Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 17

Neuntes Kapitel

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Aber der Ent­beh­run­gen oder viel­mehr der Müh­se­lig­kei­ten in Lo­wood wur­den auch we­ni­ger. Der Früh­ling kam – er war in der Tat schon ge­kom­men; die Win­ter­frös­te hat­ten auf­ge­hört; der Schnee war ge­schmol­zen, die schnei­den­den Win­de hat­ten nach­ge­las­sen. Mei­ne ar­men Füße, wel­che die Lüf­te des Ja­nu­ar ge­schun­den und ent­zün­det hat­ten, be­gan­nen zu hei­len und un­ter den war­men Win­den des April ihre alte Ge­stalt an­zu­neh­men; die Näch­te und Mor­gen lie­ßen mit ih­rer ka­na­di­schen Tem­pe­ra­tur nicht län­ger das Blut in un­se­ren Adern er­frie­ren; wir er­tru­gen es jetzt, die Spiel­stun­de im Gar­ten zu­zu­brin­gen; zu­wei­len an be­son­ders son­ni­gen Ta­gen be­gann es schon an­ge­nehm und freund­lich zu wer­den, ein zar­tes Grün be­gann die brau­nen Bee­te zu über­zie­hen, täg­lich wur­de es fri­scher und er­weck­te die Vor­stel­lung, dass die Hoff­nung wäh­rend der Nacht über sie hin­schrei­te und je­den Mor­gen schö­ne­re Spu­ren ih­rer Schrit­te zu­rück­las­se. Un­ter den Blät­tern blick­ten Blu­men her­vor: Schnee­glöck­chen, Kro­kus, dun­kel­ro­te Au­ri­keln und gol­d­äu­gi­ge Drei­fal­tig­keits­blu­men. An Don­ners­tagnach­mit­tagen – ein hal­ber Fe­ri­al­tag – mach­ten wir jetzt lan­ge Spa­zier­gän­ge und fan­den am Feldrain, un­ter den He­cken noch schö­ne­re Blu­men.

Ich ent­deck­te auch, dass ein großes Ver­gnü­gen, ein Ge­nuss, wel­chem nur der Ho­ri­zont eine Gren­ze setz­te, au­ßer­halb der ho­hen und mit ei­ser­nen Spit­zen ge­krön­ten Mau­ern un­se­res Gar­tens lag, – die­ser Ge­nuss be­stand näm­lich in der Aus­sicht, wel­che eine lan­ge Rei­he hoch­gip­fe­li­ger, grü­ner und schat­ti­ger Hü­gel bot – in ei­nem kla­ren Bach voll dunk­ler Stei­ne und fun­keln­der Wir­bel und Stru­del.

Wie ganz an­ders hat­te die­ses Bild aus­ge­se­hen, als ich es in Frost er­starrt, in ein Lei­chen­tuch von Schnee gehüllt un­ter dem blei­er­nen Him­mel des Win­ters ge­se­hen! Wenn to­des­kal­te Ne­bel vom Ost­wind ge­jagt über die­se düs­te­ren Gip­fel hin­zo­gen und über Wie­sen und An­hö­hen hin­un­ter­roll­ten, bis sie sich mit dem ge­fro­re­nen Ne­bel des Ba­ches ver­ei­nig­ten! Die­ser Bach selbst war da­mals ein Strom, zü­gel­los und to­bend; er durch­riss den Wald und er­füll­te die Luft mit to­sen­dem Lärm und wil­dem Sprüh­re­gen; und der Wald an sei­nen Ufern war nichts als eine Rei­he von Ge­rip­pen.

Aus dem April wur­de Mai; ein kla­rer, schö­ner Mai; all sei­ne Tage brach­ten blau­en Him­mel und mil­den Son­nen­schein und lei­se west­li­che oder süd­li­che Win­de. Und jetzt reif­te die Ve­ge­ta­ti­on mit Macht; Lo­wood schüt­tel­te sei­ne Lo­cken; es wur­de grün und blü­ten­reich; sei­ne großen Ul­men- und Eschen- und Ei­chen-Ske­let­te wur­den ma­je­stä­ti­schem Le­ben zu­rück­ge­ge­ben. Wald­pflan­zen sprieß­ten in al­len Ecken und Win­keln; zahl­lo­se Abar­ten von Moos füll­ten die Ver­tie­fun­gen, und die wil­den Schlüs­sel­blu­men be­deck­ten den Bo­den wie mit Son­nen­strah­len; oft habe ich an schat­ti­gen Stel­len ih­ren zar­ten, gol­di­gen Glanz für hel­len Son­nen­schein ge­hal­ten. Und al­les dies ge­noss ich oft und voll, frei, un­be­wacht und fast im­mer al­lein; die­se un­ge­wohn­te Frei­heit, die­ses Ver­gnü­gen hat­te eine Ur­sa­che, von wel­cher zu re­den jetzt mei­ne Auf­ga­be sein muss.

