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c) Forschungsprojekt: Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe
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Diese 2010 erschienene qualitative Untersuchung der strukturellen Bedingungen von Wirtschaftskriminalität[1] stellt seit den Arbeiten von Sutherland, Clinard und Yeager sowie Braithwaite die erste umfassende Untersuchung von Wirtschaftskriminalität im Unternehmenskontext dar. Die auf den ersten Blick nahe liegende Annahme, es könne sich in erster Linie um eine Untersuchung von Kriminalität in einer politischen Umbruchssituation handeln, geht fehl. Vielmehr steht der, durch die Umbruchsituation bedingte, Aspekt der Privatisierung von mehr als 8000 Unternehmen der ehemaligen DDR und die hieraus resultierende Wirtschaftskriminalität im Mittelpunkt. Das Auftreten von Wirtschaftskriminalität wird von den Autoren im Hinblick auf generelle strukturtypische Bedingungen untersucht, wobei neben den (westlichen oder westlich strukturierten) Akteuren auf Verkäufer- und Käuferseite auch die Treuhandanstalt eine prominente Rolle spielt. Die Herangehensweise der Autoren ist maßgeblich von der grounded theory[2] geprägt, d. h. von einem Wechselspiel zwischen einem vor der empirischen Untersuchung festgelegten theoretischen Ansatz und den tatsächlichen Erhebungen. Es handelt sich also nicht um eine deduktive Methode, jedoch legten die Autoren schon zu Anfang die Rational-Choice-Theorie einerseits und die Systemtheorie andererseits als theoretischen Rahmen fest, um einerseits auf einen akteursorientierten Ansatz für die individuellen Täter zurückgreifen zu können und andererseits mithilfe der autopoietischen Systemtheorie die Besonderheiten der Unternehmensorganisation erfassen zu können. Diese theoriebezogene Ausgangsentscheidung führt zur Erfassung sowohl der Fälle mit individuellen Tätern als auch derer, in die das Unternehmen als Ganzes involviert war. Die Ergebnisse der Voruntersuchung und des theoretischen Grundgerüstes führten wiederum zu ersten Arbeitshypothesen, die das Erhebungsinstrumentarium beeinflussten und im Verlaufe der Untersuchung stets überprüft und gegebenenfalls abgeändert wurden; insofern ein induktiv-deduktives Wechselspiel.[3]
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Das als Methode gewählte qualitative problemzentrierte Experteninterview wurde mit 74, in verschiedenen Privatisierungsprozessen bzw. Strafverfahren beteiligten Personen durchgeführt. Die Auswahl der Interviewpartner wurde maßgeblich durch eine Analyse der staatsanwaltschaftlichen Akten bzw. der Akten der Stabsstelle Recht der Treuhandstelle bestimmt.[4] Als „Experten“ wurden diejenigen bezeichnet, die aufgrund ihrer Einbindung in eine bestimmte Organisation oder organisationsbezogenen Agierens über spezifische Erfahrungen und Wissensbestände verfügen und somit institutionelle Handlungsabläufe und Entscheidungsprozesse beschreiben konnten.[5] Im Rahmen des „leitfadenorientierten Experteninterviews“ ging es den Autoren aber auch darum zu erkennen, welche individuellen und kollektiven Handlungs- und Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Realität existieren. Es wurde also nicht die Gesamtperson in ihrem individuellen und kollektiven Lebenszusammenhang betrachtet, sondern die institutionell-organisatorische Kohärenz, in der diese Person agiert, fokussiert.[6] Im Anschluss erfolgte ein Vergleich der devianten mit den nicht strafrechtlich auffälligen Privatisierungen.
