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1. Aktuelle Definitionskonzepte

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Auf der Suche nach dem „heutigen“ oder „herrschenden“ Begriffsverständnis fällt auf, dass Beschreibungen bestimmter Wirtschaftsdelikte oder sehr an das Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts angelehnte Definitionsvorschläge überwiegen.[1] Dies ist insofern problematisch, als das Wirtschaftsstrafrecht früher den Teil des Strafrechts darstellte, der den Schutz des Wirtschaftsverwaltungsrechts zum Gegenstand hatte. Heute jedoch sind auch der Schutz der Finanzwirtschaft, des Wettbewerbs, des Zahlungsverkehrs, der betrieblichen Leistungserstellung, der Arbeit und der Allgemeinheit bzw. des Verbrauchers mit erfasst.[2] Diese Ausweitung der Schutzgüter des Wirtschaftsstrafrechts führt entsprechend auch zu einem weitgefassten Begriff der Wirtschaftskriminalität, sodass die naheliegende – wenn auch rechtsgutsbezogene und daher materiell wenig geeignete[3] – Begriffsbestimmung des aktuellen Wirtschaftsstrafrechts die am umfassenden Katalog von Straftaten des § 74c GVG orientierte ist. Hiernach ist eine Wirtschaftsstraftat zu bejahen, wenn sie in den Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer nach § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG fällt. Bei einigen der aufgeführten Straftatbestände, wie z. B. Vergehen nach dem Bank-, Depot- oder Börsengesetz, wird die Qualität eines Wirtschaftsdelikts unwiderlegbar vermutet. Bei anderen wiederum (z. B. Betrug oder Untreue) wird sie nur angenommen, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“ (§ 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG). Diese auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnittene Regelung ist zwar keine Legaldefinition, stellt jedoch wenigstens eine organisatorische Zuweisung[4] dar, die den Vorteil einer ersten Abgrenzung zur übrigen Kriminalität bietet und dabei das breite Deliktsspektrum der Wirtschaftskriminalität mit Straftaten wie der Steuerhinterziehung, Insolvenzdelikten, Kartellabsprachen, Waffenschiebereien oder Zollstraftaten erfasst.[5] Positiv an dieser Konzeption ist auch, dass sie die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften erlaubte und eine uferlose Ausdehnung der Wirtschaftsdelikte als „allen sozialschädlichen Verhaltensweisen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung gefährden“,[6] verhinderte.

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Kritisch anzumerken ist aber, dass nicht alle durch das 2. WiKG[7] eingeführten Straftatbestände erfasst sind. Eine Begrenzung des Begriffs nur auf diesen Deliktskatalog scheint also aufgrund dessen einerseits zu eng, wenn man bedenkt, dass neben dem Schutz des Wettbewerbs in § 298 StGB und dem Schutz des Weltfriedens durch das in § 74c Abs. 1 Nr. 3 GVG erfasste Außenwirtschaftsgesetz eindeutig wirtschaftskriminelle Tatbestände – ohne unmittelbaren Vermögensbezug – nicht erfasst wären.[8] Andererseits ist eine Definition in diesem Sinne auch insofern zu weit gefasst, als sie die sehr allgemeinen Tatbestände des Betruges, der Untreue, des Wuchers, der Vorteilsgewährung und der Bestechung mit einbezieht,[9] die freilich nicht auf den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts beschränkt bleiben; die in § 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG vorgenommene Eingrenzung auf die für die Beurteilung des Falles erforderlichen „besonderen Kenntnisse“ hilft für eine materielle Definition nicht wirklich weiter, denn wenn der ermittelnden Person solche Kenntnisse fehlen, wird sie regelmäßig nicht einmal die strafrechtliche Relevanz bestimmter Verhaltensweisen erkennen.[10] Dieses kriminaltaktische Begriffsverständnis, das sich auf einen Verweis auf die durch den Gesetzgeber pönalisierten Handlungsweisen begrenzt, ist als Grundlage der weiteren Überlegungen also wenig geeignet; aufgrund der schwammigen Konturen und zudem, weil dieser Ansatz von keinem spezifischen Erkenntnisinteresse geleitet ist, sondern nur eine, an den Bedürfnissen der Praxis orientierte, Kompetenzzuweisung darstellt.[11]

