Читать книгу Jane Eyre - Шарлотта Бронте, Charlotte Bront - Страница 16

Achtes Kapitel

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Ehe noch die hal­be Stun­de zu Ende war, schlug es fünf Uhr. Die Klas­sen wur­den ent­las­sen, und alle be­ga­ben sich zum Tee ins Re­fek­to­ri­um. Jetzt wag­te ich, her­ab­zu­stei­gen: es herrsch­te tie­fe Dun­kel­heit. Ich ging in eine Ecke und setz­te mich auf den Fuß­bo­den. Der Zau­ber, der mich so­weit auf­recht er­hal­ten hat­te, be­gann zu schwin­den; die Re­ak­ti­on trat ein, und so über­wäl­ti­gend war der Schmerz, der sich mei­ner be­mäch­tig­te, dass ich auf das Ant­litz zu Bo­den fiel. Jetzt wein­te ich, – He­len Burns war nicht mehr da; nichts, nie­mand hielt mich auf­recht; mir selbst über­las­sen, gab ich mich dem Jam­mer hin, und mei­ne Trä­nen netz­ten den Fuß­bo­den. Ich hat­te die fes­te Ab­sicht ge­habt, gut und brav zu wer­den, in Lo­wood so viel zu ler­nen; mir vie­le Freun­de zu er­wer­ben, Ach­tung zu er­rin­gen und Lie­be zu ern­ten. Schon hat­te ich sicht­ba­re Fort­schrit­te ge­macht; noch an dem­sel­ben Mor­gen war ich die Ers­te in mei­ner Klas­se ge­wor­den; Miss Mil­ler hat­te mich warm ge­lobt; Miss Tem­ple hat­te mir Bei­fall zu­ge­lä­chelt; sie hat­te mir ver­spro­chen, mich zeich­nen zu leh­ren und mich fran­zö­sisch ler­nen zu las­sen, wenn ich noch zwei Mo­na­te fort­fah­ren wür­de, sol­che Fort­schrit­te zu ma­chen. Mei­ne Mit­schü­le­rin­nen wa­ren mir freund­lich ge­sinnt; mei­ne Al­ters­ge­nos­sin­nen be­han­del­ten mich als ih­res­glei­chen, nie­mand quäl­te, nie­mand be­läs­tig­te mich – und jetzt lag ich hier zer­tre­ten, zer­malmt! Wür­de ich mich je­mals wie­der er­he­ben kön­nen?

»Nie­mals«, dach­te ich; und bren­nend, glü­hend wur­de der Wunsch in mir rege, ster­ben zu kön­nen. Wäh­rend ich in ge­bro­che­nen Lau­ten die­sen Wunsch her­vor­stam­mel­te, nä­her­te sich mir je­mand; ich fuhr em­por – wie­der­um war He­len Burns mir nahe; das er­lö­schen­de Feu­er ließ mich ge­ra­de noch er­ken­nen, wie sie durch das große, lee­re Zim­mer da­her kam, sie brach­te mir Kaf­fee und Brot.

»Komm, iss ein we­nig«, sag­te sie; aber ich schob bei­des zu­rück; mir war, als hät­te ein Bis­sen, ein Trop­fen in mei­nem ge­gen­wär­ti­gen Zu­stan­de eine Er­sti­ckung her­bei­füh­ren müs­sen. He­len sah mich wahr­schein­lich mit Er­stau­nen an; wie sehr ich mich auch be­müh­te, jetz­t konn­te ich mei­ner Er­re­gung nicht Herr wer­den. Ich fuhr fort laut zu wei­nen. Sie setz­te sich zu mir auf den Fuß­bo­den, schlang die Arme um ihre Knie und leg­te ih­ren Kopf auf die­sel­ben; in die­ser Stel­lung ver­harr­te sie re­gungs­los wie ein In­dia­ner. Ich war die ers­te, die sprach:

»He­len, wes­halb bleibst du bei ei­nem Mäd­chen, das je­der­mann für eine Lüg­ne­rin hält?«

»Je­der­mann, Jane? Nun, es sind doch nur acht­zig We­sen, wel­che dich so nen­nen hör­ten, und die Welt trägt ih­rer Hun­der­te von Mil­lio­nen.«