Habe ich die Lage mei­nes Wohn­sit­zes nicht als eine rei­zen­de ge­schil­dert, wenn ich er­zähl­te, dass die­ser in Hü­gel und Wald ge­bet­tet liegt und sich am Ran­de ei­nes Stro­mes er­hebt? Rei­zend in der Tat; ob aber ge­sund oder nicht, das ist eine an­de­re Fra­ge.

Je­nes Wald­tal, in wel­chem Lo­wood lag, war die Brut­stät­te von Ne­beln und ei­ner aus Ne­bel ent­stan­de­nen Pe­sti­lenz; die­se wuchs mit dem Früh­ling, kroch in das Wai­sen­asyl, hauch­te den Ty­phus in die über­füll­ten Schlaf­sä­le und Schul­zim­mer, und be­vor der Mai ge­kom­men, war die Er­zie­hungs­an­stalt in ein Ho­spi­tal um­ge­wan­delt.

Durch Hun­ger und ver­nach­läs­sig­te Er­käl­tun­gen war die Mehr­zahl der Schü­le­rin­nen für die An­ste­ckung ver­an­lagt; von acht­zig Mäd­chen wur­den fünf­und­vier­zig zu glei­cher Zeit von der Krank­heit er­grif­fen. Die Schul­stun­den hör­ten auf, alle Re­geln blie­ben un­be­ach­tet. Den We­ni­gen, wel­che ge­sund blie­ben, wur­de eine fast un­be­schränk­te Frei­heit ge­währt, denn der Arzt be­stand auf der Not­wen­dig­keit häu­fi­ger Be­we­gung in frei­er Luft, um sie ge­sund zu er­hal­ten; und selbst wenn es an­ders ge­we­sen wäre, so hat­te nie­mand Zeit oder Lust, sie zu be­wa­chen oder zu­rück­zu­hal­ten. Miss Temp­les gan­ze Auf­merk­sam­keit war von den Pa­ti­en­tin­nen in An­spruch ge­nom­men; sie wohn­te im Kran­ken­zim­mer; nie­mals ver­ließ sie es, mit Aus­nah­me von we­ni­gen Stun­den der Nacht, wo sie selbst die ihr so nö­ti­ge Ruhe such­te. Die Leh­re­rin­nen wa­ren vollauf mit dem Pa­cken oder an­de­ren not­wen­di­gen Vor­be­rei­tun­gen für die Abrei­se je­ner Mäd­chen be­schäf­tigt, wel­che glück­lich ge­nug wa­ren, Freun­de und Ver­wand­te zu be­sit­zen, die sie von dem Seu­chen­herd ent­fern­ten. Vie­le, wel­che den Keim der An­ste­ckung be­reits in sich tru­gen, kehr­ten nur nach Hau­se zu­rück, um zu ster­ben; ei­ni­ge star­ben in der An­stalt und wur­den schnell und ru­hig be­gra­ben, da die Na­tur der Krank­heit kei­nen Auf­schub dul­de­te.

