Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 12

Viertes Kapitel

Оглавление

Aus mei­ner Un­ter­re­dung mit Mr. Lloyd und der so­eben wie­der­hol­ten Kon­fe­renz zwi­schen Ab­bot und Bes­sie schöpf­te ich Hoff­nung ge­nug, um den Wunsch nach Ge­ne­sung zu he­gen; eine Ver­än­de­rung schi­en be­vor­ste­hend – ich wünsch­te und war­te­te im Stil­len. Die Sa­che ver­zö­ger­te sich in­des­sen. Tage und Wo­chen ver­gin­gen; mein Ge­sund­heits­zu­stand war wie­der ein nor­ma­ler, aber ich ver­nahm kei­ne An­spie­lung mehr auf den Ge­gen­stand, über wel­chen ich brü­te­te. Oft be­trach­te­te Mrs. Reed mich mit stren­gen, fins­te­ren Bli­cken, aber nur sel­ten sprach sie zu mir. Seit mei­ner Krank­heit hat­te sie eine schär­fe­re Grenz­li­nie denn je zwi­schen mir und ih­ren ei­ge­nen Kin­dern ge­zo­gen; mir war eine klei­ne Kam­mer als Schlaf­ge­mach an­ge­wie­sen wor­den; man hat­te mich ver­dammt, mei­ne Mahl­zei­ten al­lein ein­zu­neh­men, und ich muss­te al­lein in der Kin­der­stu­be ver­wei­len, wäh­rend mei­ne Vet­tern und Cou­si­nen sich stets im Wohn­zim­mer auf­hiel­ten. In­des­sen fiel noch im­mer kein Wink über den Plan, mich in ein Er­zie­hungs­in­sti­tut zu schi­cken; und doch heg­te ich die in­stink­ti­ve Ge­wiss­heit, dass sie mich nicht mehr lan­ge un­ter ih­rem Da­che dul­den wür­de; denn mehr als je drück­te ihr Blick, wenn er auf mich fiel, einen un­über­wind­li­chen und ein­ge­wur­zel­ten Ab­scheu aus.

Eli­za und Ge­or­gia­na han­del­ten au­gen­schein­lich nach In­struk­tio­nen, in­dem sie so we­nig wie mög­lich mit mir spra­chen; John streck­te die Zun­ge aus so­bald er mich er­blick­te und ver­such­te so­gar ein­mal mich zu züch­ti­gen; da ich mich aber au­gen­blick­lich ge­gen ihn wand­te und er in mei­nen Bli­cken die­sel­be Wut wahr­nahm, in wel­cher ich mich schon ein­mal ge­gen ihn auf­ge­lehnt hat­te, hielt er es für bes­ser, ab­zu­las­sen und un­ter lau­ten Ver­wün­schun­gen da­von zu lau­fen, wäh­rend er schrie, ich habe ihm das Na­sen­bein zer­trüm­mert. Al­ler­dings hat­te ich nach die­sem her­vor­ra­gends­ten Ge­sichts­zu­ge einen Schlag ge­führt, so hef­tig wie mei­ne Knö­chel ihn aus­zu­tei­len ver­moch­ten; und als ich sah, dass ent­we­der die­ser Schlag oder mei­ne Bli­cke ihn ein­ge­schüch­tert hat­ten, spür­te ich die größ­te Nei­gung, mei­nen Vor­teil noch wei­ter aus­zu­beu­ten; er war in­des­sen schon zu sei­ner Mut­ter ge­lau­fen. Ich hör­te, wie er mit stam­meln­den Lau­ten eine Ge­schich­te be­gann »wie die­se ab­scheu­li­che Jane Eyre« ei­ner wil­den Kat­ze gleich auf ihn ge­sprun­gen sei; mit stren­ger Stim­me un­ter­brach ihn sei­ne Mut­ter.

»Sprich mir nicht von ihr, John; ich habe dir ge­sagt, dass du ihr nicht zu nahe kom­men sollst; sie ist nicht ein­mal dei­ner Be­ach­tung wert; ich will nicht, dass du oder eine dei­ner Schwes­tern mit ihr et­was zu tun ha­ben.«

In die­sem Au­gen­blick lehn­te ich mich über das Trep­pen­ge­län­der und schrie plötz­lich ohne im ge­rings­ten über mei­ne Wor­te nach­zu­den­ken:

»Sie sind nicht wert, mit mir zu ver­keh­ren.«

Mrs. Reed war eine ziem­lich star­ke Frau; als sie in­des­sen die­se selt­sa­men und fre­chen Wor­te ver­nahm, kam sie ganz leicht­fü­ßig die Trep­pe her­auf ge­lau­fen, zog mich mit Win­desei­le in die Kin­der­stu­be und in­dem sie mich an die Sei­te mei­nes klei­nen Bet­tes drück­te, ver­bot sie mir mit pa­the­ti­scher Stim­me, mich von die­ser Stel­le fort­zu­rüh­ren und wäh­rend des gan­zen Ta­ges auch nur noch ein ein­zi­ges Wort zu spre­chen.

»Was wür­de On­kel Reed jetzt sa­gen, wenn er noch leb­te?« war mei­ne fast wil­len­los ge­ta­ne Fra­ge. Ich sage, »fast wil­len­los«, denn es war, als sprä­che mei­ne Zun­ge die­se Wor­te aus, ohne dass mein Wil­le dar­um wuss­te. – Es sprach et­was aus mir, wor­über ich kei­ne Ge­walt hat­te.

»Was?« zisch­te Mrs. Reed fast un­hör­bar; in ih­rem sonst so kal­ten, ru­hi­gen, grau­en Auge blitz­te et­was auf, das der Furcht glich; sie ließ mei­nen Arm los und blick­te mich an, als wis­se sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teu­fel sei. Jetzt fass­te ich Mut.

»Mein On­kel Reed ist im Him­mel und kann al­les se­hen, was Sie tun und sa­gen; und mein Va­ter und mei­ne Mut­ter auch; sie wis­sen, dass Sie mich den gan­zen Tag ein­sper­ren und dass Sie nur wün­schen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed war schnell wie­der ge­fasst; sie schüt­tel­te mich hef­tig, sie ohr­feig­te mich aus al­len Kräf­ten und ver­ließ mich dann ohne eine Sil­be zu spre­chen. Bes­sie füll­te die­se Lücke aus, in­dem sie mir eine stun­den­lan­ge Straf­pre­digt hielt, in wel­cher sie mir ohne je­den Zwei­fel be­wies, dass ich das elen­des­te und pflicht­ver­ges­sens­te Kind sei, das je­mals un­ter ei­nem Da­che er­zo­gen wor­den. Halb und halb glaub­te ich ihr; denn ich emp­fand selbst, wie in die­sem Au­gen­blick nur böse Ge­füh­le in mei­ner Brust tob­ten.

