Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 19

Elftes Kapitel

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Ein neu­es Ka­pi­tel in ei­nem Ro­man ist mit ei­nem neu­en Akt in ei­nem Schau­spiel zu ver­glei­chen; wenn ich den Vor­hang wie­der­um in die Höhe zie­he, lie­ber Le­ser, musst du dir vor­stel­len, dass du ein Zim­mer im »Ge­orgs Wirts­haus« in Mill­co­te siehst, mit so groß­blu­mi­gen Ta­pe­ten an den Wän­den, wie Gast­haus­zim­mer sie ge­wöhn­lich auf­wei­sen; mit dazu pas­sen­den Tep­pi­chen, Mö­beln, Nip­pes­fi­gu­ren auf dem Ka­min, Kup­fer­sti­chen, ei­nem Por­trät von Ge­org III., ei­nem zwei­ten des Prin­zen von Wa­les, und ei­ner Dar­stel­lung vom Tode des Ge­ne­ral Wol­fe. Und al­les dies siehst du bei dem Schein ei­ner Öl­lam­pe, wel­che von der De­cke her­ab­hängt, und dem ei­nes hel­len Ka­min­feu­ers, ne­ben wel­chem ich in Man­tel und Hut sit­ze; mein Muff und Re­gen­schirm lie­gen auf dem Ti­sche, und ich ver­su­che, mich an der Wär­me des Ofens von der Steif­heit und Be­täu­bung zu er­ho­len, wel­che eine sechs­zehn­stün­di­ge Rei­se in kal­tem Ok­to­ber­wet­ter bei mir her­vor­ge­ru­fen hat­te; um vier Uhr mor­gens hat­te ich Low­ton ver­las­sen und die Stadt­uhr von Mill­co­te schlug jetzt ge­ra­de die ach­te Stun­de.

Lie­ber Le­ser, wenn es auch den An­schein hat, als ob ich mich ganz be­hag­lich fühl­te, so be­fin­det mein Ge­müt sich doch durch­aus in kei­ner be­nei­dens­wer­ten Ver­fas­sung. Ich hat­te ge­hofft, hier bei An­kunft der Post­kut­sche je­man­den zu mei­nen Empfan­ge be­reit zu fin­den. Als ich die höl­zer­ne Trep­pe hin­ab­stieg, wel­che der Haus­knecht zu mei­ner grö­ße­ren Be­quem­lich­keit an den Wa­gen ge­stellt, blick­te ich ängst­lich um­her, in der Er­war­tung, mei­nen Na­men von ir­gend­je­man­dem aus­spre­chen zu hö­ren und einen Wa­gen zu er­bli­cken, wel­cher mei­ner harr­te, um mich nach Thorn­field zu brin­gen. Aber nichts der­ar­ti­ges war sicht­bar, und als ich den Kell­ner frag­te, ob je­mand da ge­we­sen, um sich nach Miss Eyre zu er­kun­di­gen, wur­de mei­ne Fra­ge ver­nei­nend be­ant­wor­tet. So blieb mir also nichts an­de­res üb­rig, als zu ver­lan­gen, dass man mir ein Pri­vat­zim­mer an­wei­se – und hier sit­ze ich nun, wäh­rend Furcht und Zwei­fel al­ler Art mei­ne See­le mar­tern.

Für die un­er­fah­re­ne Ju­gend ist es ein selt­sa­mes Ge­fühl, sich plötz­lich ganz al­lein in der Welt zu se­hen – von al­len Be­kann­ten ge­trennt – un­ge­wiss, ob sie in den Ha­fen, für wel­chen sie be­stimmt ist, ein­lau­fen kann und durch tau­send Schwie­rig­kei­ten ver­hin­dert, in den si­che­ren Port, aus wel­chem sie aus­ge­lau­fen, zu­rück­zu­keh­ren. Der Reiz der Neu­heit, die Freu­de am Aben­teu­er­li­chen ver­süßt dies Ge­fühl, das Be­wusst­sein der Selbst­stän­dig­keit er­wärmt es – aber die Emp­fin­dung der Furcht dämpft es – und kaum war eine hal­be Stun­de ver­gan­gen, in wel­cher ich noch im­mer al­lein war, so wur­de das Ge­fühl der Furcht durch­aus vor­herr­schend. Da fiel es mir ein, dem Kell­ner zu läu­ten.

»Ist hier in der Nähe ein Ort, wel­cher Thorn­field heißt?« frag­te ich den Auf­wär­ter, wel­cher auf mein Klin­geln er­schie­nen war.

»Thorn­field? Ich weiß nicht, Ma­da­me; ich wer­de mich in der Schenk­stu­be er­kun­di­gen.« Er ver­schwand, kam aber au­gen­blick­lich zu­rück:

»Ist Ihr Name Eyre, Miss?«

»Ja.«

»Es war­tet je­mand auf Sie.«

Ich sprang auf, griff nach Muff und Re­gen­schirm und eil­te in den Kor­ri­dor des Gast­hau­ses. Ein Mann stand in der of­fe­nen Tür und auf der von La­ter­nen er­hell­ten Stra­ße konn­te ich die Um­ris­se ei­nes ein­spän­ni­gen Ge­fährts un­ter­schei­den.

»Dies ist wohl Ihr Ge­päck?« sag­te der Mann in der Tür has­tig, als er mei­ner an­sich­tig wur­de, und zeig­te auf mei­nen Kof­fer, der im Gan­ge stand.

»Ja.« Er hiss­te ihn auf den Wa­gen, wel­cher eine Art von Kar­ren war, hin­auf, und dann stieg ich nach. Ehe er die Tür hin­ter mir zu­schlug, frag­te ich, wie weit es bis Thorn­field sei.

»Eine Sa­che von sechs Mei­len.«

»Und wie lan­ge fah­ren wir?«

»Vi­el­leicht an­dert­halb Stun­den!«

Er schloss die Wagen­tür, klet­ter­te auf sei­nen Sitz, und wir fuh­ren ab. Lang­sam ka­men wir vor­wärts, und ich hat­te reich­li­che Muße zum Nach­den­ken. Ich war zu­frie­den, dem End­ziel mei­ner Rei­se so nahe zu sein, und als ich mich in das be­que­me, wenn auch durch­aus nicht ele­gan­te Ge­fährt zu­rück­lehn­te, gab ich mich un­ge­stört mei­nen Ge­dan­ken hin.

»Nach der Ein­fach­heit und der An­spruchs­lo­sig­keit des Die­ners und des Wa­gens zu ur­tei­len, ist Mrs. Fair­fax kei­ne sehr ele­gan­te Per­son; umso bes­ser; ich habe nur ein­mal un­ter fei­nen Leu­ten ge­lebt und bei ih­nen habe ich mich sehr un­glück­lich ge­fühlt. Ich möch­te wis­sen, ob sie mit die­sem klei­nen Mäd­chen ganz al­lein lebt. Wenn das der Fall und sie auch nur ei­ni­ger­ma­ßen lie­bens­wür­dig ist, wer­de ich sehr gut mit ihr fer­tig wer­den. Ich wer­de mein Bes­tes tun. Aber wie scha­de, dass es nicht im­mer ge­nügt, sein Bes­tes zu tun. In Lo­wood al­ler­dings fass­te ich die­sen Ent­schluss, führ­te ihn aus, und es ge­lang mir, al­len zu ge­fal­len; aber bei Mrs. Reed er­in­ne­re ich mich, dass selbst mein Bes­tes im­mer nur Hohn und Ver­ach­tung her­vor­rief. Ich fle­he zu Gott, dass Mrs. Fair­fax kei­ne zwei­te Mrs. Reed sein möge. Wenn sie es aber ist, so brau­che ich nicht bei ihr zu blei­ben. Kommt das Schlimms­te zum Schlim­men, so kann ich ja im­mer noch wie­der eine An­non­ce in den He­rald rücken las­sen. – Wie weit wir jetzt wohl schon auf dem Wege sein mö­gen?«

Ich ließ das Fens­ter her­ab und blick­te hin­aus. Mill­co­te lag hin­ter uns; nach der An­zahl sei­ner Lich­ter schi­en es ein Ort von be­trächt­li­cher Grö­ße, viel grö­ßer als Low­ton. So weit ich es über­bli­cken konn­te, be­fan­den wir uns jetzt auf ei­ner Art Wei­de; aber über den gan­zen Distrikt la­gen Häu­ser zer­streut; ich fühl­te, dass wir uns in Re­gio­nen be­fan­den, wel­che sehr ver­schie­den von de­nen Lo­woods; sie wa­ren be­völ­ker­ter, aber we­ni­ger ma­le­risch; sehr be­lebt, aber we­ni­ger ro­man­tisch.