»Aber was habe ich mit Mil­lio­nen zu tun? Die acht­zig, wel­che ich ken­ne, ver­ach­ten mich.«

»Jane, du irrst; wahr­schein­lich ist nicht eine ein­zi­ge in der gan­zen Schu­le, die dich ver­ach­tet oder dich hasst; vie­le – des­sen bin ich ge­wiss – be­dau­ern dich von gan­zem Her­zen.«

»Wie kön­nen sie mich nach dem, was Mr. Brock­le­hurst ge­sagt hat, noch be­dau­ern?«

»Mr. Brock­le­hurst ist kein Gott; er ist nicht ein­mal ein großer und be­wun­der­ter Mensch; man liebt ihn hier nicht; er hat auch nie­mals ir­gend et­was ge­tan, um sich be­liebt zu ma­chen. Wenn er dich wie sei­nen be­son­de­ren Lieb­ling be­han­delt hät­te, so wür­dest du rund um­her nur Fein­de ge­fun­den ha­ben, of­fe­ne oder heim­li­che, – wie die Din­ge jetzt aber lie­gen, wür­den die meis­ten Mäd­chen die Sym­pa­thie gern be­wei­sen, wenn sie nur den Mut dazu hät­ten. Mög­lich ist es, dass Leh­re­rin­nen und Schü­le­rin­nen dich wäh­rend der nächs­ten zwei, drei Tage mit kal­ten Bli­cken be­trach­ten, aber glaub mir, freund­li­che Ge­füh­le und Ge­sin­nun­gen tra­gen sie für dich im Her­zen. Und wenn du fort­fährst, gut und flei­ßig zu sein, so wer­den die­se Ge­füh­le bin­nen kur­z­em umso au­gen­schein­li­cher zu Tage tre­ten, weil sie eine Zeit lang un­ter­drückt wer­den muss­ten. Au­ßer­dem, Jane« – – sie hielt inne.

»Nun, He­len?« frag­te ich und leg­te mei­ne Hand in die ihre; zärt­lich rieb sie mei­ne Fin­ger, um sie zu er­wär­men und fuhr dann fort:

»Wenn die gan­ze Welt dich hass­te und dich für böse und gott­los hielt, so wür­dest du doch Freun­de ha­ben, so­lan­ge dein ei­ge­nes Ge­wis­sen dich von Schuld frei­spricht und dir Recht gibt.«

»Nein; ich weiß, dass ich selbst dann gut von mir den­ken wür­de; aber das ist nicht ge­nug; wenn an­de­re mich nicht lie­ben, so will ich lie­ber ster­ben als le­ben – ich kann es nicht er­tra­gen, ein­sam und ge­hasst und ver­ach­tet zu sein, He­len. Sieh doch – um von dir oder Miss Tem­ple oder sonst je­mand, den ich wirk­lich lie­be, ein we­nig wah­re, auf­rich­ti­ge Lie­be zu er­rin­gen, wür­de ich mir gern den Kno­chen mei­nes Arms zer­bre­chen oder mich von ei­nem wil­den Stier auf­spie­ßen las­sen oder mich ei­nem scheu ge­wor­de­nen Pfer­de in den Weg wer­fen und mei­ne Brust von sei­nen Hu­fen zer­tre­ten las­sen – –«