No­vem­ber, De­zem­ber und die Hälf­te des Ja­nu­ar gin­gen vor­über. Das Weih­nachts­fest und Neu­jahr wa­ren in Ga­tes­head in der üb­li­chen fröh­li­chen Wei­se ge­fei­ert wor­den; Ge­schen­ke wa­ren nach al­len Sei­ten hin aus­ge­teilt und Mit­tag- und Abend­ge­sell­schaf­ten ge­ge­ben. Von je­der Fei­er und Fest­lich­keit war ich na­tür­lich aus­ge­schlos­sen; mein An­teil an die­sen be­stand dar­in, dass ich täg­lich mit an­se­hen muss­te, wie Eli­za und Ge­or­gia­na auf das schöns­te her­aus­ge­putzt in ih­ren zar­ten Mus­lin­klei­dern und ro­sen­ro­ten Schär­pen, mit sorg­sam ge­lock­tem Haar, in den Sa­lon hin­ab­gin­gen; und spä­ter horch­te ich dann auf die Töne des Kla­viers oder der Har­fe, die zu mir her­auf dran­gen; hör­te, wie der Kel­ler­meis­ter und die Die­ner hin und her lie­fen, wie die Tel­ler klap­per­ten und die Glä­ser klan­gen, wäh­rend die Er­fri­schun­gen um­her ge­reicht wur­den; und wenn die Tü­ren des Sa­lons ge­öff­net und wie­der ge­schlos­sen wur­den, dran­gen so­gar ab­ge­bro­che­ne Sät­ze der Kon­ver­sa­ti­on an mein Ohr. Wenn ich des Lau­schens müde ge­wor­den, ver­ließ ich mei­nen Pos­ten auf dem Trep­pen­ab­satz und ging in die stil­le, ein­sa­me Kin­der­stu­be zu­rück; dort, wenn ich auch trau­rig war, fühl­te ich mich we­nigs­tens nicht elend. Of­fen ge­stan­den, heg­te ich nicht das lei­ses­te Ver­lan­gen, in Ge­sell­schaft zu ge­hen, denn in der Ge­sell­schaft schenk­te mir sel­ten ir­gend­je­mand Be­ach­tung; und wenn Bes­sie nur ein we­nig lie­bens­wür­dig und freund­lich ge­we­sen wäre, so hät­te ich es für eine Be­vor­zu­gung an­ge­se­hen, die Aben­de ru­hig mit ihr an­statt un­ter den ge­fürch­te­ten Au­gen von Mrs. Reed, in ei­nem Krei­se von mir un­sym­pa­thi­schen Her­ren und Da­men zu­brin­gen zu dür­fen. Aber so­bald Bes­sie ihre jun­gen Da­men an­ge­klei­det hat­te, pfleg­te sie sich in die leb­haf­te­ren Re­gio­nen der Kü­che und des Zim­mers der Haus­häl­te­rin hin­un­ter zu be­ge­ben und ge­wöhn­lich auch noch die Lam­pe mit fort­zu­neh­men. Dann saß ich da mit mei­ner Pup­pe im Arm, bis das Feu­er her­ab­ge­brannt war, und blick­te zu­wei­len ängst­lich um­her, um mich zu ver­ge­wis­sern, dass sich nichts schlim­me­res als ich selbst in dem düs­te­ren Zim­mer be­fand; wenn sich dann nur noch ein Häuf­chen glü­hend ro­ter Asche auf dem Ros­te be­fand, ent­klei­de­te ich mich has­tig, riss und zerr­te aus al­len Kräf­ten an den Bän­dern und Knöp­fen mei­ner Rö­cke und such­te in mei­nem Bett­chen Schutz vor der Käl­te und der Dun­kel­heit. In die­ses Bett­chen nahm ich auch stets mei­ne Pup­pe mit; je­des mensch­li­che We­sen muss et­was lie­ben, und da mir je­der an­de­re Ge­gen­stand für mei­ne Lie­be fehl­te, fand ich mei­ne Glück­se­lig­keit dar­in, ein farb­lo­ses, ver­blass­tes Ge­bil­de zu lie­ben, das noch häss­li­cher als eine Mi­nia­tur-Vo­gel­scheu­che war. In der Erin­ne­rung scheint es mir jetzt un­be­greif­lich, dass ich mit so al­ber­ner Zärt­lich­keit an die­sem klei­nen Spiel­zeug hän­gen konn­te; oft bil­de­te ich mir ein, dass es le­ben­dig sei und mit mir emp­fin­den könn­te. Ich konn­te nicht schla­fen, wenn ich es nicht in die Fal­ten mei­nes Nacht­hemd­chens gehüllt hat­te, und wenn es dort si­cher und warm lag, fühl­te ich mich ver­hält­nis­mä­ßig glück­lich, weil ich glaub­te, dass es eben­falls glück­lich sein müs­se.

Wie lang schie­nen mir die Stun­den, wenn ich auf das Fort­ge­hen der Ge­sell­schaft war­te­te und auf den Wie­der­hall von Bes­sies Trit­ten auf der Trep­pe horch­te. – Zu­wei­len kam sie auch in der Zwi­schen­zeit her­auf, um ih­ren Fin­ger­hut und ihre Sche­re zu su­chen oder mir ir­gend et­was zum Abend­brot, viel­leicht einen Kä­se­ku­chen oder ein Milch­brot her­auf zu brin­gen; dann pfleg­te sie auf der Bett­kan­te zu sit­zen, wäh­rend ich aß, und wenn ich fer­tig war, wi­ckel­te sie mich fest in die De­cken und küss­te mich zwei­mal und sag­te: »Gute Nacht, Miss Jane.« Wenn Bes­sie so sanft war, er­schi­en sie mir wie das bes­te, hüb­sche­s­te, freund­lichs­te Ge­schöpf auf der Welt; und dann wünsch­te ich so in­nig, dass sie stets so fröh­lich und lie­bens­wert sein und mich nie­mals wie­der um­her­sto­ßen oder schel­ten oder mich un­ge­recht be­schul­di­gen möch­te, wie es doch meis­tens ihre Ge­wohn­heit war. Ich glau­be, dass Bes­sie Lee ein Mäd­chen mit gu­ten na­tür­li­chen An­la­gen ge­we­sen sein muss, denn in al­lem, was sie tat, war sie flink und ge­schickt, au­ßer­dem hat­te sie ein wun­der­sa­mes Er­zäh­lungs­ta­lent oder we­nigs­tens schi­en mir es so nach dem Ein­druck, wel­chen ihre Kin­der­stu­ben­ge­schich­ten auf mich mach­ten. Auch war sie hübsch, wenn wei­ter die Erin­ne­rung an ihre Ge­stalt und ihr Ge­sicht mich nicht täuscht. Sie steht vor mir wie ein schlan­kes, jun­ges Weib mit schwar­zem Haar, dunklen Au­gen, sehr hüb­schen Zü­gen und ei­ner kla­ren, ge­sun­den Ge­sichts­far­be; aber sie war von hef­ti­gem und lau­nen­haf­tem Tem­pe­ra­ment und sehr un­aus­ge­gli­che­nen Be­grif­fen von Ge­rech­tig­keit und Grund­sät­zen – und doch, wie und was sie auch sein moch­te, sie war mir lie­ber, als ir­gend ein an­de­res le­ben­des We­sen in Ga­tes­head-Hall.

Es war am 15. Ja­nu­ar, un­ge­fähr ge­gen neun Uhr mor­gens. Bes­sie war zum Früh­stück hin­un­ter­ge­gan­gen; mei­ne Cou­si­nen wa­ren noch nicht zu ih­rer Mama ge­ru­fen wor­den; Eli­za zog ge­ra­de ih­ren war­men Gar­ten­man­tel an und setz­te ih­ren Hut auf, um hin­un­ter­zu­ge­hen und ihr Ge­flü­gel zu füt­tern – eine Be­schäf­ti­gung, wel­che sie sehr lieb­te – und eben­so­viel Ver­gnü­gen mach­te es ihr, der Haus­häl­te­rin ihre Eier zu ver­kau­fen und das Geld, wel­ches sie auf sol­che Wei­se er­lang­te, zu­sam­men zu spa­ren. Sie hat­te viel Sinn für den Han­del und einen aus­ge­spro­che­nen Hang zur Spar­sam­keit; dies zeig­te sich nicht al­lein im Ver­kau­fen von Hüh­nern und Ei­ern, son­dern auch in schar­fem Han­deln mit dem Gärt­ner um Blu­men­pflan­zen, Sa­men und jun­ge Schöß­lin­ge; die­ser Funk­tio­när hat­te von Mrs. Reed den stren­gen Be­fehl er­hal­ten, der jun­gen Her­rin alle Pro­duk­te ih­res klei­nen Gar­tens, wel­che sie etwa zu ver­kau­fen wünsch­te, ab­zu­kau­fen – und Eli­za wür­de je­des ein­zel­ne Haar von ih­rem Kop­fe ver­kauft ha­ben, wenn sie einen nam­haf­ten Pro­fit da­bei er­zielt hät­te! An­fäng­lich hat­te sie ihr Geld in al­len mög­li­chen Win­keln und Ecken, in al­tes Lo­cken­pa­pier oder in Lum­pen ge­wi­ckelt, ver­steckt; aber als ei­ni­ge die­ser auf­ge­spei­cher­ten Schät­ze von dem Stu­ben­mäd­chen ent­deckt wor­den, wil­lig­te Eli­za, wel­che fürch­te­te, ei­nes Ta­ges ihr gan­zes Hab und Gut zu ver­lie­ren, dar­ein, es ih­rer Mut­ter ge­gen un­er­hör­te Wu­cher­zin­sen – fünf­zig oder sech­zig Pro­zent – an­zu­ver­trau­en. Die­se Zin­sen trieb sie re­gel­mä­ßig je­des Vier­tel­jahr ein und führ­te mit ängst­li­cher Sorg­falt in ei­nem klei­nen No­tiz­bu­che hier­über Rech­nung.