Die Stra­ßen wa­ren ko­tig, die Nacht war ne­be­lig; mein Kut­scher ließ sein Pferd fort­wäh­rend im Schritt ge­hen, und ich glau­be, dass aus den an­dert­halb Stun­den min­des­tens zwei wur­den. End­lich wand­te er sich um und sag­te:

»Jetzt sind wir nicht mehr weit von Thorn­field.«

Wie­der blick­te ich hin­aus; wir fuh­ren an ei­ner Kir­che vor­über; ich sah den nied­ri­gen, brei­ten Turm sich ge­gen den Him­mel ab­zeich­nen, sei­ne Glo­cken ver­kün­de­ten die Vier­tel­stun­de; dann sah ich auch eine schma­le Rei­he von Lich­tern auf ei­ner An­hö­he; es war ein Dorf oder ein Wei­ler. Nach un­ge­fähr zehn Mi­nu­ten stieg der Kut­scher ab und öff­ne­te eine Pfor­te; wir fuh­ren hin­durch und sie schlug hin­ter uns zu. Jetzt ka­men wir lang­sam über den großen Fahr­weg des Parks und fuh­ren an der lan­gen Front ei­nes Hau­ses ent­lang; aus ei­nem ver­häng­ten Bo­gen­fens­ter fiel ein Licht­schein; alle üb­ri­gen wa­ren dun­kel. Der Wa­gen hielt vor der Haus­tür. Eine Die­ne­rin öff­ne­te die­sel­be; ich stieg aus und ging hin­ein.

»Bit­te, die­sen Weg, Fräu­lein«, sag­te das Mäd­chen, und ich folg­te ihr durch eine vier­e­cki­ge Hal­le, in wel­che von al­len Sei­ten Tü­ren mün­de­ten. Sie führ­te mich in ein Zim­mer, des­sen dop­pel­te Il­lu­mi­na­ti­on durch Ker­zen und Ka­min­feu­er mich im ers­ten Au­gen­blick blen­de­te, denn sie kon­tras­tier­te zu stark mit der Dun­kel­heit, an wel­che mei­ne Au­gen sich wäh­rend der letz­ten Stun­den ge­wöhnt hat­ten. Als ich je­doch im­stan­de war, wie­der zu se­hen, bot sich mei­nen Bli­cken ein ge­müt­li­ches und an­ge­neh­mes Bild dar.

Ein hüb­sches, sau­be­res, klei­nes Zim­mer, ein runder Tisch an ei­nem lus­tig lo­dern­den Ka­min­feu­er; ein hoch­leh­ni­ger, alt­mo­di­scher Lehn­stuhl, in wel­chem die denk­bar zier­lichs­te, äl­te­re Dame saß. Sie trug eine Wit­wen­hau­be, ein schwar­zes Sei­den­kleid und eine schnee­wei­ße Mus­lin­schür­ze: ge­ra­de so wie ich mir Mrs. Fair­fax vor­ge­stellt hat­te, nur we­ni­ger statt­lich und viel mil­der und gü­ti­ger aus­se­hend. Sie war mit Stri­cken be­schäf­tigt; eine große Kat­ze lag schnur­rend zu ih­ren Fü­ßen, – kurz­um, nichts fehl­te, um das beau-idéal häus­li­chen Kom­forts zu ver­voll­stän­di­gen. Eine an­ge­neh­me­re In­tro­duk­ti­on für eine neue Gou­ver­nan­te ließ sich kaum den­ken; kei­ne Er­ha­ben­heit, die über­wäl­tig­te, kei­ne Herab­las­sung, die in Ver­le­gen­heit setz­te. Als ich ein­trat, er­hob die alte Dame sich und kam mir schnell und freund­lich ent­ge­gen.

»Wie geht es Ih­nen, mei­ne Lie­be? Ich fürch­te, dass Sie eine sehr lang­wei­li­ge Fahrt ge­habt ha­ben. John fährt so lang­sam; es muss Ih­nen aber kalt sein, kom­men Sie ans Feu­er.«

»Mrs. Fair­fax ver­mut­lich?« frag­te ich.

»Die bin ich. Bit­te, neh­men Sie Platz.«

Sie führ­te mich zu ih­rem ei­ge­nen Stuhl und dort be­gann sie, mir mei­nen Shawl ab­zu­neh­men und mei­ne Hut­bän­der zu lö­sen. Ich bat sie, sich mei­net­we­gen nicht so viel Um­stän­de zu ma­chen.

»O, das sind kei­ne Um­stän­de. Ihre ei­ge­nen Hän­de müs­sen vor Käl­te ja ganz er­starrt sein. Leah, be­rei­te ein we­nig hei­ßen Ne­gus und strei­che ein paar But­ter­bro­te; hier sind die Schlüs­sel zur Spei­se­kam­mer.«

Bei die­sen Wor­ten zog sie ein haus­fräu­li­ches Bund Schlüs­sel aus ih­rer Ta­sche und übergab es der Die­ne­rin.

»Und jetzt rücken Sie nä­her an das Feu­er«, fuhr sie fort. »Nicht wahr, mei­ne Lie­be, Sie ha­ben Ihr Ge­päck mit­ge­bracht?«

»Ja­wohl, Ma­da­me.«

»Ich wer­de da­für sor­gen, dass man es auf Ihr Zim­mer trägt«, sag­te sie und trip­pel­te ge­schäf­tig hin­aus.

»Sie be­han­delt mich wie einen Gast«, dach­te ich. »Solch einen Empfang habe ich wahr­lich nicht er­war­tet; ich sah nichts als Käl­te und Steif­heit vor­aus; dies gleicht we­nig den Er­zäh­lun­gen, die ich von der Be­hand­lung der Gou­ver­nan­ten ge­hört habe; – aber ich darf nicht zu früh ju­beln.«

Sie kehr­te zu­rück; mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den räum­te sie ih­ren Strick­strumpf­ap­pa­rat und meh­re Bü­cher vom Ti­sche, um Platz für das Spei­sen­brett zu ma­chen, wel­ches Leah jetzt brach­te, und dann reich­te sie selbst mir die Er­fri­schun­gen. Ich ward ein we­nig ver­wirrt, als ich mich in die­ser Wei­se zum Ge­gen­stand so zar­ter, un­ge­wohn­ter Auf­merk­sam­kei­ten ge­macht sah, und das noch oben­drein von mei­ner Bro­ther­rin; da sie selbst aber gar­nicht zu fin­den schi­en, dass sie et­was tat, was ihr nicht zu­kam, hielt ich es für das Bes­te, ihre Lie­bens­wür­dig­keit ru­hig hin­zu­neh­men.

»Wer­de ich das Ver­gnü­gen ha­ben, Miss Fair­fax noch heu­te Abend zu se­hen?« frag­te ich, nach­dem ich von dem ge­nos­sen hat­te, was sie mir vor­ge­setzt.

»Was sag­ten Sie, mei­ne Lie­be? Ich bin ein we­nig taub«, ent­geg­ne­te die gute Dame, in­dem sie ihr Ohr mei­nem Mun­de nä­her­te.

Deut­li­cher wie­der­hol­te ich die Fra­ge.

»Miss Fair­fax? O, Sie mei­nen Miss Va­rens! Va­rens ist der Name Ih­rer künf­ti­gen Schü­le­rin.«

»In der Tat? Dann ist sie also nicht Ihre Toch­ter?«

»Nein. – Ich habe kei­ne Fa­mi­lie.«

Ei­gent­lich hät­te ich mei­ner ers­ten Fra­ge noch ei­ni­ge an­de­re fol­gen las­sen sol­len und mich er­kun­di­gen, in wel­cher Wei­se Miss Va­rens denn mit ihr ver­wandt sei; aber ich er­in­ner­te mich glück­li­cher­wei­se noch zu rech­ter Zeit, dass es nicht höf­lich sei, so vie­le Fra­gen zu stel­len; über­dies wuss­te ich ja, dass ich mit der Zeit wohl al­les er­fah­ren wür­de.