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Entsprechend des gewählten theoretischen Rahmen – die grounded theory, die eine perspektivlose Datenerhebung vermeidet – wird schon auf Ebene der Fragestellung und Definition differenziert: Wirtschaftskriminalität umfasst hiernach einerseits Berufliche Kriminalität und andererseits Unternehmenskriminalität.[7] Zentral für die Unterscheidung ist das Kriterium des Eigennutzes, zu dem die Berufliche Kriminalität begangen wird, wohingegen Unternehmenskriminalität Straftaten umfassen soll, die im Interesse eines legalen Unternehmens begangen werden.[8]
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Hinsichtlich der Beruflichen Kriminalität stellen die Autoren heraus, dass die Entscheidung der individuellen Akteure für kriminelles Verhalten von der durch den Akteur vorgenommenen Definition der Situation abhängt. Kriminelles Verhalten wird dann als Handlungsoption wahrgenommen, wenn der Akteur keine legale Möglichkeit sieht, sein Ziel zu erreichen, bzw. die Wahl des legalen Weges höhere Kosten verursacht.[9] Die so erkannte Option wird dann in die Tat umgesetzt, wenn durch die strukturellen Bedingungen Gelegenheiten geschaffen werden und der Akteur gleichzeitig davon ausgehen kann, dass die Grenzüberschreitung aufgrund mangelnder Kontrolle nicht bemerkt oder nur gering bestraft wird. Im Hinblick auf die in der Studie für diesen Kriminalitätsbereich maßgeblichen Fälle der Treuhandniederlassung Halle und der Käufer des Wärmeanlagebaus Berlin wurde festgestellt, dass für die maßgeblichen Akteure die Maximierung des zu erzielenden finanziellen Gewinns im Vordergrund stand. Mangels entgegenstehender persönlicher Werte und Einstellungen wären die Strukturen die einzige Hürde, die deviantem Verhalten entgegengestanden hätten; in diesem Fall boten sie eine Tatgelegenheit. Das oben genannte Primat der schnellen Privatisierung ging mit großen, unkontrollierten Handlungsspielräumen einher. Neben der schnellen Vollziehung des Verkaufs der Unternehmen an Investoren wurden zwar auch Ziele wie Arbeitsplatzerhalt oder die Fortführung des Unternehmens sowie der Verkauf zum realen Unternehmenswert formuliert, jedoch wurde dem Ziel der schnellen Abwicklung eine Präferenz vor den anderen Zielen eingeräumt. Die Akteure folgerten hieraus, dass keine Kontrollen durch die Treuhandanstalt erfolgen würden, solange das „Hauptziel“ erreicht wurde. Im Fall der Privatisierung in Halle[10] konnte beispielsweise der Privatisierungsdirektor, der die Preise für die zu privatisierenden Unternehmen festlegte und die Verträge überprüfte, eine „Provision“ für die Verkaufsabwicklung verlangen. In der Folge etablierte sich ein gut funktionierendes Netz von, zum persönlichen Vorteil handelnden, Privatisierern, die Ausschreibungsbetrug in Verbindung mit Bestechung begingen.
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Im Fall der Privatisierung des Wärmeanlagebaus Berlin[11] erfolgte die persönliche Bereicherung auf der „gegenüberliegenden Seite“; die Investoren höhlten das Unternehmen aus mit der Folge des Konkurses. Bereits vor dem Kauf wurden dem Unternehmen Geldmittel entzogen und in Form von „Beraterverträgen“ und überteuerten Ankäufen den Tätern zugeleitet. In der Folge wurde das Unternehmen als kaum liquide und marode evaluiert und dadurch deutlich unter Wert verkauft. Nach Übernahme durch die Chematec AG wurde das Unternehmen Wärmeanlagebau Berlin kontinuierlich ausgehöhlt, in seinem Eigentum befindliche Grundstücke unter Umgehung von vertraglich vereinbarten Spekulationsklauseln veräußert und letztlich 1995 der Insolvenz preisgegeben. Die Autoren der Studie folgern insbesondere aus der Untersuchung dieser Fälle, dass die Wahrscheinlichkeit nicht-konformen Verhaltens bei primär an hohem persönlichen Gewinn orientierten Tätern durch folgende Faktoren erhöht wird: (1) Geschäftsabwicklung innerhalb kurzer Zeit, (2) unzureichende Regelformulierung innerhalb der Organisation darüber, wie Geschäfte abzuwickeln sind, (3) ein Übermaß an Handlungsfreiräumen innerhalb der Organisation bei gleichzeitiger Vagheit der Zielvorgaben, (4) fehlende Kontrollinstanzen innerhalb der Organisation und (5) eine geringe Wahrscheinlichkeit strafrechtlicher Kontrolle.[12]
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Hinsichtlich des zweiten untersuchten Aspekts, der Unternehmenskriminalität, wird herausgestellt, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Strukturen und den Entscheidungen von Organisationen, zu denen Unternehmen zu zählen sind, gibt.[13] Die systemtheoretische Herangehensweise der Autoren bestimmte Fragestellung und Schlussfolgerungen zu diesem Untersuchungsteil: da davon ausgegangen wurde, dass organisationsexterne Strukturen erst in Erwartungsstrukturen und damit organisationsinterne Strukturen zu verwandeln seien, bevor sie in die Entscheidung der Organisation einbezogen würden, konnte nicht danach gefragt werden, unter welchen strukturellen Bedingungen strafrechtliche Grenzen überschritten würden. Es wurde stattdessen untersucht, „welche unternehmensinternen Strukturen dazu führten, dass Umweltstrukturen in Erwartungsstrukturen umgewandelt wurden, die ein Operieren des Unternehmens jenseits strafrechtlicher Grenzen als funktional erscheinen ließen, bzw. wann Veränderungen der Umweltstrukturen die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens in einer Weise überforderten, dass unter dem Aspekt der Funktionalität Operationen vollzogen wurden, die als Unternehmenskriminalität zu bezeichnen waren.