Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 18

Zehntes Kapitel

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Bis hier­her habe ich jede Be­ge­ben­heit mei­nes un­be­deu­ten­den Da­seins bis ins kleins­te De­tail ge­schil­dert; – den ers­ten zehn Jah­ren mei­nes Le­bens habe ich eben­so vie­le Ka­pi­tel ge­wid­met. – Es ist aber nicht mei­ne Ab­sicht, eine or­dent­li­che Au­to­bio­gra­fie zu schrei­ben; ich füh­le mich nur ver­pflich­tet, mein Ge­dächt­nis zu be­fra­gen, wo sei­ne Ant­wor­ten bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de In­ter­es­se bie­ten kön­nen; dar­um über­ge­he ich einen Zeit­raum von acht Jah­ren fast mit Still­schwei­gen; nur we­ni­ge Rei­hen sind not­wen­dig, um die Ver­bin­dung auf­recht zu er­hal­ten.

Als das ty­phöse Fie­ber sei­ne Mis­si­on der Zer­stö­rung in Lo­wood er­füllt hat­te, ver­schwand es nach und nach von dort; aber nicht, be­vor sei­ne Hef­tig­keit und die An­zahl sei­ner Op­fer die öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit auf sich ge­zo­gen hat­ten. Die Ur­sa­che die­ser Gei­ßel wur­de ge­nau un­ter­sucht, und so wur­den meh­re­re Fak­ta ent­deckt, wel­che die all­ge­mei­ne öf­fent­li­che Em­pö­rung im höchs­ten Gra­de wachrie­fen. Die un­ge­sun­de Lage des In­sti­tuts; die Quan­ti­tät und die Qua­li­tät der Nah­rung, wel­che den Kin­dern ver­ab­reicht wur­de; das schlech­te, stin­ken­de Was­ser, wel­ches bei der Zu­be­rei­tung ver­wen­det wur­de; die elen­de, un­zu­rei­chen­de Be­klei­dung der Schü­le­rin­nen – alle die­se Din­ge ka­men ans Ta­ges­licht, und die Ent­de­ckung mach­te einen sehr be­schä­men­den Ein­druck für Mr. Brock­le­hurst, hat­te aber eine wohl­tä­ti­ge Wir­kung für das In­sti­tut.

Meh­re­re wohl­ha­ben­de und wohl­wol­len­de Leu­te in der Ge­gend zeich­ne­ten große Sum­men für den Auf­bau ei­nes pas­sen­de­ren Ge­bäu­des in ei­ner bes­se­ren Lage; neue Sta­tu­ten wur­den auf­ge­stellt. Ver­bes­se­run­gen in Diät und Klei­dung ein­ge­führt; das Be­triebs­ka­pi­tal der Schu­le wur­de der Ver­wal­tung ei­nes Ko­mi­tees an­ver­traut. Mr. Brock­le­hurst, wel­cher sei­ner Fa­mi­li­en­ver­bin­dun­gen und sei­nes Reich­tums we­gen nicht ganz über­se­hen wer­den konn­te, be­hielt das Amt ei­nes Kas­sen­ver­wal­ters; aber bei der Er­le­di­gung sei­ner Pf­lich­ten stan­den ihm Her­ren von sym­pa­thi­sche­rer Sin­nes­art und hu­ma­ne­rem Cha­rak­ter zur Sei­te; auch sein Amt als In­spek­tor muss­te er mit Leu­ten tei­len, wel­che Stren­ge mit Ver­nunft, Kom­fort mit Spar­sam­keit, Mit­ge­fühl mit Ge­rech­tig­keit zu paa­ren wuss­ten. In sol­cher Ge­stalt ver­bes­sert, wur­de sie mit der Zeit zu ei­ner wahr­haft nütz­li­chen und ed­len Grün­dung. Ich blieb noch acht Jah­re nach ih­rer Re­no­va­ti­on eine Be­woh­ne­rin ih­rer Mau­ern: sechs Jah­re als Schü­le­rin und zwei als Leh­re­rin. In bei­den Ei­gen­schaf­ten kann ich nur ih­ren großen Wert und ihre Wich­tig­keit be­zeu­gen.

Wäh­rend die­ser acht Jah­re war mein Le­ben au­ßer­or­dent­lich ein­för­mig; aber nicht un­glück­lich, weil es nicht un­tä­tig war. Die Mit­tel, mir eine aus­ge­zeich­ne­te Er­zie­hung an­zu­eig­nen, wa­ren mir an die Hand ge­ge­ben; eine Vor­lie­be für ei­ni­ge mei­ner Stu­di­en, der Wunsch, in al­len das Höchs­te zu er­rei­chen, ver­bun­den mit dem in­ni­gen Wunsch, mei­ne Leh­re­rin­nen zu be­frie­di­gen, be­son­ders jene, wel­che ich lieb­te: dies al­les trieb mich vor­wärts und da­her be­nutz­te ich in vol­lem Maße die Vor­tei­le, wel­che sich mir dar­bo­ten. Mit der Zeit stieg ich zum Ran­ge der ers­ten Schü­le­rin in der ers­ten Klas­se em­por; dann wur­de ich mit dem Amte ei­ner Leh­re­rin be­traut; die­ser Pf­lich­ten ent­le­dig­te ich mich wäh­rend zwei­er Jah­re. Doch nach Ablauf die­ser Zeit wur­de ich an­de­ren Sin­nes.

Wäh­rend all die­ser Wech­sel war Miss Tem­ple Vor­ste­he­rin des Se­mi­nars ge­blie­ben; ih­rem Un­ter­richt ver­dank­te ich den bes­ten Teil mei­ner Kennt­nis­se; ihre Freund­schaft und ihre Ge­sell­schaft wa­ren mein im­mer­wäh­ren­der Trost ge­we­sen; sie hat­te die Stel­le ei­ner Mut­ter bei mir ver­tre­ten, sie war mei­ne Er­zie­he­rin und spä­ter mei­ne Ge­fähr­tin ge­we­sen. Um die­se Zeit hei­ra­te­te sie und zog mit ih­rem Gat­ten – ei­nem Geist­li­chen, der ein aus­ge­zeich­ne­ter Mann und bei­na­he ei­ner sol­chen Gat­tin wür­dig ge­we­sen wäre – in eine ent­fern­te Graf­schaft; für mich war sie folg­lich ver­lo­ren.