»Ich bin so froh« – fuhr sie fort, als sie sich mir ge­gen­über setz­te und die Kat­ze auf ih­ren Schoß nahm, »ich bin so froh, dass Sie ge­kom­men sind. Jetzt wird das Le­ben hier mit ei­ner Ge­fähr­tin ganz an­ge­nehm sein. Nun, es ist auch wohl zu al­len Zei­ten an­ge­nehm, denn Thorn­field ist ein präch­ti­ger al­ter Her­ren­sitz; wäh­rend der letz­ten Jah­re ist es al­ler­dings ein we­nig ver­nach­läs­sigt wor­den, aber im­mer­hin ist es ein statt­li­cher Ort; aber Sie wis­sen wohl, selbst in dem schöns­ten Hau­se fühlt man sich zur Win­ters­zeit un­glück­lich, wenn man ganz al­lein ist. Ich sage al­lein – Leah ist ge­wiss ein lie­bes Mäd­chen, und John und sein Weib sind an­stän­di­ge, bra­ve Leu­te; aber se­hen Sie, es sind doch im­mer nur Dienst­bo­ten und man kann nicht mit ih­nen wie mit sei­nes­glei­chen ver­keh­ren; man muss sie sich im­mer zehn Schrit­te vom Lei­be hal­ten aus Furcht, sei­ne Au­to­ri­tät zu ver­lie­ren. Sie kön­nen mir glau­ben, im letz­ten Win­ter – er war sehr stren­ge, wenn Sie sich er­in­nern kön­nen, und wenn es nicht schnei­te, tob­te der Wind und es reg­ne­te – kam vom No­vem­ber bis zum Fe­bru­ar nicht eine le­ben­de See­le in dies Haus, mit Aus­nah­me des Schläch­ters und des Post­bo­ten; und ich wur­de wahr­haf­tig ganz me­lan­cho­lisch, wie ich so Abend für Abend al­lein da­saß. Al­ler­dings muss­te Leah mir zu­wei­len vor­le­sen, aber ich fürch­te, dass das arme Mäd­chen von die­ser Auf­ga­be nicht son­der­lich ent­zückt war; sie kam sich da­bei wohl wie eine Ge­fan­ge­ne vor. Im Früh­ling und Som­mer ging es dann na­tür­lich bes­ser. Son­nen­schein und lan­ge Tage ma­chen einen so großen Un­ter­schied. Und nun zu An­fang die­ses Herbs­tes kam die klei­ne Adèle Va­rens mit ih­rer Wär­te­rin; ein Kind bringt so­fort Le­ben ins Haus, und jetzt, da auch Sie hier sind, wer­den wir am Ende gar noch ganz lus­tig und ver­gnügt wer­den.«

Als ich die wür­di­ge alte Dame so plau­dern hör­te, schlug mein Herz ihr warm ent­ge­gen; ich zog mei­nen Stuhl nä­her an den ih­ren und sprach den auf­rich­ti­gen Wunsch aus, dass mei­ne Ge­sell­schaft sich wirk­lich als so an­ge­nehm für sie er­wei­sen möge, als sie er­war­te­te.

»Heu­te Abend will ich Sie aber nicht lan­ge wach hal­ten«, sag­te sie; »es ist jetzt Schlag zwölf Uhr, und Sie sind den gan­zen Tag un­ter­wegs ge­we­sen; Sie müs­sen ja tod­mü­de sein. So­bald Ihre Füße or­dent­lich er­wärmt sind, will ich Ih­nen Ihr Schlaf­zim­mer zei­gen. Ich habe das Ge­mach, wel­ches an das mei­ne stößt, für Sie her­rich­ten las­sen; es ist nur ein klei­nes Zim­mer, aber ich mein­te, dass es Ih­nen lie­ber sein wür­de, als eins der großen Vor­der­zim­mer; al­ler­dings ha­ben die­se präch­ti­ge­re Mö­beln, aber sie sind so düs­ter und ein­sam; ich könn­te nie­mals dar­in schla­fen.«

Ich dank­te ihr für ihre rück­sichts­vol­le Wahl, und da ich mich von der lan­gen Rei­se wirk­lich er­mü­det fühl­te, zeig­te ich mich be­reit, mich auf mein Zim­mer zu­rück­zu­zie­hen. Sie nahm ihr Licht, und ich folg­te ihr auf den Kor­ri­dor hin­aus. Zu­erst ging sie, um sich zu über­zeu­gen, ob die große Haus­tür auch wirk­lich ver­schlos­sen sei; nach­dem sie den Schlüs­sel aus dem Schlos­se ge­zo­gen, führ­te sie mich die Trep­pe hin­auf. Stu­fen und Ge­län­der­säu­len wa­ren von Ei­chen­holz; das Trep­pen­fens­ter war hoch und ver­git­tert; so­wohl die­ses, wie die lan­ge Ga­le­rie, auf wel­che die Schlaf­zim­mer­tü­ren hin­aus­gin­gen, sa­hen aus als ge­hör­ten sie zu ei­ner Kir­che und nicht zu ei­nem Hau­se. Eine feuch­te, dump­fi­ge Luft wie in ei­nem Ge­wöl­be herrsch­te auf der Trep­pe, wie in der Ga­le­rie, – eine Luft, die den Ge­dan­ken an trost­los öde Räu­me und düs­te­re Ein­sam­keit wachrief, – und ich war froh, als ich end­lich in mein Zim­mer trat und fand, dass es von klei­nen Di­men­sio­nen und in ge­wöhn­lich mo­der­nem Stil mö­bliert sei.

Als Mrs. Fair­fax mir eine herz­li­che Gu­te­nacht ge­wünscht, und ich mei­ne Tür sorg­sam ver­schlos­sen hat­te, sah ich mich mit Muße um; der An­blick mei­nes be­hag­li­chen, klei­nen Zim­mers lösch­te bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de den Ein­druck aus, wel­chen die wei­te Hal­le, die düs­te­re, große Trep­pe und jene lan­ge, kal­te Ga­le­rie auf mich ge­macht hat­ten, und end­lich kam es mir zum Be­wusst­sein, dass ich mich nach ein paar Ta­gen kör­per­li­cher Er­mü­dung und geis­ti­ger Er­re­gung nun end­lich in ei­nem si­che­ren Ha­fen be­fin­den wür­de. Der Im­puls der Dank­bar­keit schwell­te mein Herz, ich knie­te ne­ben mei­nem Bet­te nie­der und sand­te ein in­ni­ges Dank­ge­bet zu dem em­por, dem ich Dank schul­de­te; und be­vor ich mich wie­der er­hob, ver­gaß ich nicht, wei­te­re Hil­fe für mei­nen Pfad zu er­fle­hen, und um die Gabe zu bit­ten, mich der Güte wert ma­chen zu kön­nen, wel­che mir in so rei­chem Maße zu teil wur­de, be­vor ich sie noch hat­te ver­die­nen kön­nen. In die­ser Nacht lag ich auf kei­nem Dor­nen­la­ger; mein ein­sa­mes Zim­mer war von Ruhe und Frie­den er­füllt. Zu­gleich müde und zu­frie­den, schlief ich bald und fest ein. Als ich er­wach­te, war es be­reits hel­ler Tag.

In dem Son­nen­schein, wel­cher durch die hell­blau­en Zitz­fens­ter­vor­hän­ge fiel, er­schi­en mir mein Zim­mer so freund­lich und ge­müt­lich; ich wur­de fast mu­tig bei dem An­blick der ta­pe­zier­ten Wän­de und des tep­pich­be­leg­ten Fuß­bo­dens, wel­che den bunt­far­bi­gen Kalk­wän­den und nack­ten Holz­bö­den in Lo­wood so un­ähn­lich wa­ren. Äu­ßer­lich­kei­ten üben einen so großen Ein­fluss auf die Ju­gend. Mir war, als müs­se jetzt eine schö­ne­re Le­ben­sära für mich an­bre­chen, eine Ära, wel­che ne­ben ih­ren Dor­nen und Müh­se­lig­kei­ten auch ihre Blü­ten und Freu­den ha­ben wür­de. All mei­ne See­len­kräf­te schie­nen durch die Orts­ver­än­de­rung, durch das neue Feld, wel­ches sich für mei­ne Hoff­nun­gen öff­ne­te, wie­der le­ben­dig ge­wor­den. Ich könn­te nicht ge­nau de­fi­nie­ren, was sie er­war­te­ten, aber es war eben et­was freu­di­ges: nicht viel­leicht ge­ra­de für einen be­stimm­ten Tag oder Mo­nat, son­dern für ir­gend eine un­be­stimm­te Zeit in der Zu­kunft.

