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d) Fortführung und Abkehr von Sutherlands Konzept

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Die Weiterentwicklung von Sutherlands Konzept scheint wesentlich Terstegen geschuldet, der unmittelbar an ihn anknüpfte und ihm insofern zustimmte, dass Reichtum und Ansehen schützen, jedoch diesen Umstand nicht als markantestes Kriterium der white collar-Täter ansah.[1] Es schien ihm insgesamt vorzugswürdig, die Besonderheit der white collar-Kriminalität in der besonderen Vorgehensweise des Täters und weniger in der Persönlichkeit desselben zu suchen. Er betonte, dass die Begehung dieser „ökonomisch besonders ergiebigen Verbrechen“[2] nur einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung möglich ist, weswegen die Frage der Täterpersönlichkeit trotz allem zentral bleiben würde.

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Kennzeichen der white collar-Delikte, und zugleich Unterscheidungsmerkmal zu den „Unterweltverbrechen“, ist nach Terstegen die „violation of trust“, der Bruch und darüber hinaus die Zerstörung von Vertrauen.[3] Allerdings begründet nicht jede Verletzung von Vertrauen ein white collar-Delikt. Entscheidend ist, dass es sich hierbei um gesellschaftlich gebotenes Vertrauen handelt und nicht um den Missbrauch von freiwillig gespendeter Vertrauensseligkeit. Anknüpfungspunkt für diese Überlegung ist das immer komplizierter verlaufende Leben in der Gesellschaft, in der gewisse Vorgänge ohne dieses gesellschaftlich gebotene Vertrauen nicht realisierbar wären.[4] Grundsätzliche Funktionsvoraussetzung der freien Wirtschaft sei, dass jeder die Leistungen erbringt, zu welchen er verpflichtet ist und keine Leistung für sich in Anspruch nimmt, auf die er keinen Anspruch hat. Von diesen Pflichten schlössen sich die Wirtschaftskriminellen aber aus. Zwar ziehe nicht jeder solche Ausschluss eine Verletzung von Vertrauen nach sich, jedoch sei dies dann der Fall, wenn die an den Wirtschaftsabläufen Teilnehmenden die Verletzung des Vertrauens zunächst nicht erkennen können. Wenn dann später erkannt würde, dass es möglich ist, sich „mehr oder weniger offen und ungestraft über die Gesetze hinwegzusetzen, dann kommt sich der Gesetzestreue als der Dumme vor“. Es tritt dann die schlimmste Form der Korruption ein, denn die Gesetze werden nicht mehr als verbindlich betrachtet. Eine Erschütterung des Vertrauens in der Gesellschaft ist die Folge, welches sich darin äußert, dass diese „auch in dem Ehrlichen einen noch nicht erwischten Betrüger sieht“.[5]Terstegen zeigte anhand konkreter Beispiele,[6] dass ein gesellschaftlich gebotenes Vertrauen existiert und solche Fälle weiter untersucht und isoliert werden müssen[7] und distanzierte sich hierbei von der Konzeption Sutherlands, der eine Beschränkung der white collar-Delikte auf den Vertrauensmissbrauch ablehnte und zu eben jenen auch Gewalttätigkeiten zählte, die von Berufs wegen begangen werden und in denen der Täter wegen seiner Stellung in der Gesellschaft nicht so nachdrücklich verfolgt wird.[8] Dennoch übersah Terstegen, dass auch Sutherland das Kriterium des Vertrauensmissbrauchs andeutete: Gerade in seinem bedeutenden ersten Aufsatz[9] nannte er „falsche Informationen der Gesellschaft über ihre finanziellen Angelegenheiten, Manipulation an der Börse, Bestechung von Beamten, um sich günstigere Verträge oder Gesetze zu sichern, als überaus häufig vorkommende Beispiele“ [10]. Diese auf den ersten Blick verschiedenen Kriminalitätstypen von white collar-Verbrechen in der Wirtschaft ließen sich nach seiner Meinung auf ein gemeinsames Deliktskriterium zurückführen, nämlich der Verletzung von explizit oder implizit delegiertem Vertrauen. Auf dieser Basis formulierte er zwei Kategorien solcher Verletzungen: falsche Vermögenserklärungen (hier nennt er als Beispiele Betrug und Schwindel) und Doppelspiel in der Manipulierung von Macht.[11] Letztere würde besonders im Bereich der strafrechtlich weniger leicht erfassbaren Kriminalität relevant: Das „Prinzip des Doppelspiels“ würde dadurch ermöglicht, dass der „white collar-Kriminelle“ eine Vertrauensposition zugunsten einer anderen Position verletzt.