Wäh­rend so die ent­setz­li­che Krank­heit eine Be­woh­ne­rin von Lo­wood ge­wor­den war und der Tod sein häu­fi­ger Be­su­cher; wäh­rend in­ner­halb sei­ner Mau­ern Furcht und Trau­er herrsch­ten; wäh­rend die Düns­te ei­nes Ho­spi­tals durch Zim­mer und Kor­ri­do­re zo­gen, und Trän­ke und Pa­stil­len um­sonst ver­such­ten, der Aus­düns­tung des To­des ent­ge­gen zu wir­ken, – leuch­te­te drau­ßen der strah­len­de Mai über stol­ze Hü­gel und herr­li­ches Wald­land. Der Gar­ten prang­te im Blu­men­flor: Ro­sen­pal­men wa­ren so hoch wie Bäu­me in die Höhe ge­schos­sen; Li­li­en­kel­che wa­ren er­schlos­sen, Tul­pen und Ro­sen stan­den in Blü­te; die Rän­der der klei­nen Bee­te strahl­ten in ih­rem Schmuck von rosa See­nel­ken und dun­kel­ro­ten Tau­send­schön­chen; Mor­gen und Abend ström­ten die He­cken­ro­sen ih­ren wür­zi­gen Duft aus – und die­se blü­hen­den Schät­ze wa­ren jetzt für die meis­ten Be­woh­ne­rin­nen von Lo­wood wert­los – nur zu­wei­len leg­te man ih­nen eine Hand­voll Blü­ten und Kräu­ter in den Sarg.

Aber ich und die üb­ri­gen, wel­che ge­sund blie­ben, ge­nos­sen in vol­len Zü­gen die Schön­heit des Früh­lings und der Ge­gend; man ließ uns wie Zi­geu­ner im Wal­de um­her strei­fen; wir ta­ten von mor­gens bis abends nur, was uns ge­fiel, gin­gen wo­hin wir woll­ten – und führ­ten über­haupt ein bes­se­res Da­sein als frü­her. Mr. Brock­le­hurst und sei­ne Fa­mi­lie ka­men Lo­wood jetzt gar nicht mehr zu nahe; die An­ge­le­gen­hei­ten der Haus­hal­tung wur­den nicht mehr ge­prüft; die böse Haus­häl­te­rin war fort; die Furcht vor An­ste­ckung hat­te sie fort­ge­trie­ben; ihre Nach­fol­ge­rin, wel­che in der Ar­men­apo­the­ke in Low­ton Vor­ste­he­rin ge­we­sen war, kann­te die Ge­bräu­che ih­res neu­en Auf­ent­halts noch nicht und ver­sorg­te uns mit ver­hält­nis­mä­ßi­ger Frei­ge­big­keit. Au­ßer­dem wa­ren un­se­rer ja we­ni­ger, die da Nah­rung ver­lang­ten; die Kran­ken konn­ten we­nig es­sen; un­se­re Früh­stücks­schüs­seln wur­den bes­ser ge­füllt; wenn sie kei­ne Zeit hat­te, ein re­gel­rech­tes Mit­ta­ges­sen her­zu­rich­ten – ein Fall, der ziem­lich häu­fig ein­trat, – pfleg­te sie uns ein großes Stück kal­ter Pas­te­te zu ge­ben oder eine große Schnit­te Brot und Käse, und die­sen Pro­vi­ant nah­men wir dann mit uns in den Wald hin­aus, wo jede von uns ihr Lieb­lings­plätz­chen auf­such­te und ein kö­nig­li­ches Mahl hielt.

Mein Lieb­lings­sitz war ein brei­ter, glat­ter Stein, wel­cher weiß und tro­cken mit­ten aus dem Wald­ba­che her­aus­rag­te; er war nur zu er­rei­chen, in­dem ich durch das Was­ser wa­te­te, und die­se Tat voll­brach­te ich denn ziem­lich oft und zwar bar­fuß. Der Stein war ge­ra­de breit ge­nug, um au­ßer mir noch ei­nem an­de­ren Mäd­chen be­que­men Platz zu ge­wäh­ren; dies war Mary Ann Wil­son, da­mals mei­ne aus­er­wähl­te Ge­fähr­tin; sie war ein klu­ges, be­ob­ach­ten­des Ge­schöpf, de­ren Ge­sell­schaft mir Freu­de mach­te, teil­wei­se weil sie wit­zig und ori­gi­nell war, und teil­wei­se, weil sie Ma­nie­ren und Sit­ten hat­te, wel­che mir be­son­ders zu­sag­ten. Um ei­ni­ge Jah­re äl­ter als ich, kann­te sie mehr von der Welt und konn­te mir von vie­len Din­gen er­zäh­len, die ich gern hör­te; in ih­rer Ge­sell­schaft wur­de mei­ne Neu­gier­de be­frie­digt; mit mei­nen Feh­lern hat­te sie die größ­te Nach­sicht und nie­mals ver­such­te sie mei­nen Wor­ten Zwang oder Zü­gel an­zu­le­gen. Sie hat­te ein großes Er­zäh­ler­ta­lent, – ich be­saß Ta­lent für die Ana­ly­se; sie lieb­te es zu be­leh­ren – ich zu fra­gen; so wur­den wir präch­tig mit­ein­an­der fer­tig und zo­gen wenn auch nicht viel Be­leh­rung, so doch viel Ver­gnü­gen aus un­se­ren ge­gen­sei­ti­gen Ver­kehr.