Seit dem Tage, wo sie uns ver­ließ, war ich nicht mehr die­sel­be; mit ihr war je­des Ge­fühl der Fes­tig­keit, jede Ge­mein­schaft, die Lo­wood bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de zu mei­ner Hei­mat ge­macht hat­te, da­hin. Ich hat­te ei­ni­ges von ih­rer Na­tur, vie­le ih­rer Ge­wohn­hei­ten an­ge­nom­men; har­mo­ni­sche­re Ge­dan­ken, bes­ser ge­re­gel­te Emp­fin­dun­gen wa­ren die Be­woh­ner mei­ner See­le ge­wor­den. Ich hat­te mich der Pf­licht und der Ord­nung un­ter­wor­fen; ich war ru­hig ge­wor­den; ich glaub­te, dass ich zu­frie­den sei; den Au­gen an­de­rer, oft so­gar mei­nen ei­ge­nen, er­schi­en ich ein wohl­dis­zi­pli­nier­ter und fes­ter, ge­zü­gel­ter Cha­rak­ter.

Aber das Schick­sal in Ge­stalt Sr. Ehr­wür­den des Herrn Nas­myth trat zwi­schen Miss Tem­ple und mich; – ich sah sie kurz nach der Ze­re­mo­nie der Trau­ung im Rei­se­klei­de in die Post­chai­se stei­gen; ich sah den Wa­gen den Hü­gel hin­auf fah­ren und hin­ter die­sem Hü­gel ver­schwin­den. Dann ging ich auf mein Zim­mer. Und dort ver­brach­te ich auch in Ein­sam­keit den größ­ten Teil des hal­b­en Fe­ri­al­ta­ges, wel­chen man uns der fei­er­li­chen Ge­le­gen­heit zu Ehren ge­währt hat­te.

Vie­le Stun­den lang ging ich im Zim­mer auf und ab. Ich bil­de­te mir ein, dass ich nur mei­nen Ver­lust be­traue­re und dar­an däch­te, ihn zu er­set­zen; als ich aber den Schluss mei­ner Re­fle­xio­nen zog und auf­sah und fand, dass der Nach­mit­tag hin­ge­gan­gen und der Abend weit vor­ge­schrit­ten sei, – da däm­mer­te eine an­de­re Ent­de­ckung vor mir auf: ich fühl­te, dass ich in der Zwi­schen­zeit einen trans­for­mie­ren­den Pro­zess durch­ge­macht habe; dass mein Ge­müt ab­ge­streift habe al­les, was es von Miss Tem­ple er­borgt hat­te – oder viel­mehr, dass sie die rei­ne At­mo­sphä­re, wel­che ich in ih­rer Nähe ein­ge­at­met hat­te, mit sich ge­nom­men habe, und dass ich jetzt in mei­nem ei­ge­nen na­tür­li­chen Ele­ment zu­rück­ge­blie­ben sei. Ich fühl­te, wie die al­ten, wil­den Ge­füh­le wie­der in mir er­wach­ten. Es war nicht, als ob eine Stüt­ze mir ge­nom­men sei, son­dern viel­mehr, als ob eine be­we­gen­de Kraft ver­lo­ren ge­gan­gen; nicht als ob die Fä­hig­keit ru­hig und zu­frie­den zu sein, ge­schwun­den sei, son­dern als ob die Ur­sa­che zur Zufrie­den­heit da­hin sei. Wäh­rend vie­ler Jah­re war Lo­wood mei­ne gan­ze Welt ge­we­sen; mei­ne Er­fah­rung kann­te nichts an­de­res als sei­ne Vor­schrif­ten, sein Sys­tem. Jetzt aber fiel mir ein, dass die Welt groß sei, und dass ein wei­tes, wech­sel­vol­les Feld von Furcht und Hoff­nung, von Be­we­gung und An­re­gung jene er­war­te, wel­che ge­nug Mut be­sä­ßen, auf die­se Wahl­statt hin­aus­zu­ge­hen, um wirk­li­che Le­bens­er­fah­rung und Kennt­nis in­mit­ten sei­ner Ge­fah­ren zu su­chen.

Ich ging an das Fens­ter, öff­ne­te es und blick­te hin­aus. Da la­gen die bei­den Flü­gel des Ge­bäu­des, da war der Gar­ten, dort die Gren­ze von Lo­wood, weit hin­ten der hü­ge­li­ge Ho­ri­zont. Mein Auge schweif­te über alle an­de­ren Ge­gen­stän­de fort, um an den ent­fern­tes­ten haf­ten zu blei­ben: an den Gip­feln der Ber­ge! Die­se zu über­stei­gen sehn­te ich mich; al­les was in­ner­halb ih­rer Gren­zen von Fel­sen und Hai­de lag, schi­en mir Ge­fäng­nis­bo­den, Gren­zen des Exils. Ich ver­folg­te die wei­ße Land­stra­ße, wel­che sich an dem Fuße ei­nes Ber­ges da­hin zog und in ei­ner Schlucht zwi­schen zwei Hö­hen ver­schwand, mit den Au­gen. Ach! wie gern wäre ich ihr noch wei­ter ge­folgt! Ich er­in­ner­te mich der Zeit, da ich in ei­ner Post­kut­sche auf die­ser sel­ben Stra­ße des We­ges ge­kom­men; ich er­in­ner­te mich, wie ich in der Däm­me­rung je­nen Hü­gel her­un­ter ge­fah­ren; ein Men­schen­al­ter schi­en ver­gan­gen seit je­nem Tage, der mich zu­erst nach Lo­wood ge­führt – und nicht eine Stun­de hat­te ich es seit­dem ver­las­sen. Alle mei­ne Fe­ri­en wa­ren in der Schu­le da­hin ge­gan­gen; Mrs. Reed hat­te mich nie­mals wie­der nach Ga­tes­head kom­men las­sen und eben­so­we­nig hat­te sie oder ir­gend ein Mit­glied ih­rer Fa­mi­lie mich be­sucht. We­der durch Brie­fe noch durch münd­li­che Bot­schaft hat­te ich einen Ver­kehr mit der Au­ßen­welt auf­recht er­hal­ten; Schul­re­geln, Schul­pflich­ten, Schul­ge­bräu­che, Schul­ge­dan­ken, Stim­men, Ge­sich­ter, Phra­sen, Ko­stü­me, Sym­pa­thi­en und An­ti­pa­thi­en – das war al­les, was ich vom Da­sein kann­te. Und jetzt emp­fand ich, dass dies nicht ge­nug sei. In ei­nem ein­zi­gen Nach­mit­tage wur­de ich des Schlen­drians von acht Jah­ren müde! Ich er­sehn­te die Frei­heit; ich lechz­te nach Frei­heit; um die Frei­heit be­te­te ich; der Wind, der sich lei­se er­hob, schi­en das Ge­bet da­von zu tra­gen. Dann gab ich die Frei­heit auf und sprach einen de­mü­ti­ge­ren Wunsch aus: ich bat um Ver­än­de­rung, um ir­gend ein Reiz­mit­tel. Aber auch die­se Bit­te schi­en sich in dem lee­ren Raum zu ver­lie­ren. »Dann«, rief in vol­ler Verzweif­lung aus, »dann sei mir we­nigs­tens eine neue Dienst­bar­keit ge­währt!«