»Still Jane, still! Du denkst zu viel an die Lie­be der Men­schen; du bist zu stür­misch, zu hef­tig, du lässt dich zu sehr von dei­nen Emp­fin­dun­gen be­herr­schen. Die all­mäch­ti­ge Hand, die dei­nen Leib er­schaf­fen und ihm Le­ben ein­ge­haucht hat, gab dir an­de­re Stüt­zen als dein schwa­ches Selbst oder We­sen; die­se sind eben­so schwach wie du. Au­ßer die­ser Welt, au­ßer dem Men­schen­ge­schlecht gibt es eine un­sicht­ba­re Welt und ein Reich der Geis­ter; die­se Welt um­gibt uns, denn sie ist über­all, die­se Geis­ter be­wa­chen uns, denn sie sind da, um uns zu be­hü­ten; und wenn wir in Kum­mer und Schan­de stür­ben, wenn Ver­ach­tung von al­len Sei­ten auf uns ein­drän­ge, wenn Hass uns zer­malm­te – so sä­hen En­gel un­se­re Qua­len, er­kenn­ten un­se­re Un­schuld, wenn wir un­schul­dig sind – und ich weiß, du bist schuld­los; die­se An­kla­ge, wel­che Mr. Brock­le­hurst aus zwei­ter Hand von Mrs. Reed hat und so jäm­mer­lich und schwach und pa­the­tisch ge­gen dich wie­der­hol­te, – sie trifft dich nicht; denn auf dei­ner rei­nen Stirn, in dei­nen le­bens­vol­len Au­gen steht es ge­schrie­ben, dass du eine wah­re of­fen­her­zi­ge Na­tur bist – und Gott er­war­tet nur die Tren­nung der See­le vom Flei­sche, um uns mit dem höchs­ten Lohn zu krö­nen. Nun denn, wes­halb von Leid über­wäl­tigt zu Bo­den sin­ken, wenn das Le­ben so bald zu Ende ist, und der Tod uns den Ein­tritt zu Se­lig­keit und Herr­lich­keit be­deu­tet?«

Ich schwieg. He­len hat­te mich be­ru­higt; aber die Ruhe, wel­che sie mir ge­ge­ben, hat­te einen Zu­satz von un­säg­li­cher Trau­rig­keit. Ich fühl­te den Ein­druck von Weh als sie sprach, aber ich konn­te nicht sa­gen, wo­her er kam; und als sie mit ih­rer Rede zu Ende, ein we­nig schnel­ler at­me­te und tro­cken und kurz hus­te­te, ver­gaß ich für einen Au­gen­blick mei­nen ei­ge­nen Kum­mer und gab mich ei­ner un­be­stimm­ten Furcht und Un­ru­he in Be­zug auf sie hin.

Mei­nen Kopf an He­lens Schul­ter leh­nend, schlang ich mei­nen Arm um ihre Tail­le; sie zog mich an sich, und so ruh­ten wir lan­ge schwei­gend. Nach Ver­lauf von un­ge­fähr ei­ner Vier­tel­stun­de trat eine drit­te Per­son ins Zim­mer. Ein fri­scher Wind hat­te ei­ni­ge schwe­re Wol­ken vom Ho­ri­zont fort­ge­trie­ben, und der Mond ging klar auf; durch ein na­hes Fens­ter warf er sei­ne hel­len Strah­len auf uns und die na­hen­de Ge­stalt, in wel­cher wir so­fort Miss Tem­ple er­kann­ten.

»Ich kam, um dich zu su­chen, Jane Eyre«, sag­te sie, »du sollst in mein Zim­mer kom­men, und da He­len Burns bei dir ist, mag sie uns be­glei­ten.«

Wir gin­gen. Un­ter Füh­rung der Vor­ste­he­rin hat­ten wir un­se­ren Weg durch ein La­by­rinth von Kor­ri­do­ren zu su­chen und eine Trep­pe em­por­zu­stei­gen, be­vor wir ihr Zim­mer er­reich­ten. Ein hel­les Feu­er brann­te in dem­sel­ben; es sah freund­lich und be­hag­lich aus. Miss Tem­ple be­deu­te­te He­len Burns, sich in einen nied­ri­gen Lehn­ses­sel an ei­ner Sei­te des Ka­mins zu set­zen; sie selbst nahm einen zwei­ten und rief mich an ihre Sei­te.