Und wo war in­zwi­schen He­len Burns? Wes­halb brach­te ich die­se sü­ßen Tage der Frei­heit nicht in ih­rer Ge­sell­schaft zu? Hat­te ich sie ver­ges­sen? Oder war ich so leicht­sin­nig, so un­wür­dig, dass ich ih­rer ver­edeln­den Ge­sell­schaft müde ge­wor­den? Ge­wiss war die oben­er­wähn­te Mary Ann Wil­son je­ner mei­ner ers­ten Freun­din nicht eben­bür­tig; sie konn­te mir nur lus­ti­ge Ge­schich­ten er­zäh­len oder ir­gend einen wit­zi­gen Klatsch wie­der­ho­len, der mir ge­ra­de Ver­gnü­gen mach­te, wäh­rend He­len, wenn ich die Wahr­heit über sie ge­spro­chen habe, ge­eig­net war, de­nen, wel­che das Vor­recht, die Be­güns­ti­gung ih­rer Un­ter­hal­tung ge­nos­sen, Sinn und Ge­schmack für hö­he­re, rei­ne­re Din­ge ein­zu­flö­ßen.

Das ist wahr, mein teu­rer Le­ser, und ich wuss­te und fühl­te das; – und ob­gleich ich ein un­voll­kom­me­nes Ge­schöpf bin mit vie­len Feh­lern und we­ni­gen gu­ten Ei­gen­schaf­ten, so war ich He­len Burns’ doch noch nie­mals über­drüs­sig ge­wor­den; nie­mals hat­te ich auf­ge­hört, für sie eine Lie­be zu he­gen, die so stark, so zärt­lich und so ach­tungs­voll war, wie nur je ein Ge­fühl mein Herz be­wegt hat. Wie hät­te es denn auch an­ders sein kön­nen, wenn He­len zu al­len Zei­ten und un­ter al­len Um­stän­den mir eine ru­hi­ge und treue Freund­schaft be­wie­sen hat­te, wel­che kei­ne böse Lau­ne je ver­bit­ter­te, kein Streit je­mals stör­te? – Aber He­len war au­gen­blick­lich krank; seit meh­re­ren Wo­chen war sie mei­nen Au­gen be­reits ent­rückt; ich wuss­te nicht, in wel­chem Zim­mer sie sich jetzt be­fand. Man hat­te mir ge­sagt, dass sie sich nicht in der Ho­spi­tal­ab­tei­lung un­ter den Fie­ber­kran­ken be­fän­de; denn ihre Krank­heit war die Schwind­sucht, nicht der Ty­phus, und ich in mei­ner Un­wis­sen­heit stell­te mir un­ter Schwind­sucht et­was mil­des vor, das durch Pfle­ge und Für­sor­ge mit der Zeit ge­heilt wer­den müs­se.

In die­ser Idee wur­de ich noch da­durch be­stärkt, dass sie ei­ni­ge­mal an son­ni­gen, war­men Nach­mit­tagen her­un­ter kam und von Miss Tem­ple in den Gar­ten ge­führt wur­de; bei die­sen Ge­le­gen­hei­ten ge­stat­te­te man mir aber nicht, mit ihr zu spre­chen oder mich ihr auch nur zu nä­hern; ich sah sie nur aus dem Fens­ter des Schul­zim­mers und dann nicht ein­mal deut­lich; denn sie war in vie­le Tü­cher gehüllt und saß in ei­ni­ger Ent­fer­nung auf der Ve­ran­da.