Hier rief mich eine Glo­cke, wel­che die Stun­de des Abendes­sens ver­kün­de­te, in das Re­fek­to­ri­um hin­un­ter.

Bis zur Zeit des Schla­fen­ge­hens konn­te ich mei­nen un­ter­bro­che­nen Ge­dan­ken­gang nicht mehr auf­neh­men; selbst dann hielt mich noch eine Leh­re­rin, wel­che das Zim­mer mit mir teil­te, durch einen Er­guss klein­li­chen, in­ter­es­se­lo­sen Ge­schwät­zes von dem Ge­gen­stan­de fern, zu dem ich mich sehn­te mit mei­nen Ge­dan­ken zu­rück­keh­ren zu kön­nen. Wie wünsch­te ich, dass der Schlaf sie end­lich zum Schwei­gen ge­bracht hät­te! Mir war, als müss­te mir ir­gend eine er­fin­de­ri­sche Ein­ge­bung zur Hil­fe kom­men, wenn es mir nur mög­lich ge­we­sen wäre, zu je­nem Ge­dan­ken zu­rück­zu­keh­ren, der mei­ne See­le zu­letzt be­schäf­tig­te, als ich am Fens­ter stand.

End­lich schnarch­te Miss Gry­ce; sie war eine schwer­fäl­li­ge Wal­li­se­rin, und bis jetzt hat­te ich ihre ge­wöhn­li­chen na­sa­len Töne in kei­nem an­de­ren Lich­te be­trach­tet, als in dem ei­ner Be­läs­ti­gung; heu­te Abend aber be­grüß­te ich die ers­ten tie­fen No­ten mit in­ners­ter Be­frie­di­gung; ich brauch­te kei­ne Un­ter­bre­chung mehr zu fürch­ten; mei­ne halb­ver­lösch­ten Ge­dan­ken be­leb­ten sich von neu­em.

»Eine neue Dienst­bar­keit! Da­rin liegt et­was«, sag­te ich zu mir selbst, (na­tür­lich nur im Geis­te, wohl­ver­stan­den, denn ich sprach nicht laut). »Ich weiß, dass es so ist, denn es klingt nicht all­zu süß; es klingt nicht wie die Wor­te Frei­heit, Auf­re­gung, Ge­nuss – – präch­ti­ge Lau­te in der Tat; aber für mich doch nichts als Lau­te; und so hohl, so flüch­tig, dass es wah­re Zeit­ver­schwen­dung ist, ih­nen nur zu lau­schen. Aber Dienst­bar­keit! Das ist eine Tat­sa­che! Je­der kann die­nen! Ich habe hier acht Jah­re ge­dient; und jetzt wün­sche ich ja nichts wei­ter, als an­ders­wo die­nen zu kön­nen. Kann ich mei­nen ei­ge­nen Wil­len denn nicht we­nigs­tens so weit durch­set­zen? Ist die Sa­che denn nicht tun­lich? Ja – ja – das Ende ist nicht so schwer, wenn mein Ge­hirn nur tä­tig ge­nug wäre, um die Mit­tel, es zu er­rei­chen, auf­spü­ren zu kön­nen.«

Ich saß auf­recht im Bet­te, um mein vor­er­wähn­tes Hirn zur Tä­tig­keit an­zu­spor­nen; es war eine fros­ti­ge Nacht; ich be­deck­te mei­ne Schul­tern mit ei­nem Shawl und dann fing ich wie­der mit al­len Kräf­ten an zu den­ken.

»Was wün­sche ich denn ei­gent­lich? Eine neue Stel­le, in ei­nem neu­en Hau­se, un­ter neu­en Ge­sich­tern, un­ter neu­en Ver­hält­nis­sen. Dies wün­sche ich, weil es nichts nützt, et­was Bes­se­res, Grö­ße­res zu wün­schen. Wie ma­chen die Leu­te es nun, um eine neue Stel­le zu be­kom­men? Sie wen­den sich an ihre Freun­de, wie ich ver­mu­te, – ich habe kei­ne Freun­de. Es gibt aber noch vie­le Men­schen, die kei­ne Freun­de ha­ben und sich selbst um­se­hen müs­sen und sich selbst hel­fen. Wel­ches sind denn nun ihre Hilfs­quel­len?«

Ja, das wuss­te ich nicht; nie­mand konn­te mir ant­wor­ten. Des­halb be­fahl ich mei­nem Hirn, eine Ant­wort zu fin­den, und zwar so schnell wie mög­lich. Es ar­bei­te­te schnel­ler und schnel­ler; ich fühl­te die Pul­se in mei­nem Kopf und mei­nen Adern klop­fen; aber fast eine Stun­de lang ar­bei­te­te es in ei­nem Cha­os, und all sei­ne An­stren­gun­gen hat­ten kei­nen Er­folg. Fie­ber­haft er­regt durch die nutz­lo­se Ar­beit er­hob ich mich wie­der und ging ei­ni­ge­mal im Zim­mer auf und nie­der; zog den Vor­hang zu­rück, blick­te hin­auf zu den Ster­nen, zit­ter­te vor Käl­te und kroch wie­der in mein Bett.