Ge­or­gia­na saß auf ei­nem hoch­bei­ni­gen Stuhl und ord­ne­te ihr Haar vor dem Spie­gel; in ihre Lo­cken flocht sie künst­li­che Blu­men und ver­bli­che­ne Fe­dern, von de­nen sie einen gan­zen Vor­rat in ei­ner Kis­te auf der Bo­den­kam­mer ge­fun­den hat­te. Ich brach­te mein Bett in Ord­nung, denn Bes­sie hat­te mir den strik­ten Be­fehl er­teilt, da­mit fer­tig zu sein, be­vor sie zu­rück­kom­men wür­de; sie be­nutz­te mich jetzt häu­fig wie eine Art von zwei­tem Stu­ben­mäd­chen, um das Zim­mer auf­zuräu­men, den Staub von den Mö­beln zu wi­schen u.s.w. – Nach­dem ich die Bett­de­cke aus­ge­brei­tet und mein Nacht­kleid zu­sam­men­ge­fal­tet hat­te, ging ich an das Fens­ter­brett, um ei­ni­ge Bil­der­bü­cher und Mö­bel aus der Pup­pen­stu­be, wel­che dort um­her­la­gen, fort­zuräu­men; aber ein lau­ter Be­fehl Ge­or­gia­nas, ihre Spiel­sa­chen nicht an­zu­rüh­ren (denn die Li­li­put-Stüh­le und Spie­gel, die Feen-Tel­ler und Tas­sen wa­ren ihr Ei­gen­tum) ge­bot mei­nem Tun Ein­halt. In Er­man­ge­lung je­der an­de­ren Be­schäf­ti­gung fing ich jetzt an, auf die Eis­blu­men, wel­che die Käl­te auf die Fens­ter­schei­ben ge­zau­bert hat­te, zu hau­chen, und mir so eine klei­ne Öff­nung auf dem Gla­se zu ver­schaf­fen durch wel­che ich in den Gar­ten bli­cken konn­te, wo der har­te Frost al­les ge­tö­tet und ver­stei­nert hat­te.

Durch die­ses Fens­ter war die Loge des Por­tiers und die Fahr­stra­ße sicht­bar und ge­ra­de als ich so viel von dem sil­ber­wei­ßen Laub­ge­win­de, das die Schei­ben ver­schlei­er­te, fort­ge­haucht hat­te, um hin­aus­bli­cken zu kön­nen, sah ich, dass die Pfor­ten ge­öff­net wur­den und ein Wa­gen durch das Tor roll­te. Mit größ­ter Gleich­gül­tig­keit ver­folg­te ich ihn, wie er vor das Haus roll­te: es ka­men ja so oft Wa­gen nach Ga­tes­head, aber nie­mals brach­ten sie Be­su­cher, für die ich auch nur das ge­rings­te In­ter­es­se heg­te. Er hielt vor dem Hau­se, die Glo­cke wur­de hef­tig ge­zo­gen; der Be­su­cher er­hielt Ein­lass. Da die­ser gan­ze Vor­gang mich nicht küm­mer­te, fand mei­ne jetzt un­be­schäf­tig­te Auf­merk­sam­keit bald leb­haf­te­re An­zie­hungs­kraft in dem An­blick ei­nes klei­nen, hung­ri­gen Rot­kehl­chens, das sich pie­pend auf die ent­laub­ten Zwei­ge ei­nes Spa­lier­kir­schen­bau­mes nahe am Fens­ter setz­te. Die Über­res­te mei­nes Früh­stücks von Brot und Milch stan­den auf dem Ti­sche und nach­dem ich eine Sem­mel in Krü­mel zer­rie­ben hat­te, zog ich an dem Klapp­fens­ter, um die Bro­sa­men auf das Fens­ter­sims streu­en zu kön­nen, als Bes­sie atem­los in die Kin­der­stu­be stürz­te.

»Miss Jane, neh­men Sie Ihre Schür­ze ab; was ma­chen Sie da? Ha­ben Sie heu­te Mor­gen Ge­sicht und Hän­de schon ge­wa­schen?« – Be­vor ich ant­wor­te­te, zog ich noch ein­mal an der Fens­ter­klin­ke, denn ich woll­te dem Vo­gel gern sein klei­nes Mahl si­chern; die Klin­ke gab nach, ich streu­te die Bro­sa­men aus, ei­ni­ge auf das stei­ner­ne Ge­sim­se, an­de­re auf die Zwei­ge des Kirsch­bau­mes; dann erst schloss ich das Fens­ter und ent­geg­ne­te:

»Nein, Bes­sie, ich bin erst jetzt mit dem Auf­räu­men fer­tig ge­wor­den.«

»Un­ar­ti­ges, un­or­dent­li­ches Mäd­chen! Und was ma­chen Sie da jetzt? Sie se­hen so rot aus, als hät­ten Sie ir­gend ein Un­heil an­ge­rich­tet. Wes­halb ha­ben Sie das Fens­ter auf­ge­ris­sen?«

Die Ant­wort blieb mir er­spart, denn Bes­sie schi­en zu große Eile zu ha­ben, um mei­nen Er­klä­run­gen Ge­hör schen­ken zu kön­nen; sie zerr­te mich an den Wasch­tisch, un­ter­warf mei­ne Hän­de und mein Ge­sicht ei­ner er­bar­mungs­lo­sen aber glück­li­cher­wei­se kur­z­en Wa­schung mit Sei­fe, Was­ser und ei­nem gro­ben Hand­tuch; ord­ne­te mei­nen Kopf mit ei­ner schar­fen Bürs­te, ent­klei­de­te mich mei­ner Schür­ze und riss mich dann schnell an die Trep­pe, wo sie mir ge­bot, ei­lig hin­un­ter zu ge­hen, da man mich im Früh­stücks­zim­mer er­war­te.

Ich hät­te gern ge­wusst, wer mich er­war­te­te; gern hät­te ich ge­fragt, ob Mrs. Reed dort sei; aber Bes­sie war schon wie­der da­von ge­lau­fen und hat­te die Kin­der­stu­ben­tür hin­ter sich ge­schlos­sen. Lang­sam stieg ich die Trep­pe hin­un­ter. Seit fast drei Mo­na­ten hat­te Mrs. Reed mich nicht mehr ru­fen las­sen; seit die­ser Zeit war ich auf die Kin­der­stu­be an­ge­wie­sen ge­we­sen, und das Früh­stücks­zim­mer, der Spei­se­saal und der Sa­lon wa­ren für mich Re­gio­nen ge­wor­den, die ich nur mit Schre­cken und Angst be­tre­ten konn­te.

Ich stand jetzt in der lee­ren Hal­le; vor mir war die Tür des Früh­stücks­zim­mers, zit­ternd und furcht­sam hielt ich inne. Welch einen elen­den klei­nen Feig­ling hat­te die Furcht vor un­ge­rech­ter Be­stra­fung in je­nen Ta­gen aus mir ge­macht! Ich fürch­te­te mich, in die Kin­der­stu­be zu­rück­zu­ge­hen; ich fürch­te­te mich, in das Wohn­zim­mer ein­zu­tre­ten! Zehn Mi­nu­ten stand ich ängst­lich zö­gernd da; das hef­ti­ge Klin­geln der Glo­cke im Früh­stücks­zim­mer ent­schied: ich muss­te ein­tre­ten.