Ei­nes Abends im An­fang des Mo­nats Juni war ich sehr spät mit Mary Ann im Wal­de ge­blie­ben; wie ge­wöhn­lich hat­ten wir uns von den an­de­ren ge­trennt und wa­ren weit ge­wan­dert, so weit, dass wir den Weg ver­lo­ren und den­sel­ben in ei­ner ein­sa­men Hüt­te er­fra­gen muss­ten, wo ein Mann und eine Frau wohn­ten, die eine Her­de voll halb­wil­der Schwei­ne zu hü­ten hat­ten, wel­che von der Ei­chel­mast im Wal­de ge­mä­s­tet wur­den. Als wir end­lich zu­rück­ka­men, war der Mond schon auf­ge­gan­gen; ein Pony, wel­ches wir als das­je­ni­ge des Arz­tes er­kann­ten, stand an der Gar­ten­pfor­te. Mary Ann be­merk­te, dass wahr­schein­lich ir­gend­je­mand schwer er­krankt sein müs­se, wenn Mr. Ba­tes noch so spät am Abend ge­holt wor­den sei. Sie ging in das Haus; ich blieb zu­rück, um noch eine Hand­voll Wur­zeln, die ich im Wal­de aus­ge­gra­ben, in mei­nem Gar­ten ein­zu­pflan­zen; ich fürch­te­te, dass sie bis zum nächs­ten Mor­gen ver­wel­ken wür­den. Nach­dem dies ge­sche­hen, ver­weil­te ich noch ei­ni­ge Mi­nu­ten; die Blu­men duf­te­ten so süß, als der Tau fiel; es war ein so wun­der­schö­ner Abend, so rein, so ru­hig, so warm; und der noch ge­röte­te Wes­ten ver­sprach wie­der­um einen schö­nen Tag. Im dunklen Os­ten stieg ma­je­stä­tisch der Mond em­por. Ich be­ob­ach­te­te dies al­les und freu­te mich dar­an, wie ein Kind sich zu freu­en ver­mag, – da plötz­lich kam mir der Ge­dan­ke, wie nie­mals zu­vor:

»Wie trau­rig ist es doch, jetzt auf dem Kran­ken­bett lie­gen zu müs­sen und in To­des­ge­fahr zu schwe­ben! Die­se Welt ist so schön – wie ent­setz­lich wäre es, ab­be­ru­fen zu wer­den und wer weiß wo­hin ge­hen zu müs­sen!«

Und dann mach­te mei­ne See­le die ers­te erns­te An­stren­gung, das zu be­grei­fen, was man in Be­zug auf Him­mel und Höl­le in sie ge­legt hat­te; zum ers­ten Mal blick­te ich um mich und sah vor mir, ne­ben mir, hin­ter mir nichts als einen un­er­mess­li­chen Ab­grund; zum ers­ten Mal beb­te mei­ne See­le ent­setzt zu­rück, sie emp­fand und fühl­te nichts si­che­res mehr als den einen Punkt, auf wel­chem sie stand – die Ge­gen­wart, al­les an­de­re war eine form­lo­se Wol­ke, eine un­er­gründ­li­che Tie­fe – es schau­der­te mich bei dem Ge­dan­ken zu strau­cheln, zu wan­ken – und in das Cha­os hin­ab­zut­au­chen. Als ich noch die­sen neu­en Ge­dan­ken nach­hing, hör­te ich, wie die große Haus­tür ge­öff­net wur­de; Mr. Ba­tes trat her­aus, mit ihm eine Kran­ken­wär­te­rin. Nach­dem sie ge­war­tet bis er aufs Pferd ge­stie­gen und fort­ge­rit­ten war, woll­te sie die Tür wie­der­um schlie­ßen. Ich lief zu ihr.

»Wie geht es He­len Burns?«

»Sehr schlecht«, lau­te­te die Ant­wort.

»War Mr. Ba­tes ih­ret­we­gen ge­kom­men?«

»Ja.«

»Und was sagt er?«

»Er sagt, dass sie nicht mehr lan­ge bei uns ver­wei­len wird.«

Hät­te ich die­se Phra­se ges­tern ge­hört, so wür­de sie nur den Glau­ben in mir wach­ge­ru­fen ha­ben, dass man sie nach Nor­thum­ber­land in ihre Hei­mat brin­gen wol­le. Ich wür­de nicht ver­mu­tet ha­ben, dass es be­deu­te, sie sei ster­bend, – aber jetzt be­griff ich so­fort; es wur­de mir au­gen­blick­lich klar, dass He­len Burns’ Tage auf die­ser Welt ge­zählt sei­en, und dass sie bald hin­auf in die Re­gi­on der Geis­ter ge­hen wür­de – wenn es über­haupt eine sol­che Re­gi­on gab. Im ers­ten Mo­ment be­mäch­tig­te sich mei­ner ein na­men­lo­ser Schre­cken; dann emp­fand ich den hef­tigs­ten Schmerz, dann einen Wunsch – den Wunsch, sie zu se­hen. Und ich frag­te, in wel­chem Zim­mer sie läge.