Wäh­rend mei­nes Um­her­wan­derns hat­te eine gü­ti­ge Fee ge­wiss den er­fleh­ten Rat auf mein Kopf­kis­sen nie­der­ge­legt, denn als ich wie­der lag, kam er ru­hig und na­tür­lich in mei­nen Sinn: – »Leu­te, wel­che Stel­lun­gen su­chen, kün­di­gen es an; du musst es im …s­hi­re He­rald an­kün­di­gen.«

»Aber wie? Ich weiß nichts von Zei­tungs­an­non­cen.«

Schnell und wie von selbst ka­men die Ant­wor­ten jetzt:

»Du musst die An­non­ce und das Geld für die­sel­be an den Her­aus­ge­ber des He­rald ein­schi­cken; bei der ers­ten Ge­le­gen­heit, die sich dir dar­bie­tet, musst du die Sen­dung in Low­ton auf die Post ge­ben; die Ant­wort muss an J.E. an das dor­ti­ge Post­amt ge­schickt wer­den; eine Wo­che nach­dem du dei­nen Brief ab­ge­sandt, kannst du hin­ge­hen und dich er­kun­di­gen, ob ir­gend eine Ant­wort ein­ge­trof­fen ist; dar­auf­hin hast du zu han­deln.«

Zwei-, drei­mal über­dach­te ich die­sen Plan; jetzt hat­te ich ihn ge­nüg­sam ver­daut, ich hat­te ihn in eine kla­re, prak­ti­sche Form ge­fasst; jetzt war ich zu­frie­den und fiel in tie­fen Schlaf.

Mit Ta­ge­s­an­bruch war ich auf. Ehe noch die Glo­cke er­tön­te, wel­che die gan­ze Schu­le weck­te, hat­te ich mei­ne An­non­ce ge­schrie­ben, cou­ver­tiert und adres­siert; sie lau­te­te fol­gen­der­ma­ßen:

»Eine jun­ge Dame, wel­che im Leh­ren ge­übt ist (war ich denn nicht zwei Jah­re lang Leh­re­rin ge­we­sen?) wünscht eine Stel­lung in ei­ner Fa­mi­lie zu fin­den, wo die Kin­der un­ter vier­zehn Jah­ren sind (da ich selbst kaum acht­zehn Jah­re alt war, hielt ich es nicht für rat­sam, die Er­zie­hung von Schü­lern zu über­neh­men, wel­che mei­nem ei­ge­nen Al­ter nä­her wa­ren). Sie ist be­fä­higt in den ge­wöhn­li­chen Zwei­gen, wel­che zu ei­ner gu­ten, eng­li­schen Er­zie­hung ge­hö­ren, zu un­ter­rich­ten, eben­so im Fran­zö­si­schen, im Zeich­nen und in der Mu­sik.« (In je­nen Ta­gen, mein lie­ber Le­ser, war dies Ver­zeich­nis, wel­ches heu­te al­ler­dings sehr un­zu­rei­chend sein wür­de, ein sehr um­fas­sen­des.) »Ge­fäl­li­ge Adres­sen sind an J.E. pos­te re­stan­te Low­ton, …s­hi­re zu rich­ten.«

Wäh­rend des gan­zen Ta­ges lag die­ses Do­ku­ment in mei­ner Schieb­la­de ver­schlos­sen; nach dem Tee bat ich die neue Vor­ste­he­rin um die Er­laub­nis nach Low­ton ge­hen zu dür­fen, wo ich ei­ni­ge Kom­mis­sio­nen für mich und zwei mei­ner Mit­leh­re­rin­nen zu ma­chen hat­te. Die Er­laub­nis wur­de mir gern ge­währt. Ich ging. Der Weg war zwei Mei­len lang; es war ein feuch­ter Abend, aber die Tage wa­ren noch lang; ich ging in zwei, drei Lä­den, warf mei­nen Brief in den Brief­kas­ten und kam in strö­men­dem Re­gen mit durch­näss­ten Klei­dern aber mit leich­tem Her­zen zu­rück.

Die jetzt fol­gen­de Wo­che schi­en end­los lang. Wie alle Din­ge die­ser Welt nahm sie aber auch ein Ende, und an ei­nem herr­li­chen Herb­sta­ben­de be­fand ich mich aber­mals zu Fuß un­ter­wegs nach Low­ton. Und ne­ben­bei er­wähnt, es war ein pit­to­res­ker Weg, der an dem Wald­bach und den herr­lichs­ten Win­dun­gen des Tals ent­lang führ­te; aber an die­sem Tage dach­te ich nur an die Brie­fe, die mich in dem klei­nen Markt­fle­cken er­war­te­ten oder nicht er­war­te­ten, nicht an die Rei­ze von Berg und Tal.

Mein os­ten­si­bler Vor­wand bei die­ser Ge­le­gen­heit war ge­we­sen, mir das Maß zu ei­nem Paar Schu­he neh­men zu las­sen; folg­lich mach­te ich die­ses Ge­schäft zu­erst ab, und nach­dem es er­le­digt, ging ich aus dem La­den des Schuh­ma­chers quer über die klei­ne, rein­li­che Stra­ße in das Post­bü­ro. Eine alte Dame ver­wal­te­te das­sel­be; sie trug eine Horn­bril­le auf der Nase und schwar­ze ge­strick­te Puls­wär­mer an den Hän­den.