»Wer konn­te nach mir ver­lan­gen?« frag­te ich mich, als ich mit bei­den Hän­den die Tür­klin­ke er­fass­te, wel­che meh­re­re Se­kun­den mei­nen An­stren­gun­gen wi­der­stand. »Wen wür­de ich noch au­ßer Tan­te Reed in dem Zim­mer er­bli­cken? – Ei­nen Mann oder eine Frau?« – Die Klin­ke gab nach, die Tür sprang auf, ich trat ein, mach­te einen tie­fen Knix, blick­te auf und sah – einen schwar­zen Pfei­ler! – Als ein sol­cher er­schi­en mir we­nigs­tens auf den ers­ten Blick die lan­ge, schma­le, schwarz­ge­klei­de­te Ge­stalt, wel­che ker­zen­ge­ra­de vor dem Ka­min stand: das erns­te Ge­sicht, wel­ches die­sel­be krön­te, sah aus wie eine ge­schnitz­te Mas­ke, die als Ka­pi­täl auf die Säu­le ge­stellt war.

Mrs. Reed hat­te ih­ren ge­wöhn­li­chen Platz ne­ben dem Ka­min inne. Sie mach­te mir ein Zei­chen, nä­her zu tre­ten. Ich tat es und sie stell­te mich dem stei­ner­nen Frem­den mit den Wor­ten vor: »Dies ist das klei­ne Mäd­chen, um des­sent­wil­len ich mich an Sie wand­te.«

Er, denn es war ein Mann, wand­te den Kopf lang­sam nach der Sei­te, auf wel­cher ich stand, und nach­dem er mich mit zwei neu­gie­ri­gen, un­ter ei­nem Paar bu­schi­ger Au­gen­brau­en fun­keln­den Au­gen ge­prüft hat­te, sag­te er fei­er­lich mit ei­ner tie­fen Stim­me: »Sie ist klein von Ge­stalt, wie alt ist sie?«

»Zehn Jah­re.«

»So alt?« lau­te­te die zwei­feln­de Ant­wort, und dann fuhr er noch ei­ni­ge Mi­nu­ten fort, mich schwei­gend zu prü­fen. Da­rauf re­de­te er mich an:

»Ihr Name, klei­nes Mäd­chen?«

»Jane Eyre, mein Herr.«

Als ich die­se Wor­te aus­sprach, blick­te ich auf; er er­schi­en mir wie ein großer Mann, aber ich war ja so klein; sei­ne Züge wa­ren groß und wie alle üb­ri­gen Li­ni­en sei­ner Ge­stalt hart und scharf.

»Nun, Jane Eyre, sind Sie ein gu­tes Kind?«

Un­mög­lich, die­se Fra­ge be­ja­hend zu be­ant­wor­ten; die klei­ne Welt, die mich um­gab, war an­de­rer Mei­nung – ich schwieg. Mrs. Reed ant­wor­te­te für mich mit ei­nem aus­drucks­vol­len Schüt­teln des Kop­fes, gleich dar­auf füg­te sie hin­zu: »Je we­ni­ger man über die­sen Punkt spricht, Mr. Brock­le­hurst, de­sto bes­ser.«

»Tut mir in der Tat leid zu hö­ren! sie und ich müs­sen ein we­nig mit­ein­an­der re­den«, da­mit brach­te er sich aus der per­pen­di­ku­lä­ren Stel­lung und in­stal­lier­te sei­ne Per­son in dem Lehn­stuhl, wel­cher Mrs. Reed ge­gen­über stand. »Kom­men Sie hier­her«, sag­te er.

Ich ging über den Ka­min­tep­pich; er stell­te mich ge­ra­de und auf­recht vor sich. Welch ein Ge­sicht hat­te er, jetzt wo es sich in glei­cher Li­nie mit dem mei­nen be­fand! welch eine un­ge­heu­re Nase! und welch ein Mund! wel­che großen, her­vor­ste­hen­den Zäh­ne!

»Es gibt kei­nen schreck­li­che­ren An­blick, als den ei­nes un­ar­ti­gen Kin­des«, be­gann er, »be­son­ders ei­nes un­ar­ti­gen klei­nen Mäd­chens! Wis­sen Sie, wo­hin die Gott­lo­sen kom­men, wenn sie ge­stor­ben sind?«

»Sie kom­men in die Höl­le«, lau­te­te mei­ne schnel­le und or­tho­do­xe Ant­wort.

»Und was ist die Höl­le? Kön­nen Sie mir das eben­falls sa­gen?«

»Eine Gru­be voll Feu­er.«

»Und möch­ten Sie wohl in die­se Gru­be hin­ein­fal­len und dort für ewig bren­nen?«

»Nein, Sir.«

»Was müs­sen Sie denn tun, um das zu ver­mei­den?«

Ei­nen Au­gen­blick über­leg­te ich mei­ne Ant­wort; als sie kam, war ge­wiss viel ge­gen sie ein­zu­wen­den: »ich muss ge­sund blei­ben und nicht ster­ben.«

»Wie kön­nen Sie denn ge­sund blei­ben? Täg­lich ster­ben Kin­der, die jün­ger sind, als Sie. Erst vor zwei oder drei Ta­gen habe ich ein klei­nes Kind von fünf Jah­ren be­gra­ben – ein gu­tes Kind, des­sen See­le jetzt im Him­mel ist. Es steht zu be­fürch­ten, dass man das­sel­be nicht von Ih­nen sa­gen könn­te, wenn Sie aus die­sem Le­ben ab­be­ru­fen wür­den.«

Da ich nicht in der Lage war, sei­ne Zwei­fel zu be­he­ben, schlug ich nur die Au­gen nie­der und ließ sie auf den bei­den un­ge­heu­er­li­chen Fü­ßen ru­hen, die sich in den Ka­min­tep­pich ein­ge­gra­ben hat­ten. Dann seufz­te ich tief auf. Ich wünsch­te mich weit, weit fort.

»Ich hof­fe, dass die­ser Seuf­zer aus der Tie­fe Ihres Her­zens kommt und dass Sie be­dau­ern, die Quel­le so vie­ler Unan­nehm­lich­kei­ten für Ihre aus­ge­zeich­ne­te Wohl­tä­te­rin ge­we­sen zu sein.«

»Wohl­tä­te­rin! Wohl­tä­te­rin!« wie­der­hol­te ich in­ner­lich. »Je­der­mann nennt Mrs. Reed eine Wohl­tä­te­rin; wenn sie das war, so ist eine Wohl­tä­te­rin eine sehr un­an­ge­neh­me Sa­che.«

»Spre­chen Sie abends und mor­gens Ihr Ge­bet?« fuhr mein Exa­mi­na­tor fort.

»Ja, Sir.«

»Le­sen Sie Ihre Bi­bel?«

»Zu­wei­len.«

»Mit Freu­de? Lie­ben Sie Ihre Bi­bel?«

»Ich lie­be die Of­fen­ba­rung, und das Buch Da­niel und Ge­ne­sis und Sa­mu­el, und ein we­nig vom Buch der Pre­di­ger und einen Teil der Kö­ni­ge und der Chro­nik, und Hiob und Ruth.«

»Und die Psal­men? Ich hof­fe, Sie lie­ben sie auch?«

»Nein, Sir.«

»Nein? o, ent­setz­lich! Ich habe einen klei­nen Kna­ben, viel jün­ger als Sie, der sechs Psal­men aus­wen­dig weiß. Und wenn Sie ihn fra­gen, ob er lie­ber eine Pfef­fer­nuss zum es­sen, oder einen Vers aus den Psal­men zum aus­wen­dig ler­nen ha­ben möch­te, so sagt er: ›O, den Vers aus den Psal­men! Die En­gel sin­gen ja Psal­men‹, sagt er, ›ich möch­te schon hier auf Er­den ein klei­ner En­gel sein‹, und dann be­kommt er zum Lohn für sei­ne kind­li­che Fröm­mig­keit zwei Pfef­fer­nüs­se.«

»Psal­men sind nicht in­ter­essant«, be­merk­te ich.

