wei­se zu er­tei­len, aber ich hat­te kei­ne Zeit, auf das zu hor­chen, was sie sag­ten; an­de­re Din­ge nah­men mei­ne Auf­merk­sam­keit in An­spruch und fes­sel­ten die­sel­be voll­stän­dig.

Wäh­rend ich dem Ge­spräch zwi­schen Miss Tem­ple und Mr. Brock­le­hurst lausch­te, hat­te ich es bis jetzt den­noch nicht ver­säumt, Vor­sichts­maß­re­geln für mei­ne ei­ge­ne per­sön­li­che Si­cher­heit zu tref­fen. Ich glaub­te auch, dass die­sel­ben wirk­sam sein wür­den, wenn es mir nur ge­län­ge, der Beo­b­ach­tung zu ent­ge­hen. Zu die­sem Zweck hat­te ich mich auf der Bank zu­rück­ge­lehnt, und wäh­rend ich mit mei­nen Re­chenexem­peln be­schäf­tigt schi­en, hielt ich mei­ne Ta­fel so, dass sie mein Ge­sicht gänz­lich ver­de­cken muss­te. Wahr­schein­lich wäre ich sei­ner Wach­sam­keit auch ent­gan­gen, wenn mei­ne ver­rä­te­rische Ta­fel nicht durch einen un­glück­li­chen Zu­fall mei­ner Hand ent­glit­ten und mit ei­nem lau­ten Krach, dem kein Ohr sich ver­schlie­ßen konn­te, zu Bo­den ge­fal­len wäre. So­fort wa­ren al­ler Au­gen auf mich ge­rich­tet. Ich wuss­te, dass jetzt al­les zu Ende sei. Wäh­rend ich mich bück­te, um die Frag­men­te mei­ner Ta­fel zu­sam­men­zu­su­chen, sam­mel­te ich mei­ne Kräf­te für das Schlimms­te. Es kam.

»Ein nach­läs­si­ges Mäd­chen!« sag­te Mr. Brock­le­hurst, und gleich dar­auf – »Ah, ich be­mer­ke, es ist die neue Schü­le­rin.« Be­vor ich auf­at­men konn­te, »ehe ich es ver­ges­se, ich habe noch ein Wort in Be­zug auf sie zu sa­gen.« Dann laut, ach, wie laut er­schi­en es mir! »Las­sen Sie das Kind, das sei­ne Ta­fel zer­bro­chen hat, vor­tre­ten!«

Aus ei­ge­nem An­trie­be hät­te ich mich nicht be­we­gen kön­nen; ich war ge­lähmt, aber die bei­den großen Mäd­chen, die mir zur Sei­te sa­ßen, stell­ten mich auf die Füße und scho­ben mich vor­wärts dem ge­fürch­te­ten Rich­ter ent­ge­gen, dann führ­te Miss Tem­ple mich sanft dicht vor ihn, und wie aus wei­ter Fer­ne ver­nahm ich ih­ren ge­flüs­ter­ten Rat:

»Fürch­te dich nicht, Jane, ich habe ge­se­hen, dass es ein un­glück­li­cher Zu­fall war, du sollst nicht be­straft wer­den.«

Wie ein Dolch drang die­ses gü­ti­ge Flüs­tern mir ins Herz.

»Noch eine Mi­nu­te und sie wird mich als eine Heuch­le­rin ver­ach­ten ler­nen«, dach­te ich und bei die­ser Über­zeu­gung tob­te eine na­men­lo­se Wut ge­gen Mrs. Reed, Brock­le­hurst und Kom­pa­nie durch mei­ne Adern. Ich war kei­ne He­len Burns.

»Holt je­nen Stuhl«, sag­te Mr. Brock­le­hurst auf einen sehr ho­hen Stuhl deu­tend, von dem eine Schulauf­se­he­rin sich so­eben er­ho­ben hat­te. Er wur­de ge­bracht.

»Stellt je­nes Kind hin­auf.«

Und hin­auf ge­stellt wur­de ich, von wem weiß ich nicht; ich war nicht in der Ver­fas­sung, die be­glei­ten­den, nä­he­ren Um­stän­de wahr­zu­neh­men; ich fühl­te nur, dass ich un­ge­fähr bis zur Höhe von Mr. Brock­le­hursts Nase em­por­ge­hisst wur­de, dass er kaum eine Elle lang von mir ent­fernt stand und dass un­ter mir eine Wol­ke von sil­ber­grau­en Fe­dern, dun­kel­ro­tem Sei­den­pel­ze und oran­ge­gel­ben Klei­dern durch­ein­an­der wog­te.