»Sind ir­gend­wel­che Brie­fe für J.E. an­ge­langt?« frag­te ich, mir ein Herz fas­send.

Sie blick­te mich über ihre Bril­le for­schend an; dann öff­ne­te sie eine Schieb­la­de und wühl­te so lan­ge zwi­schen dem In­halt der­sel­ben um­her, dass mei­ne Hoff­nung zu schwin­den be­gann. End­lich, nach­dem sie ein Do­ku­ment min­des­tens fünf Mi­nu­ten lang vor ihre Au­genglä­ser ge­hal­ten hat­te, reich­te sie es mir durch den Post­schal­ter hin, in­dem sie die­se Tat zu­gleich mit ei­nem zwei­ten fra­gen­den und miss­traui­schen Bli­cke be­trach­te­te – – der Brief war an J.E. adres­siert.

»Ist nur ein ein­zi­ger da?« frag­te ich.

»Es sind kei­ne wei­te­ren da«, sag­te sie; ich schob ihn in die Ta­sche und mach­te mich auf den Nach­hau­se­weg. Jetzt konn­te ich ihn nicht öff­nen; die Haus­re­gel ver­pflich­te­te mich, um acht Uhr zu­rück zu sein, und es war be­reits halb acht.

Bei mei­ner Heim­kehr harr­te mei­ner die Er­fül­lung ver­schie­de­ner Pf­lich­ten; ich hat­te die Mäd­chen wäh­rend ih­rer Ar­beits­stun­de zu über­wa­chen; dann war an mir die Rei­he, das Ge­bet zu le­sen; dar­auf zu se­hen, dass die Schü­le­rin­nen schla­fen gin­gen – und dann nahm ich das Abendes­sen mit den an­de­ren Leh­re­rin­nen ein. Selbst als wir uns end­lich für die Nacht zu­rück­zo­gen, war die un­ver­meid­li­che Miss Gry­ce noch mei­ne Ge­fähr­tin. Die Ker­ze in un­se­rem Leuch­ter war fast her­ab­ge­brannt – und ich fürch­te­te, dass Miss Gry­ce spre­chen wür­de, bis das Licht ver­lö­schen wür­de; glück­li­cher­wei­se übte aber das sub­stan­ti­el­le Mahl, wel­ches sie zu sich ge­nom­men, eine ein­schlä­fern­de Wir­kung. Sie schnarch­te be­reits, als ich mich noch nicht ent­klei­det hat­te. Noch war ein Zoll­lang Ker­ze vor­han­den – ich zog mei­nen Brief her­vor, – das Sie­gel trug den An­fangs­buch­sta­ben F – ich er­brach es, der In­halt war kurz.

»Wenn J.E., wel­che am letz­ten Don­ners­tag eine An­non­ce in den …s­hi­re He­rald rücken ließ, die auf­ge­zähl­ten Fä­hig­kei­ten be­sitzt und wenn sie in der Lage ist, ge­nü­gen­de Re­fe­ren­zen über Cha­rak­ter und Wir­kungs­kreis ge­ben zu kön­nen, so wird ihr eine Stel­lung ge­bo­ten, wo der Ge­halt sich auf drei­ßig Pfund Ster­ling im Jahr be­läuft, und sie nur ein klei­nes Mäd­chen un­ter zehn Jah­ren zu un­ter­rich­ten hat. – J.E. wird ge­be­ten, Re­fe­ren­zen, Na­men, Adres­se und al­les Nä­he­re ein­zu­sen­den un­ter der Adres­se:

Mrs. Fair­fax, Thorn­field bei Mill­co­te – …s­hi­re

Lan­ge prüf­te ich das Schrift­stück; die Hand­schrift war alt­mo­disch und ziem­lich un­si­cher, wie die ei­ner al­ten Frau. Dies war ein be­ru­hi­gen­der Um­stand, denn eine heim­li­che Furcht hat­te mich ge­quält, dass ich durch die­ses ei­gen­mäch­ti­ge Han­deln, ohne ir­gend ei­nes Men­schen Rat ein­ge­holt zu ha­ben, ins Un­heil ge­ra­ten wür­de; und vor al­len Din­gen wünsch­te ich doch auch, dass das Re­sul­tat mei­ner Be­mü­hun­gen an­stän­dig pas­send, mit ei­nem Wor­te en règle sein sol­le. Jetzt fühl­te ich, dass eine äl­te­re Dame durch­aus kei­ne schlech­te In­gre­di­enz für die Sa­che sei, wel­che ich so selbst­stän­dig in die Hand ge­nom­men. Mrs. Fair­fax! Ich sah sie in ei­nem schwar­zen Klei­de und in der Wit­wen­hau­be; viel­leicht et­was steif – aber nicht un­höf­lich: ein Mus­ter der ält­li­chen, eng­li­schen Re­spek­ta­bi­li­tät. Thorn­field! das war ohne Zwei­fel der Name ih­rer Be­sit­zung, ge­wiss ein sau­be­res, or­dent­li­ches Fleck­chen Erde; ob­gleich es mir trotz der größ­ten An­stren­gung nicht ge­lang mir ein kor­rek­tes Bild des gan­zen Grund­stücks zu ma­chen. Mill­co­te, …s­hi­re! ich frisch­te mei­ne Erin­ne­rung an die Kar­te von Eng­land auf; ja, da la­gen sie vor mir, die Graf­schaft so­wohl wie die Stadt …s­hi­re war Lon­don um sieb­zig Mei­len nä­her, als die ent­le­ge­ne Graf­schaft, in wel­cher ich jetzt leb­te: das war schon eine große Emp­feh­lung in mei­nen Au­gen. Ich sehn­te mich dort­hin, wo Le­ben und Be­we­gung war; Mill­co­te war eine große Fa­brik­stadt am Ufer des A… ge­le­gen, ein ge­schäf­ti­ger Ort ohne Zwei­fel; de­sto bes­ser, das wür­de we­nigs­tens eine gründ­li­che Ver­än­de­rung sein. Nicht dass mei­ne Fan­ta­sie etwa bei dem Ge­dan­ken an hohe Fa­brik­schorn­stei­ne und Rauch­wol­ken in Ex­ta­se ge­ra­ten wäre – »aber« fol­ger­te ich wei­ter, »Thorn­field liegt wahr­schein­lich eine gute Stre­cke Wegs von der Stadt ent­fernt.«

Hier er­losch die Ker­ze; voll­stän­di­ge Dun­kel­heit herrsch­te, – ich schlief ein.