»Das be­weist, dass Sie ein bös­ar­ti­ges Herz ha­ben und Sie müs­sen Gott bit­ten, dass er Ih­nen ein bes­se­res gibt, ein neu­es, ein rei­nes; dass er Ih­nen Ihr Herz von Stein nimmt und Ih­nen ein Herz von Fleisch gibt.«

Ich war ge­ra­de im Be­griff, eine Fra­ge in Be­zug auf die Art und Wei­se zu tun, wie die Ope­ra­ti­on, mir ein neu­es Herz ein­zu­set­zen, vor sich ge­hen sol­le, als Mrs. Reed mich un­ter­brach, in­dem sie mir ge­bot, mich zu set­zen, dann fuhr sie fort, selbst die Un­ter­hal­tung zu füh­ren.

»Mr. Brock­le­hurst, ich glau­be, dass ich in dem Brie­fe, wel­chen ich Ih­nen vor un­ge­fähr drei Wo­chen schrieb, schon an­ge­deu­tet habe, dass die­ses klei­ne Mäd­chen nicht ganz den Cha­rak­ter und die Ei­gen­schaf­ten hat, wel­che mir wün­schens­wert er­schei­nen. Wenn Sie sie in die Schu­le von Lo­wood auf­neh­men soll­ten, so wür­de ich Ih­nen dank­bar sein, wenn Sie die Vor­ste­he­rin und die Leh­rer er­su­chen woll­ten, ein schar­fes Auge auf sie zu ha­ben und vor al­len Din­gen, ih­rem schlimms­ten Feh­ler, einen Hang zur Lüge und Ver­stel­lung, ent­ge­gen zu ar­bei­ten. Ich er­wäh­ne die­ser Sa­che in dei­ner Ge­gen­wart, Jane, da­mit du nicht ver­suchst, auch Mr. Brock­le­hurst täu­schen zu wol­len.«

Wohl war ich be­rech­tigt, Mrs. Reed zu fürch­ten, eine tie­fe Ab­nei­gung ge­gen sie zu he­gen, denn es lag in ih­rer Na­tur, mich stets aufs grau­sams­te zu ver­let­zen. Nie­mals fühl­te ich mich glück­lich in ih­rer Ge­gen­wart; wie sorg­sam ich mich auch be­müh­te, ihr zu ge­fal­len, ihr aufs Wort zu ge­hor­chen – mei­ne An­stren­gun­gen wur­den stets nur durch sol­che Re­dens­ar­ten wie die obi­gen be­lohnt. Und jetzt schnitt die­se Be­schul­di­gung, vor ei­nem Frem­den aus­ge­spro­chen, mir tief ins Herz. Ich sah ge­nau, wie sie schon wie­der jeg­li­che Hoff­nung aus der neu­en Le­ben­s­pha­se, in wel­che ich ein­zu­tre­ten im Be­griff war, ver­bann­te; ich fühl­te, ob­gleich ich für die­se Emp­fin­dung kei­ne Aus­drucks­wei­se ge­fun­den hät­te, dass sie be­müht war, Ab­nei­gung und Un­freund­lich­keit auf mei­nen künf­ti­gen Le­bens­pfad zu säen; ich sah, wie ich mich in Mr. Brock­le­hur­st’s Au­gen in ein ver­schla­ge­nes, ei­gen­sin­ni­ges Kind ver­wan­del­te; – und was konn­te ich tun, um die­sem ge­gen mich be­gan­ge­nen Un­recht ab­zu­hel­fen?

»Nichts, in der Tat!« dach­te ich, als ich kämpf­te, um ein Schluch­zen zu un­ter­drücken und has­tig ei­ni­ge Trä­nen, die ohn­mäch­ti­gen Be­wei­se mei­ner Her­zens­angst, ab­trock­ne­te.

»Ver­stel­lung ist in der Tat ein trau­ri­ger Cha­rak­ter­feh­ler bei ei­nem Kin­de«, sag­te Mr. Brock­le­hurst, »ein Feh­ler, wel­cher mit der Falsch­heit und Lü­gen­haf­tig­keit nahe ver­wandt ist und alle Lüg­ner wer­den ih­ren An­teil ha­ben an dem See, in wel­chem Pech und Schwe­fel bren­nen; sie soll in­des­sen sorg­sam be­wacht wer­den, Mrs. Reed; ich wer­de mit Miss Tem­ple und den Leh­rern und Leh­re­rin­nen spre­chen.«

»Ich wün­sche, dass sie in ei­ner Wei­se er­zo­gen wird, wel­che mit ih­ren Le­bens­aus­sich­ten über­ein­stimmt«, fuhr mei­ne Wohl­tä­te­rin fort, »sie soll sich nütz­lich ma­chen und de­mü­tig blei­ben. Die Fe­ri­en soll sie stets mit Ih­rer Er­laub­nis in Lo­wood blei­ben.«

»Ihre Be­stim­mun­gen, Ma­da­me, sind durch­aus ver­nünf­tig«, ent­geg­ne­te Mr. Brock­le­hurst. »Die De­mut ist ein Schmuck der Chris­ten und ei­ner, der ganz be­son­ders für die Schü­le­rin­nen von Lo­wood pas­send ist; ich gebe da­her die Wei­sung, dass ih­rer Pfle­ge eine be­son­de­re Sorg­falt ge­wid­met wird. Ich habe ein Stu­di­um dar­auf ver­wen­det, zu er­grün­den, wie das welt­li­che Ge­fühl des Stol­zes und des Hoch­muts am bes­ten in ih­nen zu er­sti­cken ist. Und vor we­ni­gen Ta­gen erst hat­te ich eine an­ge­neh­me Pro­be mei­ner Er­fol­ge. Mei­ne zwei­te Toch­ter, Au­gus­te, ging mit ih­rer Mama, um die Schu­le zu be­su­chen und bei ih­rer Rück­kehr rief sie aus: ›O mein teu­rer Papa, wie ru­hig und ein­fach all die Mäd­chen in Lo­wood aus­se­hen! Mit ih­rem Haar, das glatt hin­ter die Ohren ge­stri­chen ist und ih­ren lan­gen Schür­zen und den klei­nen Ta­schen, wel­che sie über ih­ren Klei­dern tra­gen – sie se­hen bei­na­he aus, wie die Kin­der ar­mer Leu­te! und‹, fuhr sie fort, ›sie starr­ten Ma­mas und mein Kleid an, als ob sie in ih­rem gan­zen Le­ben noch kein sei­de­nes Kleid ge­se­hen hät­ten.‹«

»Das ist eine Ein­rich­tung der Din­ge, wel­che mei­nen un­ge­teil­ten Bei­fall hat«, er­wi­der­te Mrs. Reed, »wenn ich ganz Eng­land durch­sucht hät­te, so wür­de ich kein Sys­tem ge­fun­den ha­ben, das für ein Kind, wie Jane Eyre es ist, so voll­kom­men ge­passt ha­ben wür­de. Kon­se­quenz und Fes­tig­keit, mein lie­ber Mr. Brock­le­hurst, ich be­für­wor­te Kon­se­quenz in al­len Din­gen!«

»Kon­se­quenz, Ma­da­me, ist die ers­te der christ­li­chen Pf­lich­ten, und sie wird in dem Eta­blis­se­ment von Lo­wood bei je­der An­ord­nung in ers­ter Li­nie be­rück­sich­tigt, ein­fa­che Kost, ein­fa­che Klei­dung, ein­fa­che Ein­rich­tun­gen, flei­ßi­ge Ge­wohn­hei­ten – das ist die Ta­ges­ord­nung für das Haus und sei­ne Be­woh­ner.«

»Ganz in der Ord­nung, Sir. Ich kann mich also dar­auf ver­las­sen, dass die­ses Kind als Schü­le­rin in Lo­wood auf­ge­nom­men und dort ih­rer Stel­lung und ih­ren Le­bens­aus­sich­ten an­ge­mes­sen er­zo­gen wird?«

»Ja, Ma­da­me, das kön­nen Sie. Sie soll an jene Pfle­ge­stät­te aus­er­le­se­ner Pflan­zen ver­setzt wer­den – und ich hof­fe, dass sie sich dank­bar zei­gen wird für das un­schätz­ba­re Pri­vi­le­gi­um, wel­ches ihr da­durch zu Teil wird.«

»Ich wer­de sie also so bald wie mög­lich schi­cken, Mr. Brock­le­hurst, denn ich ver­si­che­re Sie, ich hege das in­nigs­te Ver­lan­gen, so schnell wie ir­gend tun­lich von ei­ner Verant­wort­lich­keit be­freit zu wer­den, wel­che mir end­lich zu läs­tig ge­wor­den ist.«