»Sie ist in Miss Temp­les Zim­mer«, sag­te die Wär­te­rin.

»Kann ich hin­auf ge­hen und mit ihr spre­chen?«

»O nein, Kind! Das geht nicht an. Und jetzt ist es auch für Sie Zeit, hin­ein zu ge­hen; Sie wer­den das Fie­ber be­kom­men, wenn Sie drau­ßen sind, wäh­rend der Tau fällt.«

Die Wär­te­rin schloss die Haus­tür; ich ging durch den Sei­ten­ein­gang, wel­cher zu dem Schul­zim­mer führ­te; ich kam noch zu rech­ter Zeit; es war neun Uhr, und Miss Mil­ler rief ge­ra­de die Schü­le­rin­nen zum Schla­fen­ge­hen.

Es moch­te viel­leicht zwei Stun­den spä­ter, un­ge­fähr elf Uhr sein; es war mir nicht mög­lich ge­we­sen ein­zu­schla­fen und aus der tie­fen Ruhe, wel­che im Schlaf­zim­mer herrsch­te, schloss ich, dass mei­ne Ge­fähr­tin­nen fest schlie­fen; lei­se stand ich auf, zog mein Kleid über mein Nacht­ge­wand und schlich mich bar­fuß aus dem Ge­mach, um Miss Temp­les Zim­mer zu su­chen. Es be­fand sich am ent­ge­gen­ge­setz­ten Ende des Hau­ses; aber ich kann­te den Weg, und die Strah­len des un­be­wölk­ten Som­mer­mon­des hal­fen mir, ihn zu fin­den. Ich ver­spür­te einen schar­fen Ge­ruch von Kam­pher und ge­brann­tem Es­sig, als ich mich dem Zim­mer der Fie­ber­kran­ken nä­her­te; schnell eil­te ich an der Tür vor­über, aus Furcht, dass die Kran­ken­wär­te­rin, wel­che die gan­ze Nacht wa­chen muss­te, mich hö­ren kön­ne. Ich hat­te Angst da­vor, ent­deckt und zu­rück­ge­schickt zu wer­den, denn ich muss­te He­len se­hen, – ich muss­te sie um­ar­men be­vor sie starb, – ich muss­te ihr einen letz­ten Kuss ge­ben, noch ein letz­tes Wort mit ihr spre­chen.

Nach­dem ich die Trep­pe hin­un­ter­ge­gan­gen war, einen Teil vom Erd­ge­schoss des Hau­ses durch­schrit­ten hat­te und es mir ge­lun­gen war, ohne Geräusch zwei Tü­ren zu öff­nen, er­reich­te ich eine zwei­te Trep­pe; die­se stieg ich wie­der hin­auf und be­fand mich ge­ra­de vor der Tür von Miss Temp­les Zim­mer. Durch das Schlüs­sel­loch und eine Spal­te un­ter­halb der Tür fiel ein Licht­schein; über­all herrsch­te tiefs­te Stil­le. Als ich nä­her kam, fand ich die Tür ein we­nig ge­öff­net, wahr­schein­lich um in das dump­fe Kran­ken­ge­mach et­was Luft drin­gen zu las­sen. Nicht ge­willt zu zö­gern, von un­ge­dul­di­gem Dran­ge be­seelt – See­le und alle Sin­ne in hef­ti­gem Schmerz er­be­bend – öff­ne­te ich sie ganz und blick­te hin­ein. Mein Auge such­te He­len und fürch­te­te – den Tod zu fin­den.