Am fol­gen­den Tage muss­ten neue Schrit­te ge­tan wer­den. Mei­ne Plä­ne konn­ten nicht län­ger in der ei­ge­nen Brust ver­schlos­sen blei­ben; um sie ih­rer Aus­füh­rung nä­her zu brin­gen, muss­te ich Mit­tei­lung von ih­nen ma­chen. Nach­dem ich bei der Vor­ste­he­rin des In­sti­tuts eine Au­di­enz nach­ge­sucht und er­hal­ten hat­te, teil­te ich ihr wäh­rend der Mit­tags-Er­ho­lungs­stun­de mit, dass ich Aus­sicht auf eine neue Stel­lung habe, in wel­cher der Ge­halt das Dop­pel­te von dem be­tra­gen wür­de, den ich jetzt er­hielt, – in Lo­wood gab man mir nur fünf­zehn Pfund Ster­ling jähr­lich – und bat sie, die An­ge­le­gen­heit für mich bei Mr. Brock­le­hurst oder ir­gend ei­nem an­de­ren Mit­glie­de des Ko­mi­tees zur Spra­che zu brin­gen und sich ver­ge­wis­sern zu wol­len, ob die­se Her­ren ge­son­nen sei­en, Aus­kunft über mich zu ge­ben. Sehr ver­bind­lich wil­lig­te sie ein, in die­ser Sa­che als Ver­mitt­le­rin auf­tre­ten zu wol­len. Am nächs­ten Tage trug sie Mr. Brock­le­hurst die An­ge­le­gen­heit vor; die­ser er­wi­der­te, dass man an Mrs. Reed schrei­ben müs­se, da die­se mei­ne na­tür­li­che Vor­mün­de­rin sei. In­fol­ge­des­sen ging eine No­tiz an die­se Dame ab, auf wel­che sie ant­wor­te­te, dass ich ganz nach ei­ge­nem Er­mes­sen han­deln kön­ne, da sie längst jede Ein­mi­schung in mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten auf­ge­ge­ben habe. Die­ser Brief mach­te die Run­de bei dem Ko­mi­tee, und nach lan­ger, wie es mir schi­en, sehr un­nö­ti­ger Ver­zö­ge­rung, er­hielt ich die Er­laub­nis, mei­ne Stel­lung zu ver­bes­sern, wenn die Ge­le­gen­heit sich dazu böte. Die­ser Ein­wil­li­gung folg­te die Ver­si­che­rung, dass man mir, da ich so­wohl als Leh­re­rin wie als Schü­le­rin mir die voll­stän­di­ge Zufrie­den­heit der Leh­re­rin­nen in Lo­wood er­wor­ben, un­ver­züg­lich ein Zeug­nis über Cha­rak­ter wie über Fä­hig­kei­ten, das von al­len In­spek­to­ren der An­stalt un­ter­zeich­net, zu­stel­len wür­de.

Nach un­ge­fähr ei­ner Wo­che er­hielt ich dem­zu­fol­ge das Zeug­nis, schick­te eine Ab­schrift des­sel­ben an Mrs. Fair­fax, und er­hielt die Ant­wort die­ser Dame, wel­che be­sag­te, dass sie zu­frie­den sei und mich bin­nen vier­zehn Ta­gen in ih­rem Hau­se er­war­te, wo ich den Pos­ten als Gou­ver­nan­te an­tre­ten kön­ne.

Jetzt war ich mit mei­nen Vor­be­rei­tun­gen be­schäf­tigt; die vier­zehn Tage gin­gen schnell da­hin. Ich hat­te kei­ne große Gar­de­ro­be, ob­gleich sie mei­nen Be­dürf­nis­sen voll­kom­men ge­nüg­te. Der letz­te Tag ge­nüg­te, um mei­nen Kof­fer zu pa­cken – den­sel­ben, wel­chen ich be­reits vor acht Jah­ren von Ga­tes­head ge­bracht hat­te.

Die Kis­te wur­de ge­schnürt, die Adres­se hin­auf­ge­na­gelt. Nach ei­ner hal­b­en Stun­de soll­te der Bote kom­men, um sie nach Low­ton mit­zu­neh­men, wo­hin ich selbst mich am fol­gen­den Mor­gen in frü­her Stun­de be­ge­ben soll­te, um mit der Post wei­ter zu fah­ren. Ich hat­te mein schwarz­wol­le­nes Rei­se­kleid sorg­sam aus­ge­bürs­tet, mei­nen Hut, Muff und mei­ne Hand­schu­he zu­recht ge­legt; in al­len Schieb­la­den nach­ge­sucht, da­mit nichts zu­rück­b­lie­be und jetzt, da ich nichts mehr zu tun hat­te, setz­te ich mich und ver­such­te mich aus­zu­ru­hen. Doch das war un­mög­lich; ob­gleich ich wäh­rend des gan­zen Ta­ges auf den Fü­ßen ge­we­sen, konn­te ich jetzt doch nicht einen Au­gen­blick Ruhe fin­den; ich war zu hef­tig er­regt. Heu­te Abend schloss eine Pha­se mei­nes Le­bens ab; mor­gen be­gann eine an­de­re; un­mög­lich in der Zwi­schen­zeit zu schla­fen. Fie­ber­haft muss­te ich wa­chen, wäh­rend der Über­gang sich voll­zog.