»Ist es jetzt vor­über?« frag­te sie und blick­te mir ins Ge­sicht. »Hast du dei­nen Kum­mer fort­ge­weint?«

»Ich fürch­te, das wer­de ich nicht kön­nen.«

»Wes­halb?«

»Weil ich un­ge­recht und fälsch­lich be­schul­digt wor­den bin; und jetzt wer­den Sie, Ma­da­me, und alle an­de­ren Men­schen mich für böse und gott­los hal­ten.«

»Wir wer­den dich für das hal­ten, mein Kind, als was du dich er­weist. Fah­re fort, dich wie ein gu­tes Mäd­chen zu be­tra­gen und du wirst mich zu­frie­den stel­len.«

»Ge­wiss, Miss Tem­ple?«

»Ge­wiss, Jane«, sag­te sie und schlang ih­ren Arm um mich. »Und jetzt er­zäh­le mir, wer die Dame ist, die Mr. Brock­le­hurst dei­ne Wohl­tä­te­rin nann­te.«

»Mrs. Reed, die Gat­tin mei­nes On­kels. Mein On­kel ist tot, und er ließ mich in ih­rer Ob­hut zu­rück.«

»Sie nahm dich also nicht aus ei­ge­nem An­trieb an Kin­des­statt an?«

»Nein, Ma­da­me; sie hat es sehr un­gern ge­tan; aber wie ich die Dienst­bo­ten oft er­zäh­len hör­te, nahm er ihr kurz vor sei­nem Tode das Ver­spre­chen ab, stets für mich sor­gen zu wol­len.«

»Nun also, Jane, du weißt ja, oder ich will es dir sa­gen, dass wenn ein Ver­bre­cher an­ge­klagt wird, man ihm stets ge­stat­tet, sei­ne ei­ge­ne Ver­tei­di­gung zu füh­ren. Man hat dich der Falsch­heit, der Lü­gen­haf­tig­keit an­ge­klagt; ver­tei­di­ge dich vor mir so gut du kannst. Sag al­les, was dein Ge­dächt­nis als wahr recht­fer­ti­gen kann; aber füge nichts hin­zu, ver­schwei­ge nichts, über­trei­be nichts.«

In der Tie­fe mei­nes Her­zens be­schloss ich, mich zu mä­ßi­gen, so kor­rekt wie mög­lich zu sein; und nach­dem ich ei­ni­ge Au­gen­bli­cke nach­ge­dacht hat­te, um das, was ich zu sa­gen hat­te, zu­sam­men­hän­gend zu ord­nen, er­zähl­te ich ihr die gan­ze Ge­schich­te mei­ner trau­ri­gen Kind­heit. Durch die Er­re­gung sehr er­schöpft, sprach ich in ge­mä­ßig­te­ren Aus­drücken, als ich es sonst zu tun pfleg­te, wenn ich auf die­ses qual­vol­le The­ma kam; und He­lens War­nung ge­den­kend, mich dem Ra­che­ge­fühl nicht rück­halts­los hin­zu­ge­ben, ließ ich viel we­ni­ger Gal­le und Wer­mut in die Er­zäh­lung ein­flie­ßen, als es sonst wohl ge­sch­ah. So ver­ein­facht und be­schränkt, klang sie sehr glaub­wür­dig: wäh­rend ich sprach, emp­fand ich, dass Miss Tem­ple mir vol­len Glau­ben schenk­te.

Im Lau­fe der Er­zäh­lung hat­te ich er­wähnt, dass Mr. Lloyd ge­kom­men sei, um mich nach je­nem Krampf­an­fal­le zu be­su­chen; denn nie­mals ver­gaß ich die für mich so ent­setz­li­che Epi­so­de in dem ro­ten Zim­mer; wenn ich die­se De­tails er­zähl­te, konn­te ich ge­wiss sein, dass mei­ne Er­re­gung in ei­nem ge­wis­sen Gra­de die Gren­zen über­schritt; denn selbst in mei­ner Erin­ne­rung noch hat­te die To­des­angst sich frisch er­hal­ten, wel­che sich mei­ner be­mäch­tig­te, als Mrs. Reed mein wil­des Fle­hen um Ver­zei­hung ver­lach­te und mich zum zwei­ten Mal in das düs­te­re, ge­spens­ti­sche Zim­mer sperr­te.