Ich er­hob mich. Mit großer Sorg­falt klei­de­te ich mich an. Wenn ich auch ge­zwun­gen war, ein­fach zu sein – ich hat­te kein ein­zi­ges Klei­dungs­stück, wel­ches nicht in der ein­fachs­ten Wei­se ge­macht wäre – so hat­te ich doch von Na­tur das größ­te Ver­lan­gen, sau­ber und nett aus­zu­se­hen. Es war durch­aus nicht mei­ne Ge­wohn­heit, acht­los in Be­zug auf mein Äu­ße­res oder un­be­küm­mert um den Ein­druck zu sein, wel­chen ich her­vor­brach­te, – im Ge­gen­teil, ich wünsch­te stets, so hübsch wie mög­lich zu sein und so sehr zu ge­fal­len, wie mein gänz­li­cher Man­gel an Schön­heit es ge­stat­te­te. Wie oft be­dau­er­te ich, nicht hüb­scher zu sein! Wie in­nig wünsch­te ich, ro­si­ge Wan­gen, eine ge­ra­de Nase und einen klei­nen Kir­schen­mund zu be­sit­zen; ich hät­te schlank und statt­lich, von im­po­san­ter Fi­gur sein mö­gen; ich emp­fand es wie ein Un­glück, so klein und bleich zu sein, so un­re­gel­mä­ßi­ge, mar­kier­te Züge zu ha­ben. Aber wes­halb hat­te ich die­se Wün­sche, dies Ver­lan­gen? Die­ses Be­dau­ern? Das wäre schwie­rig ge­we­sen zu sa­gen. Da­mals hät­te ich selbst mir kei­ne kla­re Re­chen­schaft dar­über ge­ben kön­nen. In­des­sen hat­te ich einen Grund, und einen lo­gi­schen, na­tür­li­chen noch dazu. – Als ich je­doch mein Haar sehr sorg­sam ge­kämmt und mein schwar­zes Kleid an­ge­zo­gen hat­te, wel­ches trotz sei­ner Quä­ker­haf­tig­keit das Ver­dienst hat­te, aufs ge­naus­te zu pas­sen, – als ich eine rei­ne, wei­ße Hals­krau­se um­ge­bun­den, glaub­te ich sau­ber und re­spek­ta­bel ge­nug aus­zu­se­hen, um vor Mrs. Fair­fax er­schei­nen zu kön­nen. Von mei­ner Schü­le­rin hoff­te ich, dass sie we­nigs­tens nicht mit Wi­der­wil­len vor mir zu­rück­schre­cken wer­de. Nach­dem ich das Fens­ter ge­öff­net und ge­se­hen hat­te, dass ich auf dem Toi­lett­ti­sche al­les sau­ber und or­dent­lich zu­rück­ließ, wag­te ich mich hin­aus.

Nach­dem ich die lan­ge, mit Tep­pi­chen be­deck­te Ga­le­rie ent­lang ge­gan­gen war, stieg ich die glän­zend blan­ke Ei­chen­trep­pe hin­un­ter; dann kam ich in die Hal­le; hier stand ich eine Mi­nu­te still; ich be­trach­te­te ei­ni­ge Kup­fer­sti­che an den Wän­den, – noch heu­te er­in­ne­re ich mich der­sel­ben, das eine stell­te einen fins­ter aus­se­hen­den Mann in ei­nem Küraß dar; das an­de­re eine Dame mit ge­pu­der­ten Haa­ren und ei­nem Perl­hals­band – eine Bron­zelam­pe, wel­che von der De­cke her­ab­hing, eine große, alte Wand­uhr, de­ren Ge­häu­se aus Ei­chen­holz selt­sam ge­schnitzt und durch die Zeit schwarz und blank wie Eben­holz ge­wor­den war. Al­les er­schi­en mir sehr statt­lich und im­po­sant – aber ich war ja auch so we­nig an Glanz und Pracht ge­wöhnt. Die Tür der Hal­le, wel­che halb aus Glas war, stand of­fen; ich über­schritt die Schwel­le. Es war ein herr­li­cher Herbst­mor­gen; die Son­ne schi­en klar auf herbst­lich ge­färb­tes Laub und noch im­mer fri­sche Fel­der her­ab; ich ging auf den frei­en Platz hin­aus und be­trach­te­te die Front des Her­ren­hau­ses. Es war drei Stock­wer­ke hoch, von großen, ob­gleich nicht über­wäl­ti­gen­den Pro­por­tio­nen, der Her­ren­sitz ei­nes Gent­le­man, nicht die fes­te Burg ei­nes Edel­man­nes; Zin­nen auf dem Da­che ga­ben dem Hau­se ein pit­to­res­kes Aus­se­hen. Die graue Front hob sich hübsch von dem Hin­ter­grun­de ei­nes Krä­hen­ge­nis­tes, des­sen kräch­zen­de Be­woh­ner jetzt flüg­ge wa­ren; sie flo­gen über den Gras­p­latz und den Park, um sich auf ei­ner großen Wei­de nie­der­zu­las­sen, von wel­cher ers­te­re durch einen ein­ge­sun­ke­nen Zaun ge­trennt wa­ren; auf die­ser Wie­se stand eine lan­ge Rei­he al­ter, star­ker, knor­ri­ger Dor­nen­bäu­me, mäch­tig wie Ei­chen, wel­che so­fort die Ety­mo­lo­gie der Be­nen­nung des Her­ren­hau­ses er­klär­ten.1 In der Fer­ne wa­ren Hü­gel, nicht so hoch wie jene um Lo­wood, nicht so za­ckig, nicht so ähn­lich Bar­rie­ren, wel­che einen von der üb­ri­gen Welt ab­schlos­sen, aber doch stil­le, ein­sa­me Hü­gel, wel­che Thorn­field eine Ab­ge­schie­den­heit ver­lie­hen, die ich in der leb­haft be­weg­ten Nähe Mill­co­tes nie­mals ver­mu­tet hät­te. Ein klei­ner Wei­ler, des­sen Dä­cher von Bäu­men über­schat­tet wa­ren, zog sich an ei­nem der Hü­gel hin­auf; die Kir­che des Distrikts stand nä­her an Thorn­field, ihr al­ter Turm sah über einen Hü­gel zwi­schen dem Hau­se und den Park­pfor­ten her­vor.

Ich er­freu­te mich noch an der fried­li­chen Aus­sicht und an der fri­schen, an­ge­neh­men Luft, horch­te noch mit Ent­zücken auf das Ge­kräch­ze der Krä­hen, blick­te noch auf die große, von der Zeit ge­schwärz­te Front der Hal­le und dach­te bei mir, welch ein weit­läu­fi­ger Auf­ent­halt es für eine ein­zel­ne klei­ne Dame wie Mrs. Fair­fax sei, als die­se Dame in der Tür er­schi­en.

»Was? schon drau­ßen?« sag­te sie. »Ich sehe, Sie sind ge­wöhnt früh auf­zu­ste­hen.« Ich ging zu ihr und wur­de mit ei­nem Kus­se und ei­nem herz­li­chen Hän­de­druck be­will­komm­net.

»Wie ge­fällt Ih­nen Thorn­field?« frag­te sie. Ich sag­te ihr, dass ich es sehr schön fän­de.

»Ja«, sag­te sie, »es ist ein rei­zen­der Ort; aber ich fürch­te, es wird ver­nach­läs­sigt wer­den, wenn Mr. Ro­che­s­ter es sich nicht in den Kopf setzt, her­zu­kom­men und per­ma­nent hier zu re­si­die­ren, oder es we­nigs­tens häu­fi­ger zu be­su­chen. Gro­ße Häu­ser und schö­ne Parks er­for­dern die An­we­sen­heit ih­res Be­sit­zers.«

»Mr. Ro­che­s­ter!« rief ich aus. »Wer ist das?«

»Der Be­sit­zer von Thorn­field«, ant­wor­te­te sie ru­hig. »Wuss­ten Sie nicht, dass er Ro­che­s­ter heißt?«

Na­tür­lich wuss­te ich das nicht – ich hat­te ja noch nie­mals von ihm ge­hört; aber die alte Dame schi­en sein Da­sein für ein so all­ge­mein be­kann­tes Fak­tum zu hal­ten, dass je­der­mann es schon in­stink­tiv ken­nen muss­te.

»Ich glaub­te«, fuhr ich fort, »dass Thorn­field Ihr Ei­gen­tum sei.«

»Mein Ei­gen­tum? Gott seg­ne Sie, Kind! Wel­che eine Idee! Mein Ei­gen­tum? Ich bin nur die Haus­häl­te­rin, die Ver­wal­te­rin. Al­ler­dings bin ich durch die Fa­mi­lie sei­ner Mut­ter ent­fernt mit den Ro­che­s­ters ver­wandt, oder we­nigs­tens war mein Gat­te es: er war ein Geist­li­cher, Pfrün­den­be­sit­zer von Hay – je­nes klei­ne Dorf da drü­ben auf dem Hü­gel – und die Kir­che ne­ben der Park­pfor­te war die sei­ne. Die Mut­ter des jet­zi­gen Mr. Ro­che­s­ter war eine Fair­fax und mei­nes Man­nes Cou­si­ne im zwei­ten Gra­de; aber ich tue mir auf die­se Ver­wandt­schaft nie­mals et­was zu Gute und er­lau­be mir des­halb kei­ne Frei­hei­ten – in der Tat, ich ma­che mir gar nichts dar­aus; ich be­trach­te mich selbst in dem Lich­te ei­ner ganz ge­wöhn­li­chen Haus­häl­te­rin; mein Bro­therr ist im­mer höf­lich, und mehr er­war­te ich nicht.«

»Und das klei­ne Mäd­chen – mei­ne Schü­le­rin?«

»Sie ist Mr. Ro­che­s­ters Mün­del; er be­auf­trag­te mich, eine Gou­ver­nan­te für sie zu su­chen. Ich glau­be, dass er die Ab­sicht hegt, sie in …s­hi­re er­zie­hen zu las­sen. Da kommt sie mit ih­rer ›Bon­ne‹, wie sie ihre Wär­te­rin nennt.«

Das Rät­sel war also ge­löst; die­se freund­li­che, gü­ti­ge, klei­ne Wit­we war kei­ne große Dame, son­dern eine Un­ter­ge­be­ne wie ich selbst. Des­halb war sie mir nicht we­ni­ger lieb; im Ge­gen­teil, ich fühl­te mich woh­li­ger als zu­vor. Die Gleich­heit zwi­schen ihr und mir be­stand wirk­lich, – sie war nicht das Re­sul­tat blo­ßer Herab­las­sung von ih­rer Sei­te. Umso bes­ser – mei­ne Stel­lung war des­halb umso viel frei­er.