»Miss«, sag­te ein Mäd­chen, wel­ches mich in dem Kor­ri­dor, wo ich wie ein ge­ängs­tig­ter, ru­he­lo­ser Geist auf- und ab­ging, auf­such­te, »un­ten ist eine Per­son, die mit Ih­nen spre­chen möch­te.«

»Ohne Zwei­fel der Bote«, dach­te ich und lief ohne wei­te­re Fra­ge die Trep­pe hin­un­ter. Ich ging an dem hin­tern Sa­lon oder Wohn­zim­mer der Leh­re­rin­nen vor­bei, des­sen Tür halb ge­öff­net war, um in die Kü­che zu ge­hen, als je­mand aus dem Zim­mer ge­stürzt kam.

»Sie ist’s, wahr­haf­tig sie ist’s! – Über­all hät­te ich sie wie­der­er­kannt!« rief die Ge­stalt, die mich in mei­nem Lau­fe auf­hielt und mei­ne Hand er­griff.

Ich blick­te auf. Vor mir stand eine Frau, ge­klei­det wie eine herr­schaft­li­che Die­ne­rin, ma­tro­nen­haft, aber den­noch jung; sie war hübsch, schwar­zes Haar, dunkle Au­gen, fri­sche Ge­sichts­far­be.

»Nun, wer ist’s wohl?« frag­te sie mit ei­nem Lä­cheln und ei­ner Stim­me, die ich halb und halb er­kann­te; »aber Miss Jane, ich hof­fe doch, dass Sie mich nicht ganz ver­ges­sen ha­ben?«

Nach ei­ner hal­b­en Mi­nu­te um­arm­te und küss­te ich sie voll Ent­zücken: »Bes­sie! Bes­sie! Bes­sie!« wei­ter konn­te ich nichts her­vor­brin­gen; sie hin­ge­gen lach­te bald, bald wein­te sie; dann gin­gen wir zu­sam­men ins Wohn­zim­mer. Am Ka­min­feu­er stand ein klei­ner Bur­sche von un­ge­fähr drei Jah­ren in schot­ti­schem Rock und Ho­sen.

»Das ist mein klei­ner Jun­ge«, sag­te Bes­sie schnell.

»Du bist also ver­hei­ra­tet, Bes­sie?«

»Ja. Seit bei­na­he fünf Jah­ren mit Ro­bert Lea­ven, dem Kut­scher; au­ßer dem Bob­by dort habe ich noch ein klei­nes Mäd­chen, das Jane ge­tauft ist.«

»Und du wohnst nicht mehr in Ga­tes­head?«

»Ich woh­ne in der Pfört­ner­lo­ge; der alte Por­tier ist fort.«

»Nun, und wie geht es al­len dort? Du musst mir al­les er­zäh­len, Bes­sie; aber nimm erst Platz; und du, Bob­by, komm zu mir und set­ze dich auf mei­nen Schoß, willst du?« aber Bob­by zog es vor, sich ne­ben sei­ne Mama zu stel­len.

»Sie sind nicht sehr groß ge­wor­den, Miss Jane, und auch nicht sehr stark«, fuhr Mrs. Lea­ven fort. »Ver­mut­lich hat man Sie hier in der Schu­le nicht all­zu gut ge­hal­ten. Miss Reed ist min­des­tens einen Kopf grö­ßer als Sie, und Miss Ge­or­gia­na ist ge­wiss zwei­mal so breit.«

»Ge­or­gia­na ist wohl sehr hübsch ge­wor­den, Bes­sie?«

»Sehr hübsch. Im vo­ri­gen Win­ter ist sie mit ih­rer Mama in Lon­don ge­we­sen und dort hat je­der­mann sie be­wun­dert; ein jun­ger Lord hat sich in sie ver­liebt; aber sei­ne Ver­wand­ten wa­ren ge­gen die Hei­rat; und – was glau­ben Sie wohl? – er und Miss Ge­or­gia­na ver­ab­re­de­ten, mit­ein­an­der da­von zu lau­fen. Aber es kam an den Tag und sie wur­den auf­ge­hal­ten. Miss Reed hat die Sa­che ent­deckt. Ich glau­be, sie war nei­disch. Und jetzt le­ben sie und ihre Schwes­ter wie Hund und Kat­ze mit­ein­an­der; sie zan­ken und strei­ten un­auf­hör­lich.«

»Nun, und was ist aus John Reed ge­wor­den?«

»Ach, er führt sich nicht so brav auf, wie sei­ne Mut­ter es wohl wün­schen könn­te. Er war auf der Uni­ver­si­tät und wur­de fort­ge­jagt; dann woll­ten sei­ne On­kel, dass er Ad­vo­kat wer­den und die Rech­te stu­die­ren soll­te. Aber er ist ein so leicht­sin­ni­ger jun­ger Mensch, ich glau­be, dass nie­mals viel aus ihm wer­den wird.«

»Wie sieht er aus?«

»Er ist sehr schlank. Ei­ni­ge Leu­te fin­den, dass er ein schö­ner jun­ger Mann ist. Aber er hat so di­cke, auf­ge­wor­fe­ne Lip­pen.«

»Und Mrs. Reed?«

»Die gnä­di­ge Frau sieht im Ge­sicht dick und wohl ge­nug aus, aber ich glau­be nicht, dass sie sich im Ge­müt wohl fühlt. Mr. Johns Be­tra­gen ge­fällt ihr nicht – er braucht sehr, sehr viel Geld.«

»Hat sie dich her­ge­schickt, Bes­sie?«

»Nein, in der Tat; aber ich habe schon so lan­ge ge­wünscht, Sie zu se­hen, und als ich hör­te, dass ein Brief von Ih­nen ge­kom­men sei, und dass Sie in eine an­de­re Ge­gend des Lan­des ge­hen woll­ten, dach­te ich mir, dass ich mich auf die Rei­se ma­chen müs­se, um Sie noch ein­mal zu se­hen, be­vor Sie ganz au­ßer mei­nem Be­reich wä­ren.«

»Und ich fürch­te, Bes­sie, du siehst dich in dei­nen Er­war­tun­gen ge­täuscht.« Dies sag­te ich wohl la­chend, aber ich hat­te be­merkt, dass Bes­sies Bli­cke, wenn sie auch ach­tungs­voll wa­ren, in kei­ner Wei­se Be­wun­de­rung aus­drück­ten.