»Ohne Zwei­fel, Ma­da­me, ohne Zwei­fel und jetzt will ich Ih­nen gu­ten Mor­gen wün­schen. In un­ge­fähr zwei bis drei Wo­chen wer­de ich nach Brock­le­hurst-Hall zu­rück­keh­ren; mein gu­ter Freund, der Erz­bi­schof, wird mir kaum er­lau­ben, ihn frü­her zu ver­las­sen. Üb­ri­gens wer­de ich Miss Tem­ple an­kün­di­gen, dass sie ein neu­es Mäd­chen zu er­war­ten hat, da­mit bei ih­rem Ein­tritt kei­ne Schwie­rig­kei­ten ent­ste­hen. Le­ben Sie wohl.«

»Le­ben Sie wohl, Mr. Brock­le­hurst; ma­chen Sie Mrs. und Miss Brock­le­hurst und Au­gus­ta und Theo­do­ra und Ihrem Sohn Broughton Brock­le­hurst mei­ne Emp­feh­lun­gen.«

»Das wer­de ich tun, Ma­da­me. Mein klei­nes Mäd­chen, hier ist ein Buch mit dem Ti­tel: ›Des Kin­des Füh­rer‹; le­sen Sie es mit Ge­be­ten, be­son­ders je­nen Teil, wel­cher von dem fürch­ter­li­chen, plötz­li­chen Tode Mar­ta G.s han­delt, ei­nem un­ar­ti­gen Kin­de, wel­ches der Falsch­heit und Lüge er­ge­ben war.«

Mit die­sen Wor­ten leg­te Mr. Brock­le­hurst ein Pam­phlet, wel­ches sorg­sam in einen Um­schlag ge­näht war, in mei­ne Hand; dann ließ er sei­nen Wa­gen vor­fah­ren und ent­fern­te sich.

Mrs. Reed und ich blie­ben al­lein; meh­re Mi­nu­ten ver­harr­ten wir im Schwei­gen; sie näh­te, ich be­ob­ach­te­te sie. Mrs. Reed moch­te zu je­ner Zeit un­ge­fähr sechs- oder sie­ben­und­drei­ßig Jah­re alt sein; sie war eine Frau von ro­bus­ter Ge­stalt, brei­ten Schul­tern und star­ken Kno­chen, nicht schlank und ob­gleich üp­pig, nicht zu fett. Sie hat­te ein ziem­lich großes Ge­sicht, der Un­ter­kie­fer war her­vor­tre­tend und stark ent­wi­ckelt; ihre Stirn war nied­rig, das Kinn breit, Mund und Nase wa­ren ziem­lich re­gel­mä­ßig; un­ter ih­ren farb­lo­sen Au­gen­brau­en blitz­te ein Auge, das we­nig Her­zens­gü­te ver­riet; ihre Haut war dun­kel und matt, das Haar flachs­blond; ihre Kon­sti­tu­ti­on war fest und ge­sund – eine Krank­heit nah­te sich ihr nie­mals. Sie war eine stren­ge, pünkt­li­che Haus­frau, der Haus­halt und die Die­ner­schaft stan­den voll­stän­dig un­ter ih­rer Kon­trol­le; nur ihre Kin­der trotz­ten zu­wei­len ih­rer Au­to­ri­tät und ver­lach­ten sie höh­nisch; sie klei­de­te sich hübsch und ver­stand es, eine schö­ne Toi­let­te mit An­stand zu tra­gen.

We­ni­ge Schrit­te von ih­rem Lehn­stuhl ent­fernt saß ich auf ei­nem nied­ri­gen Sche­mel und ließ mei­ne Bli­cke prü­fend auf ih­rer Fi­gur und ih­ren Ge­sichts­zü­gen ru­hen. In der Hand hielt ich das Trak­tät­chen, wel­ches von dem plötz­li­chen Tode der Lüg­ne­rin han­del­te; mei­ne Auf­merk­sam­keit war ganz be­son­ders auf die­se Er­zäh­lung ge­lenkt, weil sie eine pas­sen­de War­nung für mich ent­hal­ten soll­te. Noch war mei­ne See­le wund und schmerz­haft von dem, was so­eben ge­sche­hen war, was Mrs. Reed in Be­zug auf mich mit Mr. Brock­le­hurst ge­spro­chen, von dem gan­zen In­halt ih­res Ge­sprächs. Ich hat­te je­des Wort eben­so klar emp­fun­den wie ich es ge­hör­t, und das lei­den­schaft­lichs­te Ra­che­ge­fühl be­gann sich in mir zu re­gen.

Mrs. Reed blick­te von ih­rer Ar­beit auf; ihr Auge bohr­te sich in das mei­ne, ihre Fin­ger hiel­ten in ih­rer ge­schäf­ti­gen Be­we­gung inne.

»Ver­lass das Zim­mer! Geh wie­der in die Kin­der­stu­be zu­rück!« In mei­nem Bli­cke oder in mei­nen Be­we­gun­gen muss­te sie et­was her­aus­for­dern­des ge­se­hen ha­ben, denn sie sprach in hef­tigs­ter, wenn auch un­ter­drück­ter Be­we­gung. Ich stand auf; ich ging an die Tür; ich kam wie­der zu­rück; dann ging ich an das Fens­ter, durch das Zim­mer, dicht an ih­ren Lehn­stuhl.

Spre­chen muss­te ich, man hat­te mich zu schmerz­haft ver­letzt, ich muss­te mich auf­leh­nen, doch wie? Wel­che Mit­tel hat­te ich denn, um mei­ne Geg­ne­rin wirk­sam zu tref­fen? Ich fass­te mei­nen gan­zen Mut, mei­ne gan­ze Ener­gie zu­sam­men und schleu­der­te ihr fol­gen­de Wor­te ins Ge­sicht:

»Ich bin nicht falsch, nicht lüg­ne­risch, wäre ich es, so wür­de ich sa­gen, dass ich dich lie­be, aber ich er­klä­re dir, dass ich dich nicht lie­be, ich has­se dich mehr als ir­gend­je­man­den auf der gan­zen Welt, John Reed aus­ge­nom­men, und die­ses Buch hier mit der Ge­schich­te ei­ner Lüg­ne­rin, das kannst du dei­ner Toch­ter Ge­or­gia­na ge­ben, denn sie ist es, die dich und alle an­de­ren be­lügt, nicht ich.«

Mrs. Reeds Hän­de ruh­ten un­tä­tig auf ih­rer Ar­beit; ihr ei­si­ges Auge bohr­te sich er­star­rend in das mei­ne: »Hast du sonst noch et­was zu sa­gen?« frag­te sie mich in je­nem Tone, den man wohl Er­wach­se­nen ge­gen­über, nie­mals aber im Ge­spräch mit ei­nem Kin­de an­zu­wen­den pflegt.