Ich war zu Ende. Schwei­gend be­trach­te­te Miss Tem­ple mich ei­ni­ge Mi­nu­ten; dann sag­te sie:

»Ich habe von Mr. Lloyd ge­hört; ich wer­de an ihn schrei­ben; wenn sei­ne Ant­wort mit dei­nen An­ga­ben über­ein­stimmt, so sollst du öf­fent­lich von je­der An­kla­ge frei­ge­spro­chen wer­den. Für mich, Jane, stehst du schon jetzt un­schul­dig da.«

Sie küss­te mich und be­hielt mich noch an ih­rer Sei­te. Mir ge­währ­te das Be­trach­ten ih­res An­ge­sichts, ih­res Klei­des, ih­rer we­ni­gen prunklo­sen Schmuck­ge­gen­stän­de, ih­rer wei­ßen Stirn, ih­rer di­cken, glän­zen­den Lo­cken und strah­len­den schwar­zen Au­gen ein kind­li­ches Ver­gnü­gen. Zu He­len Burns ge­wandt, fuhr sie fort:

»Wie geht es dir heu­te Abend, He­len? Hast du wäh­rend des gan­zen Ta­ges viel ge­hus­tet?«

»Nicht ganz so viel wie sonst, glau­be ich.«

»Und der Schmerz in dei­ner Brust?«

»Er ist nicht mehr so hef­tig.«

Miss Tem­ple er­hob sich, nahm ihre Hand und prüf­te den Puls. Dann kehr­te sie auf ih­ren Sitz zu­rück; ich hör­te, wie sie lei­se seufz­te. In Nach­den­ken ver­sun­ken, ver­harr­te sie ei­ni­ge Mi­nu­ten; dann er­wach­te sie gleich­sam und sag­te fröh­lich:

»Aber heu­te Abend seid ihr bei­de mei­ne Gäs­te; ich muss euch als sol­che be­wir­ten.« Sie zog die Glo­cke.

»Bar­ba­ra«, sprach sie zu dem Mäd­chen, wel­ches hier­auf ein­trat, »ich habe noch kei­nen Tee ge­trun­ken, brin­ge das Tee­brett und brin­ge auch Tas­sen für die­se bei­den jun­gen Da­men.«

Bald wur­de das Tee­brett ge­bracht. Wie hübsch er­schie­nen der glän­zen­de Tee­topf und die Por­zel­lan­tas­sen mei­nen Au­gen, als sie auf dem klei­nen Tisch ne­ben dem Ka­min stan­den! Wie köst­lich war das Aro­ma des hei­ßen Ge­tränks. Und nun erst der Duft der ge­rös­te­ten Weiß­brot­schnit­ten! Zu mei­nem Be­dau­ern – denn der Hun­ger be­gann jetzt, sich bei mir fühl­bar zu ma­chen – sah ich nur eine klei­ne Por­ti­on da­von auf dem Tel­ler; auch Miss Tem­ple schi­en die­se Ent­de­ckung zu ma­chen.

»Bar­ba­ra«, sag­te sie, »könn­test du mir nicht noch et­was Brot und But­ter brin­gen? Es ist nicht ge­nug für drei.«

Bar­ba­ra ging hin­aus. – Gleich dar­auf kam sie zu­rück.

»Ma­da­me, Mrs. Har­den sagt, sie habe die ge­wöhn­li­che Por­ti­on her­auf­ge­schickt.«

Ich muss be­mer­ken, dass Mrs. Har­den die Haus­häl­te­rin war, eine Frau nach Mr. Brock­le­hursts Her­zen, die aus glei­chen Tei­len Fisch­bein und Ei­sen zu­sam­men­ge­setzt war.

»Schon gut, schon gut!« ent­geg­ne­te Miss Tem­ple; »dann muss es wohl für uns ge­nug sein, Bar­ba­ra.« Als das Mäd­chen fort war, füg­te sie lä­chelnd hin­zu: »Glück­li­cher­wei­se liegt es in mei­ner Macht, dem Man­gel die­ses eine Mal noch ab­zu­hel­fen.«

Nach­dem sie He­len und mich auf­ge­for­dert hat­te, uns an den Tisch zu set­zen, und je­der von uns eine Tas­se hei­ßen Tee’s und eine Schei­be köst­li­chen ge­rös­te­ten Weiß­brots ge­ge­ben hat­te, er­hob sie sich, öff­ne­te eine Schieb­la­de, nahm aus der­sel­ben ein in Pa­pier ge­wi­ckel­tes Pa­ket und ent­hüll­te vor un­se­ren Au­gen einen großen, präch­ti­gen Krü­mel­ku­chen.