Wäh­rend ich noch über die­se Ent­de­ckung nach­dach­te, kam ein klei­nes Mäd­chen, wel­chem eine Wär­te­rin folg­te, über den Gras­p­latz da­her ge­lau­fen. Ich be­trach­te­te mei­ne Schü­le­rin, wel­che mich an­fangs nicht zu be­mer­ken schi­en. Sie war noch ein Kind, viel­leicht sie­ben oder acht Jah­re alt, zart ge­baut, blass mit klei­nen Ge­sichts­zü­gen und ei­nem Über­fluss von Haar, das in Lo­cken über die Schul­tern wall­te.

»Gu­ten Mor­gen, Miss Ade­la«, sag­te Mrs. Fair­fax. »Kom­men Sie her und spre­chen Sie mit die­ser Dame, wel­che Ihre Leh­re­rin sein wird, da­mit Sie ei­nes Ta­ges eine ge­schei­te Dame wer­den.« Die Klei­ne kam nä­her.

»C’est là ma gou­ver­nan­te?« frag­te sie zu ih­rer Wär­te­rin ge­wen­det auf mich zei­gend; die­se ant­wor­te­te:

»Mais oui, cer­tai­ne­ment.«

»Sind sie Aus­län­der?« frag­te ich, ganz er­staunt, die fran­zö­si­sche Spra­che zu hö­ren.

»Die Wär­te­rin ist eine Aus­län­de­rin und Ade­la wur­de auf dem Kon­ti­nent ge­bo­ren; ich glau­be auch, dass sie bis vor sechs Mo­na­ten dort ver­blieb. Als sie zu­erst her­kam, konn­te sie kein Wort eng­lisch spre­chen; jetzt hat sie es so weit ge­bracht, ein we­nig spre­chen zu kön­nen; ich ver­ste­he sie nicht, sie ver­mischt es so sehr mit dem Fran­zö­si­schen; aber ich ver­mu­te, dass Sie sehr gut be­grei­fen wer­den, was sie meint.«

Zum Glück hat­te ich den Vor­teil ge­habt, fran­zö­sisch von ei­ner Fran­zö­sin zu ler­nen; und da ich es mir stets hat­te an­ge­le­gen sein las­sen, so viel wie mög­lich mit Ma­da­me Pier­rot zu re­den und über­dies wäh­rend der letz­ten sie­ben Jah­re täg­lich meh­re­re Sei­ten fran­zö­sisch aus­wen­dig ge­lernt hat­te, war es mir mög­lich ge­wor­den, mir einen Grad der Fer­tig­keit und der Kor­rekt­heit in der Spra­che an­zu­eig­nen, wel­cher mich in den Stand setz­te, mit Ma­de­moi­sel­le Adèle glei­chen Schritt zu hal­ten.

Als sie hör­te, dass ich ihre Gou­ver­nan­te sei, kam sie auf mich zu­ge­lau­fen und reich­te mir die Hand; dann führ­te ich sie in das Früh­stücks­zim­mer und rich­te­te ei­ni­ge Wor­te in ih­rer Mut­ter­spra­che an sie; im An­fang ant­wor­te­te sie sehr kurz, aber nach­dem wir am Ti­sche Platz ge­nom­men hat­ten und sie mich un­ge­fähr zehn Mi­nu­ten mit ih­ren großen hell­brau­nen Au­gen an­ge­se­hen hat­te, be­gann sie plötz­lich ganz ge­läu­fig zu plau­dern.

»Ach«, rief sie auf fran­zö­sisch aus, »Sie spre­chen mei­ne Mut­ter­spra­che eben­so gut wie Mr. Ro­che­s­ter, ich kann mit Ih­nen re­den wie mit ihm, und So­phie kann es auch. Sie wird glück­lich sein; hier kann nie­mand sie ver­ste­hen, Ma­da­me Fair­fax ist durch und durch eng­lisch. So­phie ist mei­ne Wär­te­rin; sie ist mit mir über das Meer ge­kom­men in ei­nem großen Schif­fe mit ei­nem Schorn­stein, der rauch­te – und wie er rauch­te! – und ich war krank, und So­phie war es auch und Mr. Ro­che­s­ter auch. Mr. Ro­che­s­ter leg­te sich auf ein Sofa in ei­nem hüb­schen Zim­mer, das Sa­lon ge­nannt wur­de, und So­phie und ich hat­ten klei­ne Bet­ten in ei­nem an­de­ren Zim­mer. Bei­na­he wäre ich aus dem mei­nen her­aus ge­fal­len, es war ganz wie ein Brett. Und, Ma­de­moi­sel­le – wie hei­ßen Sie doch?«

»Eyre – Jane Eyre.«

»Aire? Bah! Das kann ich nicht aus­spre­chen. Nun also wei­ter: ge­gen Mor­gen, der Tag war noch nicht ganz an­ge­bro­chen, hielt un­ser Schiff bei ei­ner großen Stadt an – bei ei­ner enorm großen Stadt, mit sehr düs­te­ren Häu­sern, die ganz von Rauch ge­schwärzt wa­ren; sie hat­te gar kei­ne Ähn­lich­keit mit der sau­be­ren, hüb­schen Stadt, aus wel­cher ich kam. Und Mr. Ro­che­s­ter trug mich auf sei­nen Ar­men über ein Brett ans Land, und So­phie kam hin­ter­her; dann stie­gen wir alle in einen Wa­gen, der uns bis an ein großes, präch­ti­ges Haus brach­te, viel grö­ßer und viel, viel schö­ner als die­ses, und es hieß ein ›Ho­tel‹. Dort blie­ben wir bei­na­he eine Wo­che. So­phie und ich gin­gen oft auf ei­nem großen, grü­nen Platz vol­ler Bäu­men um­her, den sie ›Park‹ nann­ten. Au­ßer mir wa­ren noch vie­le, vie­le Kin­der dort, und ein Teich mit pracht­vol­len Vö­geln dar­auf, die ich oft mit Brot­kru­men ge­füt­tert habe.«

»Kön­nen Sie sie denn ei­gent­lich ver­ste­hen, wenn sie so schnell plap­pert?« frag­te Mrs. Fair­fax.

Ich ver­stand sie sehr gut, denn ich war an Ma­da­me Pier­rots ge­läu­fi­ge Zun­ge ge­wöhnt.

Dann fuhr die gute, alte Dame fort: »ich möch­te gern, dass Sie ein paar Fra­gen über ihre El­tern an sie rich­te­ten; es soll mich doch wun­dern, ob sie sich ih­rer noch er­in­nert?«

»Adèle«, frag­te ich, »mit wem hast du in je­ner hüb­schen, sau­be­ren Stadt ge­wohnt, von wel­cher du mir er­zählt hast?«

»Mit mei­ner Mama, aber das ist schon lan­ge her; sie ist zur hei­li­gen Jung­frau ge­gan­gen. Mama hat mich auch tan­zen und sin­gen und schö­ne Ver­se her­sa­gen ge­lehrt. Vie­le Her­ren und Da­men ka­men stets, um Mama zu be­su­chen, und dann pfleg­te ich ih­nen et­was vor­zu­tan­zen oder vor­zu­sin­gen. Oft nah­men sie mich auf den Schoß, und ich sag­te ih­nen Ge­dich­te her. Wol­len Sie mich jetzt auch sin­gen hö­ren?«

Sie war mit ih­rem Früh­stück zu Ende, und des­halb er­laub­te ich ihr, mir eine Pro­be ih­res Tal­ents zu ge­ben. Sie klet­ter­te von ih­rem Stuhl her­un­ter und kam zu mir, um sich auf mei­nen Schoß zu set­zen; dann fal­te­te sie ernst­haft ihre klei­nen Hän­de, warf ihre Lo­cken zu­rück, hef­te­te ihre Au­gen auf die De­cke des Zim­mers und be­gann, eine Me­lo­die aus ir­gend ei­ner Oper zu sin­gen. Es war ein Lied von ei­ner ver­las­se­nen Frau, wel­che an­fangs die Treu­lo­sig­keit ih­res Ge­lieb­ten be­weint und dann ih­ren Stolz zu Hil­fe ruft; dar­auf be­fiehlt sie ih­rer Beglei­te­rin, ihr die schöns­ten Ge­wän­der und ihre präch­tigs­ten Ju­we­len zu brin­gen und be­schließt, dem Fal­schen am Abend auf ei­nem Bal­le zu be­geg­nen und ihm durch ihre Fröh­lich­keit zu be­wei­sen, wie we­nig sei­ne Treu­lo­sig­keit sie er­grif­fen hat.