Ihre Au­gen, ihre Stim­me wühl­ten all den Hass, der in mir leb­te, auf. Von Kopf bis zu Fuße be­bend, von ei­ner Er­re­gung ge­schüt­telt, de­ren ich nicht mehr Herr wer­den konn­te, fuhr ich fort:

»Ich bin glück­lich, dass Sie nicht mei­ne Bluts­ver­wand­te sind. Nie­mals, so lan­ge ich lebe, wer­de ich Sie wie­der Tan­te nen­nen. Nie­mals, selbst wenn ich er­wach­sen bin, wer­de ich kom­men, um Sie zu be­su­chen, und wenn ir­gend­je­mand mich fra­gen soll­te, ob ich Sie lie­be und wie Sie mich be­han­delt ha­ben, so wer­de ich ant­wor­ten, dass der Ge­dan­ke an Sie al­lein schon ge­nügt, um mich tod­krank zu ma­chen, und dass Sie mich mit elen­der Grau­sam­keit be­han­delt ha­ben.«

»Wie kannst du es wa­gen, Jane Eyre, das zu be­haup­ten?«

»Wie ich es wa­gen kann, Mrs. Reed? Wie ich es wa­gen kann? Weil es die Wahr­heit ist. Sie glau­ben, dass ich kein Ge­fühl habe, dass ich ohne die ge­rings­te Lie­be und Güte le­ben kann, aber so kann ich nicht le­ben – – und Sie ken­nen kein Mit­leid, kein Er­bar­men. Ich wer­de nie­mals ver­ges­sen, wie Sie mich hef­tig und rau in das rote Zim­mer zu­rück­s­tie­ßen und mich dann ein­schlos­sen – bis zu mei­ner Ster­be­stun­de wer­de ich es nicht ver­ges­sen. Ob­gleich die To­des­angst mich ver­zehr­te, ob­gleich ich vor Jam­mer und Ent­set­zen fast er­sti­ckend aus al­len Kräf­ten schrie und fleh­te: ›Hab Er­bar­men, Tan­te Reed! Hab Er­bar­men!‹ Und die­se Stra­fe lie­ßen Sie mich er­dul­den, weil Ihr bos­haf­ter, schlech­ter Sohn mich schlug – mich ohne Grund und Ur­sa­che zu Bo­den schlug. Und die­se Ge­schich­te – ge­ra­de so, wie ich sie jetzt er­zäh­le – wer­de ich je­dem er­zäh­len, der mich fragt. Die Leu­te glau­ben, dass Sie eine gute Frau sind, aber Sie sind schlecht! Sie sind hart­her­zig! Sie sind lüg­ne­risch und falsch!«

Ehe ich noch mit die­ser Ant­wort zu Ende war, be­gann ein selt­sam glück­se­li­ges Ge­fühl der Frei­heit, des Tri­um­phes sich mei­ner See­le zu be­mäch­ti­gen. So hat­te ich noch nie­mals emp­fun­den. Es war als wenn un­sicht­ba­re Fes­seln und Ban­de plötz­lich zer­ris­sen wä­ren, und ich mir end­lich den Weg zur un­ver­hoff­ten Frei­heit er­kämpft hät­te. Und die­ses Ge­fühl kam nicht ohne Ver­an­las­sung über mich, denn – Mrs. Reed schi­en er­schro­cken und furcht­sam; die Ar­beit war von ih­rem Scho­ße ge­fal­len, sie er­hob die Hän­de und wieg­te sich hin und her, ihr Ge­sicht ver­zerr­te sich, als wol­le sie an­fan­gen zu wei­nen.

»Jane, du irrst, du irrst dich, Kind! Was ist mit dir vor­ge­gan­gen? Wes­halb zit­terst du so hef­tig? Möch­test du einen Schluck Was­ser trin­ken?«

»Nein, Mrs. Reed.«

»Möch­test du ir­gend et­was an­de­res, Jane? Du kannst mir glau­ben, ich wün­sche nichts an­de­res, als dir eine Freun­din zu sein.«

»Nein, das ist nicht wahr. Sie ha­ben Mr. Brock­le­hurst ge­sagt, dass ich einen lüg­ne­ri­schen, bö­sen und falschen Cha­rak­ter habe. Aber ich wer­de je­dem Men­schen in Lo­wood er­zäh­len, was Sie sind, und was Sie ge­tan ha­ben! Das schwö­re ich Ih­nen.«

»Jane, du ver­stehst sol­che Din­ge nicht. Kin­der müs­sen von ih­ren Feh­lern ge­heilt wer­den.«

»Falsch­heit ist aber nicht mein Feh­ler!« schrie ich mit lau­ter, wil­der, gel­len­der Stim­me.

»Aber du bist lei­den­schaft­lich und hef­tig, Jane, das musst du zu­ge­ben. Und jetzt geh wie­der in die Kin­der­stu­be – so – das ist ein gu­tes, lie­bes Kind! – Geh und ruh dich ein we­nig aus.«

»Ich bin nicht Ihr gu­tes, lie­bes Kind! Ich kann mich nicht aus­ru­hen! Schi­cken Sie mich bald in die Er­zie­hungs­an­stalt, Mrs. Reed, denn das Le­ben hier ist mir un­er­träg­lich und ver­hasst ge­wor­den.«

»Wahr­haf­tig, ich will sie bald in die Schu­le schi­cken«, mur­mel­te Mrs. Reed, sot­to vo­ce. Dann raff­te sie ihre Ar­beit zu­sam­men und ver­ließ has­tig das Zim­mer.

Ich blieb nun al­lein, ich be­haup­te­te das Schlacht­feld. Es war der er­bit­terts­te Kampf, den ich je­mals ge­kämpft, und der ers­te Sieg, den ich je er­run­gen. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke stand ich vor dem Ka­min auf der­sel­ben Stel­le, wo Mr. Brock­le­hurst ge­stan­den, und ge­noss die Ein­sam­keit des Sie­ges! Zu­erst lä­chel­te ich still vor mich hin und fühl­te mich ge­ho­ben; aber die­se trot­zi­ge Freu­de schwand da­hin in dem­sel­ben Maße, wie das be­schleu­nig­te Tem­po mei­nes Puls­schlags nachließ. Ein Kind kann nicht mit äl­te­ren Leu­ten strei­ten, wie ich es ge­tan – kann sei­nen un­be­meis­ter­ten Ge­füh­len nicht un­ge­hin­dert Aus­druck ver­lei­hen, wie es so­eben von mir ge­sche­hen – ohne dass es nach­her die Qua­len der Ge­wis­sens­bis­se, den Schau­der der Re­ak­ti­on emp­fin­det. Ein Strei­fen bren­nen­den Hei­de­lan­des, glü­hend, to­bend, ver­zeh­rend – das wäre eine pas­sen­de Ver­bild­li­chung mei­nes Ge­müts ge­we­sen als ich Mrs. Reed an­klag­te und be­droh­te. Und das­sel­be Hei­de­land, schwarz und ver­sengt, nach­dem die Flam­men er­lo­schen, wür­de eben­so tref­fend mei­nen spä­te­ren Ge­müts­zu­stand ver­sinn­licht ha­ben, nach­dem die Ruhe und das Nach­den­ken ei­ner hal­b­en Stun­de mir den Wahn­sinn mei­nes Vor­ge­hens und die Trüb­se­lig­keit mei­ner ver­hass­ten Lage und has­sen­den Stim­mung vor Au­gen ge­führt hat­te.

Zum ers­ten Mal hat­te ich die Sü­ßig­keit der Ra­che emp­fun­den; aro­ma­ti­scher Wein dünk­te sie mich, der wäh­rend des Trin­kens süße und feu­rig ist; sein Nach­ge­schmack aber ist her­be und me­tal­lisch – so hat­te ich das Ge­fühl, als ob ich ver­gif­tet sei. Gern wäre ich ge­gan­gen, um Mrs. Reeds Ver­zei­hung zu er­bit­ten, aber ich wuss­te, teils aus Er­fah­rung, teils aus In­stinkt, dass sie mich dann nur mit dop­pel­ter Ver­ach­tung zu­rück­sto­ßen und da­durch je­des mei­ner Na­tur in­ne­woh­nen­de hef­ti­ge Ge­fühl aufs neue er­we­cken wür­de.