»Ich hat­te die Ab­sicht, je­der von euch ein Stück hier­von mit auf den Weg zu ge­ben«, sag­te sie, »da man uns aber so we­nig Toast be­wil­ligt hat, sollt ihr es jetzt schon ha­ben«, und sie be­gann mit groß­mü­ti­ger Hand, den Ku­chen in Schei­ben zu schnei­den.

Wir schmaus­ten an die­sem Abend wie von Nek­tar und Am­bro­sia; und es war nicht die kleins­te Freu­de die­ses Fes­tes, dass un­se­re Wir­tin uns mit freund­lich zu­frie­de­nem Lä­cheln zu­sah, wie wir un­se­ren re­gen Ap­pe­tit an den köst­li­chen Lecker­bis­sen, wel­che sie uns vor­setz­te, still­ten. Als der Tee ge­trun­ken und der Tisch ab­ge­räumt war, rief sie uns wie­der an den Ka­min; wir setz­ten uns an jede Sei­te von ihr, und jetzt folg­te ein Ge­spräch zwi­schen He­len und ihr, wel­chem lau­schen zu dür­fen al­ler­dings eine Be­güns­ti­gung war.

Miss Tem­ple hat­te stets et­was von See­len­frie­den in ih­rem Äu­ße­ren, von Ho­heit in ih­rer Mie­ne, von ge­läu­ter­tem An­stand in ih­rer Spra­che, wel­ches jede Ab­wei­chung in das Feu­ri­ge, Er­reg­te, Un­ge­stü­me aus­schloss – ein Et­was, wel­ches die Freu­de je­ner hei­lig­te, wel­che ihr zu­hör­ten, wel­che sie an­blick­ten, und al­len ein Ge­fühl der Ehr­furcht ein­flö­ßte. In die­sem Au­gen­blick war es auch mei­ne Emp­fin­dung: – was aber He­len Burns an­be­traf, so über­rasch­te sie mich aufs höchs­te.

Das er­fri­schen­de Mahl, das wär­me­n­de Feu­er, die Ge­gen­wart ih­rer ge­lieb­ten Leh­re­rin oder viel­leicht mehr als al­les die­ses et­was in ih­rem ei­ge­nen sel­te­nen Ge­müt, hat­te alle Kräf­te und Ga­ben in ihr ge­weckt. Sie er­wach­ten, sie ent­flamm­ten; zu­erst glüh­ten sie in den strah­len­den Far­ben ih­rer Wan­gen, wel­che ich bis zu die­ser Stun­de nie­mals an­ders als bleich und blut­leer ge­kannt hat­te; dann strahl­ten sie in dem feuch­ten Glanz ih­rer Au­gen, wel­che plötz­lich eine Schön­heit be­kom­men hat­ten, die noch ei­gen­tüm­li­cher war, als jene Miss Temp­les – eine Schön­heit, die we­der in der schö­nen Far­be noch in den lan­gen Wim­pern oder den herr­lich ge­zeich­ne­ten Au­gen­brau­en lag, – son­dern in dem Aus­druck, in der Be­we­gung, in dem Glanz. Jetzt trug sie das Herz auf der Zun­ge und die Spra­che floss – aus wel­cher Quel­le weiß ich nicht – denn hat ein vier­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen ein Herz, das groß ge­nug, stark und kräf­tig ge­nug ist, um den brau­sen­den Quell der rei­nen, vol­len, feu­ri­gen Be­red­sam­keit fas­sen zu kön­nen? Dies war die Ei­gen­art von He­lens Ge­sprächs­wei­se an die­sem mir un­ver­ge­ss­li­chem Aben­de; es war, als wol­le ihr Geist sich be­ei­len, in ei­ner kur­z­en Span­ne Zeit eben­so voll und ganz zu le­ben, wie die meis­ten Men­schen wäh­rend ei­nes lan­gen Da­seins.