Mr. Brock­le­hurst räus­per­te sich.

»Mei­ne Da­men«, sag­te er zu sei­ner Fa­mi­lie ge­wandt, »Miss Tem­ple, Leh­re­rin­nen und Kin­der, ihr alle se­het die­ses Mäd­chen?«

Na­tür­lich sa­hen sie es; denn ich fühl­te ihre Au­gen wie Brennglä­ser auf mei­ne ver­seng­te Haut ge­rich­tet.

»Ihr se­het, dass sie noch jung ist; ihr be­merkt, dass auch sie die ge­wöhn­li­che Ge­stalt ei­nes Kin­des hat; Gott in sei­ner Gna­de hat auch ihr die Form ge­ge­ben, die er uns al­len ge­währt; kei­ne ab­schre­cken­de Häss­lich­keit kenn­zeich­net sie als einen ge­zeich­ne­ten Cha­rak­ter. Wer wür­de glau­ben, dass der Teu­fel in ihr be­reits eine Die­ne­rin und ein wil­li­ges Werk­zeug ge­fun­den hat? Und doch – es schmerzt mich, es sa­gen zu müs­sen – ist dies der Fall.«

Eine Pau­se. – Ich ver­such­te, der Läh­mung mei­ner Ner­ven Ein­halt zu tun und mir zu sa­gen, dass der Ru­bi­kon über­schrit­ten, dass ich der Prü­fung nicht mehr ent­ge­hen kön­ne, son­dern sie jetzt stand­haft er­tra­gen müs­se.

»Mei­ne Kin­der«, fuhr der schwar­ze, stei­ner­ne Geist­li­che mit Pa­thos fort, »dies ist eine trau­ri­ge, eine be­trü­ben­de An­ge­le­gen­heit, denn es ist mei­ne Pf­licht euch vor die­sem Mäd­chen zu war­nen, das eins von Got­tes aus­er­wähl­ten Läm­mern sein könn­te und jetzt eine Ver­wor­fe­ne ist – kein Mit­glied der treu­en Her­de, son­dern au­gen­schein­lich eine Frem­de, ein Ein­dring­ling. Ihr müsst auf eu­rer Hut sein ihr ge­gen­über; ihr müsst ih­rem Bei­spiel nicht fol­gen; wenn es not­wen­dig ist, mei­det ihre Ge­sell­schaft, schließt sie von eu­ren Spie­len aus, habt kei­ne Ge­mein­schaft, kei­nen Um­gang mit ihr. Jetzt zu den Leh­re­rin­nen. Sie müs­sen sie über­wa­chen, ihr Tun be­ob­ach­ten, ihre Wor­te wohl er­wä­gen und prü­fen, ihre Ta­ten un­ter­su­chen, ih­ren Leib stra­fen, um ihre See­le zu ret­ten – wenn in der Tat eine sol­che Ret­tung noch mög­lich ist, denn – mei­ne Zun­ge scheut sich, es aus­zu­spre­chen – die­ses Mäd­chen, die­ses Kind, die­se Ein­ge­bo­re­ne ei­nes christ­li­chen Lan­des, schlim­mer als man­che klei­ne Hei­din, die ihr Ge­bet zu Brah­ma spricht und vor Ing­ger­naut kniet – die­ses Mäd­chen ist – eine Lüg­ne­rin!«

Jetzt folg­te eine Pau­se von zehn Mi­nu­ten. – Ich war wie­der im Voll­be­sitz mei­ner Sin­ne, mei­nes Ver­stan­des und be­merk­te, wie all die weib­li­chen Brock­le­hursts ihre Ta­schen­tü­cher her­vor­zo­gen und sie an die Au­gen führ­ten, wäh­rend die äl­te­re Dame sich hin und her wieg­te und die bei­den jün­ge­ren flüs­ter­ten: »Wie ent­setz­lich!«

Mr. Brock­le­hurst be­gann von neu­em.