»Nein, Miss Jane, das nicht ge­ra­de; Sie se­hen sehr fein aus; Sie se­hen aus wie eine Dame, und mehr habe ich ei­gent­lich nie von Ih­nen er­war­tet. Als Kind wa­ren Sie auch kei­ne Schön­heit.«

Ich muss­te über Bes­sies of­fen­her­zi­ge Ant­wort lä­cheln. Ich fühl­te, dass sie tref­fend war, aber ich muss ge­ste­hen, dass ich doch nicht ganz un­emp­find­lich ge­gen ih­ren In­halt war. Mit acht­zehn Jah­ren wün­schen die meis­ten Men­schen zu ge­fal­len, und die Über­zeu­gung, dass ihr Äu­ße­res nicht ge­eig­net ist, ih­nen die Er­fül­lung die­ses Wun­sches zu ver­schaf­fen, bringt al­les an­de­re als Freu­dig­keit her­vor.

»Aber ich ver­mu­te, dass Sie sehr ge­lehrt sind«, fuhr Bes­sie, wie um mich zu trös­ten fort. »Was kön­nen Sie denn al­les? Kön­nen Sie Kla­vier spie­len?«

»Ein we­nig.«

Im Zim­mer stand ein In­stru­ment; Bes­sie ging hin und öff­ne­te es; dann bat sie mich, ihr ein Stück vor­zu­spie­len. Ich gab ihr ein paar Wal­zer zum bes­ten und sie war ent­zückt.

»Die bei­den Miss Reeds kön­nen nicht so gut spie­len!« sag­te sie tri­um­phie­rend. »Ich habe ja im­mer ge­sagt, dass Sie sie im Ler­nen über­tref­fen wür­den. Kön­nen Sie auch zeich­nen?«

»Dort über dem Ka­min hängt eine von mei­nen Zeich­nun­gen.« Es war eine Land­schaft in Was­ser­far­ben, wel­che ich der Vor­ste­he­rin aus Dank­bar­keit für ihre lie­bens­wür­di­ge Ver­mit­te­lung bei dem Ko­mi­tee ge­schenkt hat­te, und die sie un­ter Glas und Rah­men hat­te brin­gen las­sen.

»Aber das ist wirk­lich schön, Miss Jane! Der Zei­chen­leh­rer der Miss Reeds könn­te es auch nicht schö­ner ge­malt ha­ben; von den jun­gen Da­men selbst will ich schon gar nicht re­den. De­nen könn­te es bald je­mand nach­ma­chen. Ha­ben Sie auch Fran­zö­sisch ge­lernt?«

»Ja, Bes­sie; ich kann es le­sen und auch spre­chen.«

»Und kön­nen Sie auch sti­cken und nä­hen?«

»Ge­wiss, das kann ich.«

»O, Sie sind ja eine gan­ze Dame ge­wor­den, Miss Jane! Das habe ich mir im­mer ge­dacht. Ih­nen wird es im­mer gut ge­hen, ob Ihre Ver­wand­ten sich um Sie küm­mern oder nicht. Ich woll­te Sie noch um et­was be­fra­gen. – Ha­ben Sie je­mals von den Ver­wand­ten Ihres Va­ters, den Ey­res et­was ge­hört?«

»Nein, in mei­nem gan­zen Le­ben nicht.«

»Nun, Sie wis­sen ja, Mrs. Reed hat im­mer ge­sagt, dass sie arm und ganz ge­mein wä­ren; mög­lich, dass sie arm sind, aber ganz ge­wiss sind sie eben­so fein wie die Reeds selbst; denn ei­nes Ta­ges vor bei­na­he sie­ben Jah­ren kam ein Mr. Eyre nach Ga­tes­head und wünsch­te Sie zu se­hen. Mrs. Reed sag­te, dass Sie fünf­zig Mei­len weit in ei­ner Schu­le sei­en; er schi­en sehr ent­täuscht, denn er konn­te nicht blei­ben; er woll­te auf eine Rei­se in ein frem­des Land ge­hen, und das Schiff soll­te schon in zwei, drei Ta­gen von Lon­don ab­ge­hen. Er sah aus wie ein Gent­le­man, und ich glau­be, dass er Ihres Va­ters Bru­der war.«

»Nach wel­chem frem­den Lan­de ging er, Bes­sie?«

»Nach ei­ner In­sel, die vie­le tau­send Mei­len ent­fernt ist, wo sie Wein ma­chen – der Kel­ler­meis­ter hat mir das ge­sagt.«

»Nach Ma­dei­ra ver­mut­lich?«

»Ja, ja, das war’s, so hieß sie.«

»Und dann ging er wie­der fort?«

»Ja. Er blieb nicht vie­le Mi­nu­ten im Hau­se. Mrs. Reed war sehr von oben her­ab mit ihm. Nach­her sag­te sie von ihm, er sei ein ›arm­se­li­ger Han­dels­mann‹. Mein Ro­bert glaubt, dass er ein Wein­händ­ler war.«

»Sehr wahr­schein­lich«, ent­geg­ne­te ich, »oder viel­leicht der Com­mis oder der Agent ei­nes Wein­händ­lers.«

Noch eine gan­ze Stun­de lang spra­chen Bes­sie und ich von al­ten Zei­ten, und dann war sie ge­zwun­gen, mich zu ver­las­sen. Als ich am nächs­ten Mor­gen in Low­ton auf die Post­kut­sche war­te­te, sah ich sie noch für ei­ni­ge Mi­nu­ten wie­der. Schließ­lich trenn­ten wir uns vor der Tür des »Wap­pens von Brock­le­hurst« da­selbst; jede zog dann ihre Stra­ße; sie be­gab sich auf den Gip­fel des Lo­wood-Fel­sens, wo der Wa­gen vor­über kam, der sie nach Ga­tes­head zu­rück­füh­ren soll­te; ich be­stieg das Ge­fährt, das mich in die un­be­kann­te Ge­gend von Mill­co­te brach­te, ei­nem neu­en Le­ben und neu­en Pf­lich­ten ent­ge­gen.

Jane Eyre

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