Sie spra­chen über Din­ge, von de­nen ich nie­mals ge­hört hat­te; von längst ge­schwun­de­nen Zei­ten und Na­tio­nen; von fer­nen Län­dern, von ent­deck­ten oder nur ge­ahn­ten Na­tur­ge­heim­nis­sen – sie spra­chen von Bü­chern. Wie vie­le sie ge­le­sen hat­ten! Wel­chen rei­chen Schatz von Kennt­nis­sen sie be­sa­ßen! Dann schie­nen sie so ver­traut mit fran­zö­si­schen Na­men und fran­zö­si­schen Schrift­stel­lern; aber mein Er­stau­nen stieg aufs höchs­te, als Miss Tem­ple He­len frag­te, ob sie zu­wei­len einen frei­en Au­gen­blick er­üb­ri­gen kön­ne, um das La­tein, wel­ches ihr Va­ter sie ge­lehrt hat­te, zu wie­der­ho­len; dann nahm sie ein Buch von ei­nem Bü­cher­brett und bat sie, eine Sei­te des Vir­gil zu le­sen und zu über­set­zen; He­len ge­horch­te und mein Sinn für Ver­eh­rung und Hochach­tung er­wei­ter­te sich, wäh­rend ich lausch­te. Kaum hat­te sie ge­en­det, als die Glo­cke er­tön­te, wel­che die Zeit des Schla­fen­ge­hens ver­kün­de­te; wir durf­ten nicht län­ger ver­wei­len; Miss Tem­ple um­arm­te uns bei­de und sag­te wäh­rend sie uns an ihr Herz zog:

»Gott seg­ne euch, mei­ne Kin­der!«

He­len hielt sie ein we­nig län­ger ans Herz ge­drückt als mich; sie ließ sie wi­der­stre­ben­der von sich; He­len folg­te ihr Auge bis an die Tür; ihr galt der trau­ri­ge Seuf­zer, wel­cher ihre Brust hob, ihr die Trä­ne, wel­che sie schnell zu trock­nen be­müht war.

Als wir das Schlaf­zim­mer er­reich­ten, hör­ten wir Miss Scat­cherds Stim­me; sie sah nach, ob die Schieb­la­den in Ord­nung wa­ren; ge­ra­de hat­te sie jene von He­len Burns her­aus­ge­zo­gen, und als wir ein­tra­ten, wur­de He­len mit ei­nem schar­fen Ver­wei­se be­grüßt und die Leh­re­rin kün­dig­te ihr an, dass sie am fol­gen­den Tage mit ei­nem hal­b­en Dut­zend un­or­dent­li­cher Din­ge an die Schul­ter ge­hef­tet um­her ge­hen wer­de.

»Mei­ne Sa­chen be­fan­den sich al­ler­dings in ei­ner em­pö­ren­den Un­ord­nung«, flüs­ter­te He­len mir zu, »ich hat­te die Ab­sicht ge­habt auf­zuräu­men, aber ich ver­gaß es.«

Am nächs­ten Mor­gen schrieb Miss Scat­cherd mit weit­hin sicht­ba­ren Buch­sta­ben auf ein Stück Pap­pe das Wort »Sch­lam­pe« und band es wie einen Denk­zet­tel um He­lens große, in­tel­li­gen­te und mil­de Stirn. Ge­dul­dig und ohne Mur­ren trug sie es bis zum Abend, es wie eine ver­dien­te Stra­fe an­se­hend. Kaum hat­te Miss Scat­cherd sich nach den Nach­mit­tags-Un­ter­richts­stun­den zu­rück­ge­zo­gen, als ich auf He­len los­stürz­te, es her­abriss und es ins Feu­er warf. Die Wut, de­ren sie nicht fä­hig war, hat­te den gan­zen Tag über in mei­ner See­le ge­tobt, und große, hei­ße Trä­nen hat­ten fort­wäh­rend mei­ne Wan­gen ge­netzt; denn der An­blick ih­rer trau­ri­gen Re­si­gna­ti­on gab mir einen un­er­träg­li­chen Stich ins Herz.