Das Lied schi­en selt­sam ge­wählt für eine so kind­li­che Sän­ge­rin; aber ich ver­mu­te, dass der Schwer­punkt die­ser Pro­duk­ti­on dar­in lag, die­se Töne und Wor­te der Lie­be und Ei­fer­sucht von den Lip­pen des Kin­des zu hö­ren; und sehr ge­schmack­los schi­en mir die­se Poin­te zu sein.

Adèle sang die Can­zo­net­te ganz ge­schmack­voll und mit der Nai­ve­tät ih­rer Jah­re. Nach­dem sie da­mit zu Ende, sprang sie von mei­nem Scho­ße her­ab und sag­te: »Jetzt, Ma­de­moi­sel­le, will ich Ih­nen et­was vor­de­kla­mie­ren.«

Dann nahm sie eine At­ti­tü­de an und be­gann »la ligue des rats; fa­ble de Là Fon­taine.« Nun de­kla­mier­te sie das klei­ne Stück mit ei­ner Acht­sam­keit auf die In­ter­punk­ti­on und Be­to­nung, ei­ner Bieg­sam­keit der Stim­me und ei­ner Zart­heit der Be­we­gun­gen, wel­che in ih­ren Jah­ren al­ler­dings un­ge­wöhn­lich wa­ren und deut­lich be­wie­sen, dass sie sorg­sam trai­niert wor­den war.

»Hat dei­ne Mama dich die­ses Ge­dicht ge­lehrt?« frag­te ich.

»Ja, und sie pfleg­te im­mer so zu sa­gen: ›Où avez-vous donc? lui dit un de ces rats; par­lez!‹ Und dann ließ sie mich mei­ne Hand auf­he­ben – so – um mich dar­an zu er­in­nern, dass ich die Stim­me er­he­ben müs­se bei der Fra­ge. Soll ich Ih­nen jetzt et­was vort­an­zen?«

»Nein. Jetzt ist es ge­nug. Aber bei wem wohn­test du, als dei­ne Mama zur hei­li­gen Jung­frau ge­gan­gen war, wie du sagst?«

»Bei Ma­da­me Fre­de­ric und ih­rem Man­ne; sie hat mich ge­pflegt und für mich ge­sorgt, aber sie ist nicht mit mir ver­wandt. Ich glau­be, dass sie arm ist, denn sie hat­te kein so schö­nes Haus wie Mama. Ich war nicht lan­ge dort. Mr. Ro­che­s­ter kam und frag­te mich, ob ich mit ihm nach Eng­land ge­hen und bei ihm blei­ben möch­te, und ich sag­te Ja. Denn ich kann­te Mr. Ro­che­s­ter, be­vor ich Ma­da­me Fre­de­ric kann­te, und er war im­mer gü­tig ge­gen mich und schenk­te mir schö­ne Klei­der und hüb­sche Spiel­sa­chen. Aber Sie se­hen, er hat nicht Wort ge­hal­ten, denn er hat mich nach Eng­land ge­bracht, aber er selbst ist wie­der fort­ge­gan­gen, und jetzt sehe ich ihn nie mehr.«

Nach dem Früh­stück zog ich mich mit Adèle in die Biblio­thek zu­rück; wie es schi­en, hat­te Mr. Ro­che­s­ter be­stimmt, dass die­ser Raum als Schul­zim­mer be­nutzt wer­den soll­te. Die Mehr­zahl der Bü­cher war in Glas­schrän­ken ver­schlos­sen; aber ein Bü­cher­schrank, wel­cher of­fen stand, ent­hielt al­les, was für den ele­men­ta­ren Un­ter­richt ge­braucht wur­de, und ver­schie­de­ne Bän­de der leich­teren Lit­te­ra­tur, Poe­sie, Bio­gra­fie, Rei­se­be­schrei­bun­gen, ei­ni­ge Ro­man­zen u.s.w. Ich ver­mu­te, dass er der An­sicht ge­we­sen, dies sei al­les, was eine Gou­ver­nan­te für ihre Pri­vat­lek­tü­re brau­che, und in der Tat ge­nüg­ten sie mir vollauf für den Au­gen­blick; im Ver­gleich zu den kärg­li­chen Sa­men­körn­chen, wel­che ich dann und wann in Lo­wood zu fin­den im­stan­de ge­we­sen, schie­nen die­se Bän­de mir eine rei­che, gol­de­ne Ern­te in Un­ter­hal­tung und Be­leh­rung zu bie­ten. In die­sem Zim­mer be­fand sich auch ein ganz neu­es Kla­vier von herr­li­chem Ton; au­ßer­dem eine Staf­fe­lei und meh­re­re Erd­ku­geln.

Ich fand mei­ne Schü­le­rin au­ßer­or­dent­lich lie­bens­wür­dig, aber sehr zer­streut. Sie war nie­mals an eine re­gel­mä­ßi­ge Be­schäf­ti­gung ir­gend­wel­cher Art ge­wöhnt ge­we­sen. Ich fühl­te, dass es nicht rat­sam sein wür­de, sie im An­fang zu sehr mit Ar­beit zu über­häu­fen; des­halb er­laub­te ich ihr, als aus dem Mor­gen Mit­tag ge­wor­den war, und ich viel zu ihr ge­spro­chen und sie ein we­nig hat­te ler­nen las­sen, zu ih­rer Wär­te­rin zu­rück­zu­keh­ren. Und dann nahm ich mir vor, bis zur Stun­de des Mit­ta­ges­sens ei­ni­ge klei­ne Skiz­zen für ih­ren Ge­brauch zu zeich­nen.

Als ich hin­auf ging, um mein Skiz­zen­buch und mei­ne Zei­chen­stif­te zu ho­len, rief Mrs. Fair­fax mir zu: »Ihre Mor­gen­schul­stun­den sind jetzt vor­über, wie ich ver­mu­te.« Sie be­fand sich in ei­nem Zim­mer, des­sen Flü­gel­tü­ren weit ge­öff­net wa­ren; als sie mich an­re­de­te, ging ich hin­ein. Es war ein großes, statt­li­ches Ge­mach, mit pur­pur­far­bi­gen Mö­beln und Vor­hän­gen, ei­nem tür­ki­schen Tep­pich, nuss­holz­be­klei­de­ten Wän­den, ei­nem großen bunt­far­bi­gen Fens­ter und ei­ner reich ge­schnitz­ten De­cke. Mrs. Fair­fax wisch­te den Staub von ei­ni­gen Va­sen aus herr­li­chem Ru­bin­glas, wel­che auf ei­ner Kre­denz stan­den.

»Welch ein präch­ti­ges Zim­mer«, rief ich aus, in­dem ich um­her blick­te, denn ich hat­te noch nichts ge­se­hen, was auch nur halb so schön ge­we­sen wäre.

»Ja, dies ist das Spei­se­zim­mer. Ich habe so­eben das Fens­ter ge­öff­net, um ein we­nig Luft und Son­nen­schein her­ein zu las­sen, denn in Zim­mern, die sel­ten be­wohnt wer­den, wird al­les feucht und dump­fig. Drü­ben im großen Sa­lon ist es ge­ra­de wie in ei­nem Ge­wöl­be.«

Sie deu­te­te auf einen großen Bo­gen, wel­cher dem Fens­ter ge­gen­über lag und mit per­si­schen Vor­hän­gen, die in Fe­stons auf­ge­rafft wa­ren, de­ko­riert war. Als ich zwei brei­te Stu­fen, wel­che zu dem­sel­ben hin­auf­führ­ten, er­stie­gen hat­te, war mir’s, als täte ich einen Blick ins Feen­reich; so herr­lich er­schi­en mei­nem No­vi­zen­blick der An­blick, wel­cher sich ihm dar­bot. Und doch war es nichts als ein sehr hüb­scher Sa­lon mit ei­nem Bou­doir; bei­de wa­ren mit wei­ßen Tep­pi­chen be­legt, die mit bun­ten Blu­men­guir­lan­den be­deckt schie­nen; die De­cke war reich mit schne­ei­gem Stuck be­deckt, wel­cher wei­ße Wein­trau­ben und Blät­ter dar­stell­te; selt­sam kon­tras­tier­ten da­mit die feu­er­ro­ten Stüh­le und Ot­to­ma­nen. Die Zier­ra­te, wel­che den Ka­min­sims aus weißem, car­ra­ri­schem Mar­mor schmück­ten, be­stan­den aus fun­keln­dem, ru­bin­ro­tem, böh­mi­schem Glas, und in den Spie­geln zwi­schen den Fens­tern wie­der­hol­te sich die all­ge­mei­ne Mi­schung von Schnee und Feu­er.