»Dies al­les er­fuhr ich durch ihre Wohl­tä­te­rin; durch die from­me und barm­her­zi­ge Dame, wel­che sich der ver­las­se­nen Wai­se an­nahm, sie wie ihre ei­ge­ne Toch­ter er­zog, und de­ren Güte, de­ren Groß­mut die­ses un­glück­li­che Mäd­chen durch eine so schwar­ze, so schänd­li­che Un­dank­bar­keit ver­galt, dass ihre aus­ge­zeich­ne­te Be­schüt­ze­rin ge­zwun­gen war, sie von ih­ren ei­ge­nen Kin­dern zu tren­nen, aus Furcht, dass ihre las­ter­haf­te Ver­derbt­heit die Rein­heit der Klei­nen be­su­deln kön­ne. Sie hat sie hier­her ge­sandt, um ge­heilt zu wer­den, wie die Ju­den des Al­ter­tums ihre Aus­sät­zi­gen an den wo­gen­den See von Be­thes­da schick­ten. Und da­her, Vor­ste­he­rin, Leh­re­rin­nen, ich fle­he Sie an, las­sen Sie die Wel­len um die­ses Kind nicht zum Still­stand kom­men.«

Mit die­sen er­ha­be­nen Schluss­wor­ten knöpf­te Mr. Brock­le­hurst den obers­ten Knopf sei­nes Über­zie­hers zu, und mur­mel­te et­was zu sei­ner Fa­mi­lie ge­wen­det. Die­se er­hob sich, ver­neig­te sich ge­gen Miss Tem­ple – und dann se­gel­ten all die vor­neh­men Leu­te mit großem Pomp zur Tür hin­aus. Mein Rich­ter aber wand­te sich noch ein­mal um und sag­te:

»Lasst sie noch eine hal­be Stun­de auf je­nem Stuhl ste­hen, und dass kei­ner von euch wäh­rend des gan­zen üb­ri­gen Ta­ges mit ihr spricht.«

Da stand ich also, hoch er­ho­ben über alle; ich, die ich so oft ge­sagt, dass ich die Schan­de nicht er­tra­gen wür­de, auf mei­nen ei­ge­nen, na­tür­li­chen Fü­ßen in der Mit­te des Zim­mers zu ste­hen – ich stand nun da, al­len Bli­cken aus­ge­setzt auf ei­nem Pie­de­stal der Schan­de. Wor­te ver­mö­gen nicht zu be­schrei­ben, wel­cher Art die Ge­füh­le wa­ren, die in mir tob­ten; aber ge­ra­de in dem Au­gen­blick, wo sie mir die Keh­le zu­sam­men­schnür­ten und mir den Atem zu rau­ben droh­ten, ging ein Mäd­chen an mir vor­bei. Und im Vor­bei­ge­hen rich­te­te sie ihre Bli­cke auf mich. Welch ein selt­sa­mes Licht ström­ten sie über mich aus! Welch ein wun­der­ba­res Ge­fühl weck­ten ihre Strah­len in mir! Und wie stark dies bis jetzt un­ge­kann­te Emp­fin­den mich mach­te! Es war, als sei ein Held, ein Mär­ty­rer an ei­nem Skla­ven oder an ei­nem Op­fer vor­über­ge­gan­gen und hät­te ihm da­durch Mut und Kraft ein­ge­flö­ßt. Ich be­herrsch­te und über­wäl­tig­te den Wein­krampf, der sich mei­ner be­mäch­ti­gen woll­te, er­hob das Haupt und stand dann fest und ohne Be­ben auf dem Stuhl. He­len Burns stell­te eine un­be­deu­ten­de Fra­ge über ihre Ar­beit an Miss Smith, wur­de we­gen der Tri­via­li­tät der­sel­ben ge­schol­ten, ging an ih­ren Platz zu­rück und lä­chel­te mir im Vor­über­ge­hen wie­der­um zu. Welch ein Lä­cheln!! Noch heu­te er­in­ne­re ich mich des­sen und ich weiß, dass es der Aus­fluss ei­nes großen Geis­tes, ei­nes wah­ren Mu­tes war; es ver­klär­te ihre schar­fen Züge, ihr ab­ge­ma­ger­tes Ge­sicht, ihre ein­ge­sun­ke­nen, grau­en Au­gen wie der Wie­der­schein von der Ge­stalt ei­nes En­gels. Und doch trug He­len Burns in die­sem Au­gen­blick die »Bin­de der Un­ord­nung« an ih­rem Arm; vor kaum ei­ner Stun­de hat­te ich erst ver­nom­men, wie Miss Scat­cherd sie für den mor­gen­den Tag ver­damm­te, ein Mit­tag­mahl von Was­ser und Brot zu hal­ten, weil sie eine Übung beim Ab­schrei­ben mit Tin­te be­fleckt hat­te. Dies ist die un­voll­kom­me­ne Na­tur des Men­schen! Sol­che Fle­cke gibt es auf der Schei­be des strahlends­ten Pla­ne­ten, und Au­gen wie Miss Scat­cherds sind nur im­stan­de die­se klein­li­chen Män­gel und Feh­ler zu ent­de­cken; für den vol­len Glanz des Gestirns sind sie blind!

Jane Eyre

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