Un­ge­fähr eine Wo­che nach den oben er­wähn­ten Er­zäh­lun­gen er­hielt Miss Tem­ple, wel­che an Mr. Lloyd ge­schrie­ben hat­te, des­sen Ant­wort; wie es schi­en, er­gänz­te das, was er sag­te, mei­nen Be­richt. Miss Tem­ple rief die gan­ze Schu­le zu­sam­men und ver­kün­de­te, dass die An­kla­gen, wel­che ge­gen Jane Eyre er­ho­ben, ge­nau und sorg­fäl­tig un­ter­sucht wor­den, und dass sie glück­lich sei, mich von je­der Schuld frei­spre­chen zu kön­nen. Da­rauf schüt­tel­ten die Leh­re­rin­nen mir die Hän­de und küss­ten mich, und ein Mur­meln der Freu­de lief durch die Rei­hen mei­ner Ge­fähr­tin­nen.

Eine schwe­re Last war mir vom Her­zen ge­nom­men; und von die­ser Stun­de an be­gann ich von neu­em ernst­lich zu ar­bei­ten; ich war fest ent­schlos­sen, mir einen Weg über alle Schwie­rig­kei­ten hin­fort zu bah­nen; ich müh­te mich ab, und der Er­folg ent­sprach mei­nen An­stren­gun­gen; mein Ge­dächt­nis, wel­ches von Na­tur nicht sehr stark war, bes­ser­te sich durch ste­te Übung; mein Ver­stand wur­de durch die Ar­beit ge­schärft; nach ei­ni­gen Wo­chen wur­de ich in eine hö­he­re Klas­se ver­setzt; in we­ni­ger als zwei Mo­na­ten ge­stat­te­te man mir, mit dem Fran­zö­si­schen und Zeich­nen zu be­gin­nen. Ich lern­te die ers­ten bei­den Zei­ten des Ver­bums être und skiz­zier­te mei­ne ers­te Hüt­te – de­ren Mau­ern ne­ben­bei ge­sagt in schrä­ger Rich­tung den hän­gen­den Turm von Pisa bei wei­tem über­tra­fen – an dem­sel­ben Tage. Als ich an je­nem Abend zu Bet­te ging, ver­gaß ich, in mei­ner Fan­ta­sie das Bar­me­ci­den-Sou­per von hei­ßen Brat­kar­tof­feln und Weiß­brot und frisch­ge­mol­ke­ner Milch zu be­rei­ten, mit dem ich sonst mein in­ne­res Seh­nen zu be­frie­di­gen pfleg­te; statt des­sen er­götz­te ich mich an dem An­blick idea­ler Zeich­nun­gen, wel­che ich im Dun­keln sah, alle das Werk mei­ner ei­ge­nen Hand: fein ge­zeich­ne­te Häu­ser und Bäu­me, ma­le­ri­sche Fel­sen und Rui­nen, statt­li­che Vieh­her­den, rei­zen­de Ma­le­rei­en von Schmet­ter­lin­gen, wel­che hal­b­er­schlos­se­ne Ro­sen um­flo­gen; Vö­gel, wel­che an rei­fen Kir­schen pick­ten, Nes­ter von Zaun­kö­ni­gen, in de­nen perl­große Eier la­gen, wäh­rend jun­ge Epheu­ran­ken sie um­wu­cher­ten. Im Ge­dan­ken ven­ti­lier­te ich auch die Mög­lich­keit, ob ich je­mals im­stan­de sein wür­de, ein ge­wis­ses klei­nes fran­zö­si­sches Ge­schich­ten­buch, wel­ches Ma­da­me Pier­rot mir an je­nem Tage ge­zeigt hat­te, flie­ßend über­set­zen zu kön­nen; – aber noch war die­ses Pro­blem nicht zu mei­ner Zufrie­den­heit ge­löst, als ich sanft ein­sch­lief.

Wie rich­tig hat Sa­lo­mo ge­sagt: – »Bes­ser ein Mahl von fri­schen Kräu­tern, wo die Lie­be ist, als ein ge­mä­s­te­ter Och­se, wo der Hass ist.«

Jetzt hät­te ich Lo­wood mit all sei­nen Ent­beh­run­gen nicht mehr ge­gen Ga­tes­head-Hall mit sei­nem täg­li­chen Lu­xus ein­ge­tauscht.

Jane Eyre

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