»Wie schön Sie die­se Zim­mer in Ord­nung hal­ten, Mrs. Fair­fax!« rief ich. »Kein Staub, kei­ne Über­zü­ge aus Glanz­lein­wand. Man könn­te wirk­lich glau­ben, dass sie täg­lich be­wohnt wür­den, wenn die Luft nicht ein we­nig gruft­ar­tig wäre.«

»Nun, Miss Eyre, wenn Mr. Ro­che­s­ters Be­su­che hier auch nur sel­ten sind, so kom­men sie eben­falls stets un­er­war­tet und plötz­lich; und da ich be­merkt habe, dass es ihn stets schlech­ter Lau­ne macht, wenn er al­les ein­gehüllt fin­det und mit­ten in die Ge­schäf­tig­keit des Räu­mens hin­ein­kommt, so dach­te ich mir, es sei das Bes­te, die Zim­mer stets in Be­reit­schaft zu hal­ten.«

»Ist Mr. Ro­che­s­ter ein stren­ger und klein­li­cher Herr?« frag­te ich.

»Nicht ge­ra­de das; aber er hat die Nei­gun­gen und Ge­wohn­hei­ten ei­nes Gent­le­man und er er­war­tet, dass alle Din­ge sich dem an­pas­sen.«

»Lie­ben Sie ihn? Ist er all­ge­mein be­liebt?«

»O ja. Die Fa­mi­lie hat hier stets in großer Hochach­tung ge­stan­den. Seit Men­schen­ge­den­ken hat al­les Land in der Ge­gend, so weit das Auge reicht, den Ro­che­s­ters ge­hört.«

»Gut; aber lie­ben Sie ihn, ganz ab­ge­se­hen von sei­nen Be­sit­zun­gen? Lie­ben Sie ihn um sei­ner selbst wil­len?«

»Ich habe kei­ne Ur­sa­che, et­was an­de­res zu tun, als ihn zu lie­ben, und ich glau­be auch, dass sei­ne Päch­ter und Un­ter­ge­be­nen ihn als einen frei­ge­bi­gen und ge­rech­ten Ge­bie­ter be­trach­ten; aber er hat nie­mals viel un­ter ih­nen ge­lebt.«

»Aber hat er kei­ne Ei­gen­tüm­lich­kei­ten? Kurz und gut, wie ist sein Cha­rak­ter?«

»O, sein Cha­rak­ter ist fle­cken­los. Das glau­be ich we­nigs­tens. Vi­el­leicht ist er in man­chen Din­gen ein klein we­nig selt­sam; ich ver­mu­te, dass er viel ge­reist ist und viel von der Welt ge­se­hen hat. Ich glau­be auch, dass er sehr ge­scheit ist, aber ich habe nie­mals Ge­le­gen­heit ge­habt, mich viel mit ihm zu un­ter­hal­ten.«

»In wel­cher Wei­se ist er denn selt­sam?«

»Ich weiß es nicht. Das ist nicht so leicht zu be­schrei­ben – nichts be­son­ders auf­fal­len­des, aber man fühlt es, wenn man mit ihm spricht. Man weiß nie­mals, ob er im Scherz oder im Ernst re­det, ob er sich freut oder ob er sich är­gert. Kurzum, man ver­steht ihn nicht recht – we­nigs­tens ich ver­ste­he ihn nicht. Aber das scha­det ja nicht; er ist ein sehr gu­ter Herr und Ge­bie­ter.«

Dies war al­les, was ich von Mrs. Fair­fax über ih­ren Bro­therrn und den mei­nen er­fah­ren konn­te. Es gibt Leu­te, wel­che meist nicht im­stan­de zu sein schei­nen, einen Cha­rak­ter be­schrei­ben zu kön­nen und die we­der bei Men­schen noch bei Din­gen her­vor­ra­gen­de Ei­gen­schaf­ten und Ei­gen­tüm­lich­kei­ten be­mer­ken, – und au­gen­schein­lich ge­hör­te die gute Dame zu die­sen; mei­ne Fra­gen ver­blüff­ten sie, brach­ten sie aber nicht zum Spre­chen. Mr. Ro­che­s­ter war in ih­ren Au­gen Mr. Ro­che­s­ter, ein Gent­le­man, ein Guts­be­sit­zer – nichts an­de­res; sie frag­te und such­te nicht wei­ter und wun­der­te sich au­gen­schein­lich über mei­nen Wunsch, einen be­stimm­te­ren Be­griff sei­ner Per­sön­lich­keit zu be­kom­men.

Als wir das Spei­se­zim­mer ver­lie­ßen, schlug sie mir vor, mir den üb­ri­gen Teil des Hau­ses zu zei­gen; und ich folg­te ihr trepp­auf, trepp­ab und be­wun­der­te al­les im Ge­hen, denn al­les war schön und ge­schmack­voll ar­ran­giert. Be­son­ders die großen Zim­mer an der Vor­der­sei­te des Hau­ses er­schie­nen mir präch­tig und im­po­sant, und ei­ni­ge der Zim­mer des drit­ten Stocks, ob­gleich düs­ter und nied­rig, wa­ren in­ter­essant durch ihr al­ter­tüm­li­ches Aus­se­hen. Die Mö­bel, wel­che einst für die un­te­ren Ge­mä­cher an­ge­schafft wor­den, wa­ren je nach den An­for­de­run­gen der Mode von Zeit zu Zeit hier her­auf ge­schafft, und das un­si­che­re Licht, wel­ches durch die nie­de­ren Fens­ter ein­drang, fiel auf Bett­stel­len, wel­che mehr als ein Jahr­hun­dert zähl­ten; Tru­hen aus Nuss- und Ei­chen­holz sa­hen mit ih­ren selt­sa­men Schnit­ze­rei­en von Pal­men­zwei­gen und En­gels­köp­fen aus wie die Ty­pen der Ar­che Noah; Rei­hen von ehr­wür­di­gen Stüh­len mit schma­len und ho­hen Leh­nen; noch äl­te­re Lehn­stüh­le, auf de­ren ge­pols­ter­ten Leh­nen noch Spu­ren halb­ver­wit­ter­ter Sti­cke­rei­en, wel­che vor zwei Ge­ne­ra­tio­nen von Fin­gern ge­ar­bei­tet wa­ren, die längst im Gra­be mo­der­ten. All die­se Re­li­qui­en ver­lie­hen dem drit­ten Stock­werk von Thorn­field-Hall das Aus­se­hen ei­nes Heims der Ver­gan­gen­heit, ei­nes Schr­eins der Erin­ne­run­gen. Ich lieb­te die Ruhe, das Däm­mer­licht, die Ei­gen­tüm­lich­keit die­ser Räu­me wäh­rend der Ta­ges­zeit; aber ich wünsch­te mir durch­aus nicht das Ver­gnü­gen ei­ner Nachtru­he auf die­sen großen und schwe­ren Bet­ten, de­ren ei­ni­ge durch Tü­ren von Ei­chen­holz ab­ge­schlos­sen, an­de­re mit schwe­ren al­ten Vor­hän­gen von eng­li­scher Ar­beit ver­deckt wa­ren, de­ren Mus­ter selt­sa­me Blu­men und noch selt­sa­me­re Vö­gel und die al­ler­selt­sams­ten mensch­li­chen Ge­stal­ten dar­stell­ten – wie selt­sam wür­den erst all die­se Din­ge im blei­chen Mond­licht aus­ge­se­hen ha­ben!

»Schla­fen die Die­ner in die­sen Zim­mern?« frag­te ich.

»Nein, sie be­woh­nen eine Rei­he klei­ne­rer Ge­mä­cher an der Hin­ter­sei­te des Hau­ses; hier schläft nie­mand; man möch­te bei­na­he glau­ben, dass wenn wir in Thorn­field-Hall einen Geist hät­ten, dies sein Schlupf­win­kel wäre.«

»Das glau­be ich auch. Sie ha­ben also kei­nen Geist hier?«

»Ich habe we­nigs­tens nie­mals da­von ge­hört«, ent­geg­ne­te Mrs. Fair­fax lä­chelnd.