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Aus dem Kriterium des Vertrauensbruchs ergab sich für Terstegen die Anknüpfungsmöglichkeit an das zentrale Kriterium Sutherlands: die Zugehörigkeit des Täters zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Die Ausnutzung gesellschaftlichen Vertrauens konnte nur Tätern möglich sein, die zu einer Gruppe gehören, der das gesellschaftliche Vertrauen geschenkt wird. Dieses Vertrauen wird aber bemerkenswerterweise nicht dem konkreten Menschen, sondern ihm als Angehörigen einer Gruppe (also nur aufgrund seiner sozialen Stellung) entgegengebracht. Dieser soziologische Aspekt, der – wie Terstegen betont – kein Tatbestandsmerkmal darstellen soll, das eine Art Sonderdelikt kennzeichnet,[12] stellt die white collar-Delikte nach außen am deutlichsten heraus.[13] Welchen Gruppen Vertrauen geschenkt wird, ist vom jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext abhängig, jedoch beobachtete Terstegen, dass weniger ein Sinneswandel hin zur Kriminalität in der „vertrauenswürdigen Gruppe“ zu beobachten war, als vielmehr die Tatsache, dass die white collar-Täter „Zeiten des Umbruchs“ nutzten, also Phasen, in denen den Nachfolgern vertrauenswürdiger Gruppen das gleiche – früher berechtigte – Vertrauen entgegengebracht wird.[14] Wenn beispielsweise durch eine bestimmte Leistung Vertrauen erworben wurde und für dieses Vertrauen ein äußeres Zeichen, wie etwa die Auszeichnung „Cabinett“ beim Wein, zuerkannt wurde, sei es ein typisches wirtschaftskriminelles Vorgehen, die Qualität des Weines durch Beifügen von Wasser zu mindern. Dabei würde nicht etwa, wie man (ungenau) annehmen könnte, das Zeichen „Cabinett“ missbraucht, sondern das Vertrauen, welches das Publikum diesem Zeichen und der dahinterstehenden Qualitätszusicherung entgegenbringt.

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Die typische Folge von Wirtschaftskriminalität sei darüberhinaus der sogenannte Sog- und Spiraleffekt. Die Wirtschaftsstraftat in einer Konkurrenzsituation stelle gleichzeitig einen Druck auf alle Konkurrenten dar, auch diese Straftaten zu begehen, um nicht vom Markt verdrängt zu werden (Sog-Effekt). Jeder, der dann mitmachte, würde seinerseits Kernpunkt eines neuen Soges (Spiraleffekt) und so würden binnen kurzer Zeit ganze Branchen erfasst. Trotz der Entfernung vom täterorientierten Konzept Sutherlands, blieb auch für Terstegen in diesen Überlegungen die Frage der Mentalität des white collar-Täters von Bedeutung. Auf den ersten Blick konnte die Ursache von Bereicherungsverbrechen im Allgemeinen in einer Notlage des Täters gesehen werden, die durch scharfe Konkurrenz entstehen konnte und einer Marktsituation, in der die legalen Wettbewerbsmittel erschöpft zu sein scheinen. Jedoch kann das Motiv der Notlage für den Bereich der white collar-Kriminalität nicht uneingeschränkt gelten. Nach Terstegens Ansicht sind Begehrlichkeit und Wohlstand – so paradox es klingen mag – die eigentlichen Handlungsursachen.[15] Aufgrund der Begrenzung der Konsumfähigkeit des Menschen sei diese Begehrlichkeit jedoch nicht auf materielle Akquise beschränkt, vielmehr könne sie auch eine Sucht nach Macht darstellen und dies wiederum nicht immer um ihrer selbst willen, sondern als Grundlage von Respektabilität (Sozialprestige) nach außen und letztlich als Grundlage der Selbstachtung.[16] Diese persönliche Disposition könne in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen besser zum Tragen kommen, da hier ein Zugang zur vertrauenswürdigen Position bestünde, welche dann zum eigenen Vorteil missbraucht werden könnte. Die so Handelnden seien dabei keineswegs – und das ist das bemerkenswerte an der „white collar-Kriminalität“ – offene Gegner der Rechtsordnung, denn es sei für ihr Vorgehen essentiell, dass „Regeln über Recht und Sitte“[17] existieren, denn sie sind ja die Voraussetzung für die Entstehung des Vertrauens, das sie ausnutzen. Während sich der „gewöhnliche“ Kriminelle also durchaus darüber im Klaren sei, dass er verbrecherisch handelt und Unrecht tut, brauche dies bei den white collar-Kriminellen keineswegs der Fall zu sein. Ihnen fehle tatsächlich meist das Empfinden für das Abgleiten in das Kriminelle, denn sie passten bezüglich ihrer übrigen Mentalität überhaupt nicht in das Stereotyp des Kriminellen. Dies werde schließlich durch den Umstand verstärkt, dass die Zugehörigkeit zu diesen „oberen Schichten“ dem Täter ermögliche, auf Gesetzgebung und Interpretation der Gesetze Einfluss zu nehmen, die tatsächliche Verfolgung durch Ausübung von Druck zu behindern oder Mittelsmänner zu bezahlen, die – ohne dass es den Anschein von Anstiftung hat, denn „es gibt genug treue Dienerinnen und Diener, die ohne Anweisung und Anstiftung wissen, was dem Nutzen des Herrn frommt“[18] – die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung begehen.