“[14] Diesbezüglich wurden drei Schnittstellen herausgearbeitet, an denen strukturelle Koppelungen stattfanden, nämlich zwischen dem politischen System und den Unternehmen, der Treuhandanstalt und den Unternehmen und schließlich dem Markt und den Unternehmen. Ein Vergleich der Privatisierungen des Waschmittelwerks Genthin an die Henkel KGaA und des Getriebewerkes Brandenburg an die Zahnradfabrik Friedrichshafen AG – beides Fälle ohne strafrechtlich relevante Übertretungen – mit den strafrechtlich relevanten Fällen der Thyssen Handelsunion AG[15] und der Privatisierung der ostdeutschen Werften an den Bremer Vulkan Verbund[16] ergab, dass an der ersten Schnittstelle Abhängigkeiten des Unternehmens vom politischen System einen kriminogenen Faktor darstellten: die nicht strafrechtlich relevanten Privatisierungen waren davon geprägt, dass die politischen Programme und die entsprechende Subventionierung zwar als Unterstützung des eigenen wirtschaftlichen Operierens wahrgenommen worden waren, die Unternehmen sich aber, im Hinblick auf die Erhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit bzw. die Gewinnmaximierung, nicht davon abhängig gemacht haben. Im Fall Bremer Vulkan hingegen war die Übernahme ostdeutscher Werften allein auf die politischen Programme gegründet; wirtschaftliche Programme des Unternehmens wurden hierdurch ersetzt. Dadurch trat eine Abhängigkeit von dem politischen Programm ein, die durch eine zweite – die zugesagten Finanzhilfen des Bremer Senates – begleitet war. Das Unternehmen geriet – so die Schlussfolgerung der Autoren – in eine fortdauernde Reaktionsposition im Hinblick auf die Veränderungen, die das politische System vornahm und entwickelte im Vertrauen auf die Stabilität des politischen Programms keine Alternativprogramme.[17] Mit der Weigerung des Bremer Senates, weitere finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, kam es zu einem ernsten Liquiditätsengpass. Im Rahmen einer „Neuordnung der Finanzplanung“ wurden die Ostwerften in das bestehende Cash-Management-System – im Fall der Volkswerft Stralsund GmbH aufgrund einer Gesellschafterweisung – eingegliedert. Die Ostwerften, von denen die Liquidität des Konzerns insgesamt nun abhing, wurden schrittweise, unter Vorspiegelung jederzeitiger Rückzahlungsmöglichkeit, ausgehöhlt.
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Auch im Fall Thyssen Handelsunion AG war eine Implementierung politischer Programme statt des bisher verfolgten wirtschaftliche Programms zu beobachten: von einem geplanten Joint Venture wurde Abstand genommen und stattdessen lukrative Unternehmensteile der zu privatisierenden Unternehmen verkauft und im Übrigen eine Abwicklung über die Treuhandanstalt vorgenommen. Mangels frühzeitiger und konsequenter Reaktion auf diese veränderte Privatisierungspolitik wurden immer gewagtere Bilanzierungspraktiken etabliert. Trotz später verstärkter Kontrolle durch das Finanzministerium, das der Thyssen Handelsunion AG eine fehlerhafte Rückstellung in der DM-Eröffnungsbilanz und eine willkürliche Abwicklung des Metallurgiehandels vorwarf, was zu großen Abwicklungsgewinnen und entsprechend hohen Honoraren geführt habe, wurde an der Bilanzierungspraxis nichts geändert. Dies führen die Autoren auf Instabilität oder Irrelevanz der Treuhandanstaltprogramme für diese Unternehmen zurück, d. h. entweder die Annahme der mangelnden Stabilität des politischen Programms oder die Annahme, Kontrollen könnten nicht intensiviert oder jedenfalls nicht in strafrechtlichen Umsetzungen münden.[18] Auch hier wird der Aspekt einer schnellen Privatisierung hervorgehoben, der zu der Annahme einer unzureichenden Kontrolle von außen geführt haben könnte. Außerdem wurde festgehalten, dass sowohl die Thyssen Handelsunion AG als auch der Bremer Vulkan Verbund keine Veränderung ihrer Unternehmensstruktur im Hinblick auf die enttäuschte Erwartung einer positiven Entwicklung auf dem osteuropäischen Markt vorgenommen hatten, während die nicht strafrechtlich auffälligen Henkel KGaA und Zahnradfabrik Friedrichshafen AG eine Verlagerung ihrer Produktion in die erworbenen ostdeutschen Unternehmen vornahmen.
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Als entscheidende Rahmenbedingung der Privatisierung der 8000 Unternehmen wird schließlich der große zeitliche Druck herausgestellt, denn es galt für die Treuhandanstalt die Unternehmen innerhalb von vier Jahren abzuwickeln; nach Ablauf dieser Zeit übernahm die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben die Aufgaben der Treuhandanstalt. Makroökonomische Rahmenbedingungen spielten zwar auch eine Rolle, da die geplante Privatisierung mit einem enormen Strukturwandel der neuen Bundesländer einhergehen musste und das ökonomische Kalkül der potenziellen Investoren im Hinblick auf die Produktions-, Entwicklungs- und Forschungskapazitäten der neuen Bundesländer einer Vollziehung dieses gewünschten Strukturwandels widersprechen musste. Jedoch wird betont, dass die besondere Umbruchssituation der DDR nicht mehr als eine Gelegenheit für Wirtschaftskriminalität war.