Gern hät­te ich eine an­de­re mir in­ne­woh­nen­de Fä­hig­keit ge­übt als die des hef­ti­gen, trot­zi­gen Spre­chens; gern hät­te ich Nah­rung für ein sanf­te­res Ge­fühl ge­fun­den, als das der fins­te­ren Em­pö­rung. Ich nahm ein Buch – es wa­ren ara­bi­sche Er­zäh­lun­gen; ich setz­te mich und war be­müht zu le­sen. Ich konn­te den Sinn des Gan­zen nicht ver­ste­hen; mei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken schweb­ten fort­wäh­rend zwi­schen mir und den Zei­len, die mich sonst stets ge­fes­selt hat­ten. Ich öff­ne­te die Glas­tür, wel­che aus dem Früh­stücks­zim­mer in den Gar­ten führ­te; die jun­gen An­pflan­zun­gen la­gen so still da; der düs­te­re Frost, we­der durch Son­ne noch Wind ge­stört, hat­te sein Reich im Gar­ten auf­ge­schla­gen. Ich be­deck­te mei­nen Kopf und mei­ne Arme mit dem Rock mei­nes Klei­des und ging hin­aus, um in ei­nem ab­ge­schie­de­nen Teil des Parks zu spa­zie­ren – aber ich fand kei­ne Freu­de an den stil­len, be­we­gungs­lo­sen Bäu­men, den her­ab­fal­len­den Tan­nen­zap­fen, den er­starr­ten Re­li­qui­en des Herbs­tes, den brau­nen, wel­ken Blät­tern, wel­che der Wind in Hau­fen zu­sam­men ge­fegt und der Frost be­we­gungs­los ge­macht hat­te. Ich lehn­te mich ge­gen eine Pfor­te und blick­te auf eine ein­sa­me Wei­de, auf wel­cher kei­ne Scha­fe mehr gras­ten, wo das kur­ze Gras ge­schwärzt und welk und trau­rig aus­sah. Es war ein sehr grau­er Tag; ein mat­ter Him­mel, der voll Schnee­wol­ken hing, wölb­te sich über die Land­schaft; dann und wann fie­len ei­ni­ge Schnee­flo­cken, die auf den hart­ge­fro­re­nen We­gen und Bü­schen und Bäu­men lie­gen blie­ben, ohne zu schmel­zen.

Da stand ich, ein un­glück­li­ches Kind und flüs­ter­te im­mer wie­der: »Was soll ich tun? – Was soll ich tun?«

Plötz­lich hör­te ich eine hel­le Stim­me ru­fen: »Miss Jane! Wo sind Sie? Kom­men Sie zum Ga­bel­früh­stück her­ein!«

Ich wuss­te sehr wohl, dass es Bes­sie sei, aber ich rühr­te mich nicht von der Stel­le; dann er­tön­te ihr leich­ter Schritt auf dem Gar­ten­we­ge.

»Sie un­ar­ti­ges, klei­nes Ding!« sag­te sie. »Wes­halb kom­men Sie nicht, wenn man Sie ruft?«

Bes­sies Ge­gen­wart war er­hei­ternd im Ver­gleich zu den düs­te­ren Ge­dan­ken, die mei­ne Ge­sell­schaft ge­we­sen, selbst dann, wenn sie, wie ge­wöhn­lich, et­was zor­nig war. Die Sa­che war näm­lich die, dass ich mir nach mei­nem Kon­flik­te mit Mrs. Reed und mei­nem Sieg über die­sel­be nur noch sehr we­nig aus dem vor­über­ge­hen­den Zorn des Kin­der­mäd­chens mach­te. Ich war viel­mehr ge­neigt, mich in ih­rer ju­gend­li­chen, be­nei­dens­wer­ten Leicht­her­zig­keit zu son­nen. So schlang ich denn mei­ne bei­den Arme um ih­ren Hals und sag­te schmei­chelnd: »Komm Bes­sie, schilt mich nicht!«

Die­se Be­we­gung war na­tür­li­cher und furcht­lo­ser als ir­gend eine, die ich mir bis jetzt er­laubt hat­te; sie muss­te auch dem Mäd­chen ge­fal­len.

»Sie sind ein son­der­ba­res Kind, Miss Jane«, sag­te sie, in­dem sie zu mir her­abblick­te, »ein klei­nes ru­he­lo­ses, ein­sa­mes Ding; also ver­mut­lich wird man Sie jetzt in die Schu­le schi­cken?«

Ich nick­te.

»Und wird es Ih­nen nicht schwer, Ihre arme Bes­sie zu ver­las­sen?«

»Was küm­mert Bes­sie sich um mich? Sie schilt mich ja im­mer nur.«

»Weil Sie ein so furcht­sa­mes, scheu­es, son­der­ba­res, klei­nes Ding sind. Sie soll­ten dreis­ter sein.«

»Was? Um noch mehr Schlä­ge zu be­kom­men?«

»Un­sinn! Aber es ist wahr, es wird hart mit Ih­nen um­ge­gan­gen. Als mei­ne Mut­ter mich vo­ri­ge Wo­che be­such­te, sag­te sie, dass sie keins von ih­ren klei­nen Kin­dern an Ih­rer Stel­le wis­sen möch­te. – Aber kom­men Sie jetzt nur her­ein, ich habe Ih­nen et­was an­ge­neh­mes zu er­zäh­len!«

»Ach nein, Bes­sie, das hast du nicht.«

»Kind! Was fällt Ih­nen denn ein? Mit welch trau­ri­gen Au­gen Sie mich an­se­hen! Nun, die gnä­di­ge Frau und die jun­gen Da­men und Mas­ter John fah­ren heu­te Nach­mit­tag zum Tee aus, und Sie sol­len mit mir Tee trin­ken. Ich wer­de die Kö­chin bit­ten, dass sie Ih­nen einen klei­nen Ku­chen backt, und spä­ter sol­len Sie mir hel­fen, Ihre Schrän­ke und Schieb­la­den durch­zu­se­hen; denn ich wer­de bald Ihren Kof­fer pa­cken müs­sen. Die gnä­di­ge Frau hat be­schlos­sen, dass Sie in ein bis zwei Ta­gen Ga­tes­head ver­las­sen sol­len; Sie dür­fen alle Spiel­sa­chen aus­su­chen, die Sie mit­neh­men möch­ten.«

»Bes­sie, du musst mir ver­spre­chen, mich nicht mehr zu schel­ten, so lan­ge ich noch hier bin.«

»Nun, das will ich Ih­nen ver­spre­chen! Aber nun müs­sen Sie auch ein gu­tes Kind sein und sich nicht mehr vor mir fürch­ten. Schre­cken Sie nicht im­mer gleich auf, wenn ich ein­mal ein biss­chen scharf spre­che, das ist so är­ger­lich!«

»Nein, ich glau­be nicht, dass ich mich je­mals wie­der vor dir fürch­ten wer­de, Bes­sie; ich habe mich jetzt an dich ge­wöhnt, und gar bald wer­den an­de­re Leu­te da sein, vor de­nen ich mich zu fürch­ten habe.«

»Wenn Sie sich vor ih­nen fürch­ten, so wer­den die Leu­te Sie nie­mals lieb ha­ben.«

»Wie du es tust, Bes­sie?«

»O, ich habe Sie lieb, Fräu­lein, ich glau­be, ich hal­te mehr von Ih­nen, als von all den an­de­ren!«

»Aber du zeigst es mir nicht.«

»Sie klu­ges, klei­nes Ding! Sie spre­chen mit ei­nem Male ganz an­ders. Was macht Sie denn so mu­tig, so wag­hal­sig?«

»Nun, ich wer­de ja bald weit von hier sein, und au­ßer­dem« – ich war im Be­griff et­was von dem zu sa­gen, was zwi­schen Mrs. Reed und mir vor­ge­fal­len war, aber bald fühl­te ich, dass es doch bes­ser sei, über die­sen Punkt Schwei­gen zu be­wah­ren.

»Sie sind also froh, mich zu ver­las­sen?«

»O ge­wiss nicht, Bes­sie; in der Tat, in die­sem Au­gen­blick tut es mir bei­na­he leid.«

»In die­sem Au­gen­blick! und ›bei­na­he!‹ Wie ru­hig die klei­ne Dame das sagt! Ich glau­be wahr­haf­tig, wenn ich Sie in die­sem Au­gen­blick um einen Kuss bäte, so wür­den Sie ihn mir nicht ge­ben. Sie wür­den dann sa­gen, bei­na­he lie­ber nicht.«

»Ich will dich küs­sen, und gern küs­sen; komm, bie­ge dei­nen Kopf zu mir her­un­ter.« Bes­sie neig­te sich, wir um­arm­ten uns, und ich folg­te ihr ganz ge­trös­tet ins Haus. Die­ser Nach­mit­tag ver­ging in Frie­den und Ein­tracht, und am Abend er­zähl­te Bes­sie mir ei­ni­ge ih­rer be­zau­bernds­ten Ge­schich­ten und sang mir ihre sü­ßes­ten Lie­der vor. So­gar auf mein Le­ben fiel dann und wann ein Son­nen­strahl.

Jane Eyre

Подняться наверх