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In eine vollkommen andere Richtung tendieren Ansätze, die kriminelle Verhaltensweisen aus den strukturellen Abläufen des Wirtschaftssystems heraus erklären.[19] Hierbei wird insbesondere der Unternehmensbezug bzw. ein betrieblich-funktionaler Zusammenhang der Wirtschaftskriminalität in den Vordergrund gerückt. So hielt auch Opp der amerikanischen Begriffsdiskussion ein betrieblich-funktionales Konzept entgegen und definierte Wirtschaftskriminalität als „diejenigen gesetzwidrigen Handlungen, die von Angehörigen wirtschaftlicher Betriebe in der Absicht begangen werden, den Aufwand/die Passiva des Betriebes zu vermindern und/oder den Ertrag/die Aktiva zu erhöhen“ oder um „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit eingegangene Verpflichtungen nicht einzuhalten“.[20] Damit wird jedoch unternehmerisches Wirtschaften in den Vordergrund gestellt, was zu der oben kritisierten Gleichstellung von Unternehmenskriminalität mit Wirtschaftskriminalität führen kann. Beispielsweise See definiert Wirtschaftskriminalität als „illegale[...] Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und [...] Kapitalsicherung [...] also das Wirtschaften unter Verletzung der jeweils geltenden Steuergesetze und Strafrechtsnormen durch die Betriebe und Unternehmen, deren erklärte[s] Hauptziel darin besteht, ihre Gewinne auf legale Weise zu erzielen, die aber zum Zwecke der Gewinnsteigerung, zur Erzielung von Extraprofiten, sich auch krimineller Praktiken [...] bedienen“.[21] Hier wird einerseits das Unternehmen auf Täterseite gesetzt, aber andererseits der Unternehmenszusammenhang nicht genau etabliert. So kann man daraus schließen, dass es gleichermaßen Wirtschaftskriminalität darstellt, wenn Personen im – mittelbaren oder unmittelbaren – Interesse des Unternehmens Straftaten begehen oder wenn es sich um eine „dysfunktionale persönliche (und eben nicht korporative) Bereicherung“[22] handelt.

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Um den Begriff Wirtschaftskriminalität gegenüber der Managerkriminaliät trennscharf zu halten, wird daher teilweise auf das Kriterium des Unternehmenszusammenhangs verzichtet und unter Wirtschaftskriminalität „im Kern“[23] Unternehmenskriminalität verstanden. Insbesondere für Boers scheint sich diese orthodox view durchgesetzt zu haben und der Begriff Wirtschaftskriminalität durch den Bezug auf die Reproduktion des Wirtschaftssystems – für ein Unternehmen – geprägt zu sein. Dies sei nicht nur in deskriptiver und analytischer Hinsicht zutreffender, da Unternehmen die zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens darstellten. Es sei auch auch im Hinblick auf die ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen „angemessener“, da es in der Regel einen qualitativen Unterschied ausmache, ob Unternehmen als legale und konstitutive Elemente der gesellschaftlichen Reproduktion oder aus Eigennutz agierende Beschäftigte strafrechtliche Grenzen übertreten. Insofern bezeichne Unternehmenskriminalität unmittelbar das, worum es bei der Wirtschaftskriminalität in erster Linie ginge, nämlich die Kriminalität zentraler ökonomischen Organisationseinheiten, die sich gegen Verbraucher, Anleger, öffentliche Einrichtungen, die Umwelt oder das staatliche Finanz-, Auftrags- oder Subventionswesen richte.[24] Nur im Hinblick darauf könne man von der Wirtschaft als Geschädigte sprechen und nicht, wenn Arbeitnehmer – einschließlich des „leitenden Personals“ – oder Private ein Unternehmen schädigten.

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