»Auch kei­ne dar­auf be­züg­li­che Tra­di­ti­on? Kei­ne Le­gen­den, kei­ne Geis­ter­ge­schich­ten?«

»Ich glau­be nicht. Und doch sagt man, dass die Ro­che­s­ters ih­rer Zeit ein mehr streit­süch­ti­ges als fried­lie­ben­des Ge­schlecht ge­we­sen. Aber viel­leicht ist ge­ra­de das der Grund, wes­halb sie jetzt ru­hig in ih­ren Grä­bern lie­gen.«

»Ja, ja – sie ru­hen aus nach dem ver­zeh­ren­den Fie­ber des Le­bens«, mur­mel­te ich. – »Wo­hin ge­hen Sie denn jetzt, Mrs. Fair­fax?« denn sie ging wei­ter.

»Hin­auf auf das Dach; wol­len Sie mit mir ge­hen, um die Aus­sicht von dort zu ge­nie­ßen?« Ich folg­te ihr über eine sehr enge Trep­pe zu den Bo­den­kam­mern hin­auf, und von dort über eine Lei­ter und durch eine Fall­tür auf das Dach des Her­ren­hau­ses. Ich be­fand mich jetzt auf glei­cher Höhe mit der Krä­hen­ko­lo­nie und konn­te einen Blick in ihre Nes­ter wer­fen. Als ich mich über die Zin­nen lehn­te und weit hin­un­ter blick­te, sah ich den Park und die Gär­ten wie eine Land­kar­te vor mir lie­gen; der hel­le, wie Samt ge­schor­ne Ra­sen, der sich dicht um das graue Fun­da­ment des Hau­ses zog; die Fel­der und Wie­sen, auf de­nen hier und da große Hau­fen von star­kem Bau­holz la­gen; der erns­te, düs­te­re Wald, durch wel­chen sich ein Fuß­steig zog, des­sen Moos grü­ner war als das Laub der Bäu­me; die Kir­che an der Park­pfor­te; die Land­stra­ße; die Hü­gel, wel­che ma­je­stä­tisch und ru­hig in das kla­re Son­nen­licht des Herbst­ta­ges hin­ein­rag­ten; der wei­te, tief­blaue, mit leich­ten Fe­der­wölk­chen be­sä­e­te Him­mels­bo­gen, das gan­ze vor mir lie­gen­de Bild hat­te kei­nen be­son­ders her­vor­ra­gen­den Zug, aber es war lieb­lich und wohl­ge­fäl­lig. Als ich mein Auge von dem­sel­ben ab­wand­te und wie­der durch die Fall­tür hin­ab­stieg, konn­te ich kaum mei­nen Weg über die Lei­ter hin­un­ter fin­den; im Ver­gleich mit dem blau­en Him­mels­bo­gen, zu dem ich em­por ge­blickt hat­te, er­schi­en die Bo­den­kam­mer fins­ter wie ein Ge­wöl­be; düs­ter wie ein Grab nach je­nem son­ni­gen Bil­de des Par­kes, der Wei­den und grü­nen Hü­gel, des­sen Mit­tel­punkt das Her­ren­haus war, und das ich so­eben noch mit Won­ne be­trach­tet hat­te.

Mrs. Fair­fax blieb einen Au­gen­blick zu­rück, um die Fall­tür zu schlie­ßen; ich tas­te­te mich an den Aus­gang der Bo­den­tür und be­gann dann die enge Bo­den­trep­pe hin­un­ter zu stei­gen. In dem lan­gen Kor­ri­dor, wel­cher zu die­ser führ­te, und die Vor­der­zim­mer und Hin­ter­zim­mer der drit­ten Eta­ge trenn­te, hielt ich inne; schmal, lang und dun­kel, mit ei­nem ein­zi­gen klei­nen Fens­ter am äu­ßers­ten Ende, sah er mit sei­nen bei­den Rei­hen klei­ner, nied­ri­ger, schwar­zer Tü­ren aus wie ein Kor­ri­dor in Rit­ter Blau­barts Schloss.

Als ich dann lei­se vor­wärts schritt, schlug das letz­te Geräusch, wel­ches ich in die­sen Re­gio­nen er­war­tet ha­ben wür­de – ein lau­tes La­chen – an mein Ohr. Es war ein selt­sa­mes La­chen, deut­lich, förm­lich, freud­los. Ich stand still. Der Ton ver­hall­te; doch nur für einen Au­gen­blick; dann be­gann das La­chen von neu­em, lau­ter, denn an­fangs war es, wenn auch deut­lich, doch nur lei­se ge­we­sen. Es en­dig­te mit lau­tem Schall, wel­cher in je­dem ein­sa­men Zim­mer ein Echo zu we­cken schi­en; es drang aber nur aus ei­nem ein­zi­gen, und ich hät­te die Tür be­zeich­nen kön­nen, aus wel­cher die Töne ka­men.

»Mrs. Fair­fax!« schrie ich auf, denn jetzt hör­te ich sie die große Trep­pe her­ab­kom­men. »Ha­ben Sie das lau­te La­chen ge­hört? Wo­her kommt es? Wer war es?«

»Wahr­schein­lich ei­ni­ge der Dienst­mäd­chen«, ent­geg­ne­te sie, »viel­leicht Grace Poo­le.«

»Ha­ben Sie es auch ge­hört?« frag­te ich wie­der.

»Ja, ganz deut­lich. Ich höre sie oft, sie näht in ei­nem die­ser Zim­mer. Zu­wei­len ist Leah bei ihr; sie ma­chen oft großen Lärm mit­ein­an­der.«

Wie­de­r­um er­tön­te das lei­se, ein­tö­ni­ge, schau­ri­ge La­chen, es en­dig­te mit ei­nem selt­sa­men Ge­mur­mel.

»Grace!« rief Mrs. Fair­fax.

Ich er­war­te­te wirk­lich nicht, dass ir­gend eine Grace auf die­sen Ruf ant­wor­ten wer­de; denn das La­chen klang so tra­gisch, so un­na­tür­lich, so über­ir­disch wie ich noch nie­mals eins ver­nom­men; und wenn nicht hel­ler Mit­tag ge­we­sen wäre, und kein ge­spens­ti­scher Um­stand die selt­sa­men Lau­te be­glei­te­te – wenn es nicht ge­we­sen wäre, dass we­der Zeit noch Ort die Ge­s­pens­ter­furcht be­güns­tig­ten, so wür­de ich mich aber­gläu­bi­scher Furcht hin­ge­ge­ben ha­ben. Der Vor­fall zeig­te mir in­des­sen, dass ich eine När­rin war, mich auch nur über­ra­schen zu las­sen.

Die Tür, ne­ben wel­cher ich stand, öff­ne­te sich und eine Die­ne­rin trat her­aus; sie war eine Frau zwi­schen drei­ßig und vier­zig, eine un­ter­setz­te, kno­chi­ge Ge­stalt mit ro­tem Haar und ei­nem har­ten, häss­li­chen Ge­sicht; eine we­ni­ger ro­man­ti­sche oder geis­ter­haf­te Er­schei­nung ließ sich kaum den­ken.

»Zu viel Lärm, Grace«, sag­te Mrs. Fair­fax, »ver­giss dei­ne Wei­sun­gen nicht!« Ohne ein Wort zu sa­gen, mach­te Grace einen Knix und ging wie­der ins Zim­mer.

»Sie ist eine Per­son, die wir hier ha­ben, um zu nä­hen und Leah bei ih­rer Haus­ar­beit zu hel­fen«, fuhr die Wit­we fort, »in man­chen Din­gen ist sie nicht ganz vor­wurfs­frei, aber sie ge­nügt uns. Aber ehe ich’s ver­ges­se, wie wa­ren Sie heu­te Mor­gen mit Ih­rer Schü­le­rin zu­frie­den?«

So kam das Ge­spräch auf Adèle und wir fuh­ren fort, über sie zu spre­chen, bis wir die son­ni­ge­ren, fröh­li­che­ren Re­gio­nen des un­tern Stock­werks er­reicht hat­ten. Adèle kam uns in der Hal­le ent­ge­gen ge­lau­fen und rief:

»Mes­da­mes, vous êtes ser­vies!« Dann füg­te sie la­chend hin­zu: »J’ai bien faim, moi!«

In Mrs. Fair­fax Zim­mer fan­den wir die Mahl­zeit an­ge­rich­tet, wel­che be­reits un­se­rer harr­te.

1 Thorn­field = Dor­nen­feld <<<

Jane Eyre

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