Dicht ne­ben Miss Temp­les Bett und mit den wei­ßen Vor­hän­gen des­sel­ben halb ver­hängt, stand ein klei­nes Bett­chen. Ich sah die Um­ris­se ei­ner Ge­stalt un­ter der Bett­de­cke, doch das Ge­sicht war durch die Gar­di­nen ver­deckt. Die Wär­te­rin, mit wel­cher ich im Gar­ten ge­spro­chen hat­te, saß in ei­nem Lehn­stuhl und schlief; eine halb­her­ab­ge­brann­te Ker­ze, die auf dem Ti­sche stand, ver­brei­te­te ein trü­bes Licht. Miss Tem­ple war nicht sicht­bar; spä­ter er­fuhr ich, dass sie zu ei­ner im De­li­ri­um lie­gen­den Fie­ber­kran­ken ge­ru­fen wor­den. – Ich wag­te mich wei­ter ins Zim­mer hin­ein; dann stand ich ne­ben dem klei­nen Bet­te still; mei­ne Hand fass­te den Vor­hang, doch hielt ich es für bes­ser, zu spre­chen, be­vor ich den­sel­ben zur Sei­te zog. Ein Schau­er fass­te mich bei dem Ge­dan­ken, dass ich viel­leicht nur noch eine Lei­che se­hen könn­te.

»He­len«, flüs­ter­te ich sanft, »wachst du?«

Sie be­weg­te sich, schob den Vor­hang zu­rück – – und ich blick­te in ihr blei­ches, ab­ge­zehr­tes aber ru­hi­ges Ge­sicht. Sie schi­en so we­nig ver­än­dert, dass mei­ne Furcht au­gen­blick­lich schwand.

»Bist du’s wirk­lich, Jane?« frag­te sie mit ih­rer ge­wohn­ten, sanf­ten Stim­me.

»Ah!« dach­te ich, »sie wird nicht ster­ben; sie ir­ren sich alle; wäre es der Fall, so könn­te sie nicht so ru­hig, so fried­lich aus­se­hen; das wäre nicht mög­lich.«

Ich ging an ihr Bett und küss­te sie; ihre Stirn war kalt und ihre Wan­ge war kalt und ab­ge­zehrt, und ihre Hän­de und ihre Arme eben­falls; aber ihr Lä­cheln war das alte ge­blie­ben.

»Wes­halb kommst du hier­her, Jane? Es ist schon nach elf Uhr; ich habe es vor ei­ni­gen Mi­nu­ten schla­gen hö­ren.«

»Ich kam um dich zu se­hen, He­len. Ich hör­te, du seist sehr krank, und ich konn­te nicht ein­schla­fen, be­vor ich noch ein­mal mit dir ge­spro­chen hat­te.«

»Du bist also ge­kom­men, um mir Le­be­wohl zu sa­gen: wahr­schein­lich bist du ge­ra­de noch zu rech­ter Zeit ge­kom­men.«

»Willst du fort, He­len? Willst du etwa nach Hau­se.«

»Ja, nach Hau­se – in mei­ne letz­te, mei­ne ewi­ge Hei­mat!«

»Nein, nein, He­len«, un­ter­brach ich sie jam­mernd. Wäh­rend ich ver­such­te, mei­ner Trä­nen Herr zu wer­den, hat­te He­len einen hef­ti­gen Hus­ten­an­fall; in­des­sen weck­te die­ser die Kran­ken­wär­te­rin nicht; als er vor­über, lag sie ei­ni­ge Mi­nu­ten ganz er­schöpft da; dann flüs­ter­te sie:

»Jane, dei­ne klei­nen Füße sind nackt; lege dich zu mir ins Bett und de­cke dich mit mei­ner De­cke zu.«

Ich tat es; sie schlang ih­ren Arm um mich, und ich schmieg­te mich dicht an sie. Nach lan­gem Schwei­gen fuhr sie flüs­ternd fort:

»Ich bin sehr glück­lich, Jane; und wenn du hörst, dass ich ge­stor­ben bin, so musst du mir ver­spre­chen, nicht zu trau­ern; denn es ist nichts zu be­trau­ern. Wir alle müs­sen ja ei­nes Ta­ges ster­ben, und die Krank­heit, die mich fort­rafft, ist nicht schmerz­haft; sie schrei­tet lang­sam und schmerz­los fort; mein Ge­müt ist in Frie­den. Ich hin­ter­las­se nie­man­den, der mich be­trau­ert. Ich habe nur einen Va­ter; er hat sich vor kur­z­em wie­der ver­hei­ra­tet und wird mich nicht ver­mis­sen. Ich st­er­be jung – aber ich wer­de auch vie­len Lei­den ent­ge­hen. Ich hat­te kei­ne Ei­gen­schaf­ten, kei­ne Ta­len­te, die mir ge­hol­fen hät­ten, einen gu­ten Weg durch die Welt zu ma­chen. Fort­wäh­rend wür­de ich das Ver­kehr­te ge­tan ha­ben.«