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Der strafrechtswissenschaftliche[12] Begriff der Wirtschaftskriminalität knüpft an den zu schützenden Rechtsgütern an und geht dabei implizit von dem Abstraktum „Funktionsfähigkeit der Wirtschaft“ aus. Nach einer Auffassung[13] beschreibt der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ Verhaltensweisen, die sozial-überindividuelle Rechtsgüter des Wirtschaftslebens verletzen oder Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens missbrauchen. Es wird auf die staatliche Wirtschaftsordnung insgesamt, ihren Ablauf oder ihre Organisation abgestellt und auch Delikte einbezogen, die nur typischerweise die Interessen von Wirtschaftsbetrieben verletzen[14] und damit die ersten begrifflichen Unwägbarkeiten vorgezeichnet. Wer nämlich die Verletzung überindividueller Rechtsgüter als Abgrenzungskriterium in den Vordergrund stellt,[15] sieht sich der Bringschuld ausgesetzt, die in Frage kommenden Rechtsgüter zu benennen.[16] Dies führt zwangsläufig zu einer Suche nach überindividuellen Gütern, die in nur beschränktem Maße intuitiv erfassbar sind[17] und gleichzeitig zu der Gefahr der Ausweitung des restriktiv zu gestaltenden Katalogs von Gefährdungsstraftaten. Letztere deshalb, weil hinter jeder Verletzung individueller wirtschaftlicher Interessen, die zumindest abstrakte Gefahr der Verletzung überindividueller Interessen vermutet werden kann.

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Nicht zuletzt dieser Ansatz führte zur Herausbildung des Rechtsguts „Vertrauen in die Wirtschaftsordnung“, das ebenfalls kritisch zu betrachten ist. Der Versuch, als Wirtschaftsdelikte all jene sozialschädlichen Verhaltensweisen zu „bestimmen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung insgesamt oder in einzelne ihrer Institute und damit den Bestand und die Arbeitsweise dieser Wirtschaftsordnung“ gefährdeten,[18] würde den Begriff der Gefahr aussetzen, ins Uferlose zu münden. Dies würde bedeuten, dass zu Insolvenzen führende Häufungen wirtschaftlicher Fehlentscheidungen Kriminalisierungsvorgänge auslösen könnten. Dies wäre nicht nur in Bezug auf den ultima ratio-Aspekt des Strafrechts bedenklich, sondern auch im Hinblick auf Bewegung, Initiativenfreudigkeit und Innovationsfähigkeit in einer freien Wirtschaft nicht ratsam.[19]

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Festzuhalten ist daher: Die Frage des Rechtsgüterschutzes kann höchstens für das Wirtschaftsstrafrecht, nicht jedoch für den Begriff Wirtschaftskriminalität erheblich sein, weil diesbezüglich zunächst die Eingrenzung des Phänomens geleistet werden muss. Erst wenn Klarheit darüber besteht, was pönalisiert werden soll, muss ein dem Rechtsgüterschutz verpflichtetes Tatstrafrecht aufzeigen, welche Interessen hiervon berührt sind. Erst dann kann die rechtsgutsbezogene Perspektive für die normativen Bezugsmaterie – das Wirtschaftsstrafrecht – fruchtbar sein und Differenzierungen zwischen kollektiven Rechtsgüterschutz einerseits und vorverlagerten Vermögensschutz andererseits vornehmen.[20] Insofern sind Überlegungen zu den tangierten Rechtsgütern notwendige Bedingungen einer Pönalisierung, jedoch stellen sie auf kriminologischer Ebene weder einen besonderen Erkenntnisgewinn dar noch sind sie zwingend notwendig.[21] Es gilt also weiter zu suchen und die schmale theoretische Basis aktueller Definitionsansätze von Wirtschaftskriminalität[22] mithilfe älterer kriminologischer Ansätze zu ergänzen, die sich von den rechtsgutsbezogenen, strafrechtsdogmatischen und kriminaltaktischen Überlegungen v. a. dadurch unterscheiden, dass sie ein umfangreiches theoretisches Konzept sowohl bezüglich des Täterprofils als auch bezüglich der strukturellen Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität anbieten.

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