»Aber wo­hin gehst du denn, He­len? Kannst du es se­hen? Kannst du glau­ben?«

»Ich glau­be; – ich habe die fes­te Zu­ver­sicht: ich gehe zu Gott.«

»Wo ist Gott? Was ist Gott?«

»Mein Schöp­fer und der dei­ne, der nie­mals zer­stö­ren kann, was er ge­schaf­fen hat. Ich glau­be fest an sei­ne Macht und ver­traue sei­ner All­gü­te. Ich zäh­le die Stun­den bis zu je­ner großen, be­deu­tungs­vol­len, die mich ihm zu­rück­ge­ben soll, ihn mir von An­ge­sicht zu An­ge­sicht zei­gen wird.«

»Du bist also si­cher, He­len, dass es ein Et­was gibt, das sich Him­mel nennt; und dass un­se­re See­len dort­hin ge­hen wer­den, wenn wir ster­ben?«

»Ich bin si­cher, dass es ein künf­ti­ges Le­ben gibt; ich glau­be, dass Gott gut ist; ich gebe ihm mein un­s­terb­li­ches Teil ver­trau­ens­voll hin. Gott ist mein Va­ter; Gott ist mein Freund, ich lie­be ihn; ich glau­be, dass er mich liebt.«

»Und wer­de ich dich wie­der­se­hen, He­len, wenn ich st­er­be?«

»Du wirst in die­sel­ben Re­gio­nen der Glück­se­lig­keit kom­men wie ich; der­sel­be mäch­ti­ge All­va­ter wird auch dich an sein Herz neh­men, Jane, zweifle nicht dar­an.«

Wie­de­r­um frag­te ich, doch die­ses Mal nur in Ge­dan­ken, »wo sind jene Re­gio­nen? Sin­d sie wirk­lich?« Und fes­ter schlang ich mei­ne Arme um He­len; sie war mir in die­sem Au­gen­blick teu­rer denn je; mir war, als kön­ne ich sie nicht fort­ge­hen las­sen; ich ver­barg mein Ge­sicht an ih­rer Brust. Gleich dar­auf sag­te sie in ih­rer sü­ßes­ten Wei­se:

»Wie wohl ich mich füh­le! Je­ner letz­te Hus­ten­an­fall hat mich ein we­nig er­mü­det; mir ist, als könn­te ich jetzt schla­fen; aber ver­lass mich nicht, Jane; es ist so schön, dich so nahe zu wis­sen.«

»Ich blei­be bei dir, sü­ße He­len; nie­mand soll mich von hier fort­neh­men.«

»Ist dir warm, mein Lieb­ling?«

»Ja.«

»Gute Nacht, Jane.«

»Gute Nacht, He­len.«

Sie küss­te mich und ich küss­te sie: bald schlie­fen wir bei­de.

Als ich er­wach­te, war es Tag. Eine un­ge­wöhn­li­che Be­we­gung weck­te mich; ich öff­ne­te die Au­gen; je­mand hielt mich in den Ar­men; es war die Kran­ken­wär­te­rin; sie trug mich durch die Kor­ri­do­re in den Schlaf­saal zu­rück. Man er­teil­te mir kei­nen Ver­weis da­für, dass ich mein Bett ver­las­sen hat­te; die Leu­te hat­ten an an­de­re Din­ge zu den­ken. Auf mei­ne vie­len Fra­gen gab man mir da­mals kei­ne Er­klä­run­gen; aber ei­ni­ge Tage spä­ter er­fuhr ich, dass Miss Tem­ple, als sie in ihr Zim­mer zu­rück­ge­kehrt, mich in dem klei­nen Bet­te ge­fun­den habe; mein Ge­sicht ruh­te auf He­len Burns Schul­ter, mei­ne Arme um­schlan­gen ih­ren Hals. Ich schlief, und He­len war – tot.

Ihr Grab be­fin­det sich auf dem Fried­ho­fe von Brock­lebridge; noch fünf­zehn Jah­re nach ih­rem Tode deck­te es nur ein ein­fa­cher Gras­hü­gel. Jetzt be­zeich­net eine graue Mar­mor­ta­fel die Stel­le; dar­auf steht ihr Name und das Wort: »Re­s­ur­gam.«

Jane Eyre

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