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a) Eine Straftat …

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Zunächst nur um den Nachweis von Wirtschaftskriminalität bemüht, betrachtete Sutherland das Merkmal der „Straftat“ von Anfang an kritisch. Ob eine Verletzung von Strafgesetzen zu bejahen sei, könne jedenfalls nicht das ausschlaggebende Merkmal sein; das Kriterium einer Verurteilung durch ein Strafgericht als einzigem Kriterium zur Bejahung dieser Verletzung wies er jedenfalls entschieden mit dem Argument zurück, dass „eine große Zahl derjenigen, die Verbrechen begehen, nicht vom Gericht verurteilt werden“.[1] Er forderte die Einbeziehung der Informationen anderer Stellen (z. B. Verwaltungsstellen, öffentliche Stellen oder Kommissionen), welche die von ihm beispielhaft aufgezählten „Unehrenhaftigkeiten“ immer wieder feststellten, jedoch eine Anklage vor Gericht nicht erwirken konnten und somit von den Kriminologen nicht erfasst wurden.[2] Weiter wollte Sutherland auch Verurteilungen, die nicht durch den Strafrichter erfolgten, sondern – weil die Kläger (wie in Wirtschaftsprozessen durchaus üblich) mehr an Entschädigungen als an Verurteilungen interessiert waren – ebenfalls als in Frage kommende „Straf“taten in Betracht ziehen. Voraussetzung sollte bleiben, dass verlässliche Beweise vorliegen. Als dritte Ergänzung zu dem sonst alleinigen Kriterium der Verurteilung durch den Strafrichter wurde die Einbeziehung solcher Verurteilungen gefordert, die nur aufgrund äußeren Drucks verhindert wurden. Nach Sutherlands Auffassung waren die Gerichte aufgrund der „positiven Voreingenommenheit“ gegen die Klasse der white collar-Verbrecher und ihrer gesellschaftlichen Macht an der Einhaltung der Gesetze gehindert. Schließlich sei bei dieser Vorgehensweise der gesamte Täterkreis zu berücksichtigen, d. h. beispielsweise nicht nur derjenige, der Bestechungsgelder annahm, sondern auch all jene, die durch ihr „heimliches Einverständnis“[3] einen Verwirklichungsbeitrag leisteten, sollten ebenfalls in die Betrachtungen einbezogen werden. Damit wehrte sich Sutherland v. a. gegen ein starres juristisches Verständnis von Kriminalität und bezog soziologische und sogar alltagssprachliche Parameter mit ein.

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Interessant an diesen sehr frühen Beobachtungen ist, dass Sutherland intuitiv auch den strukturellen Kontext des Wirtschaftssystems in seine Überlegungen einbezogen zu haben scheint, in dem er Wirtschaftsdevianz – Verhaltensweisen also, die schon als unethisch, jedoch noch nicht als illegal bezeichnet werden können in ihrer Kumulation bestimmte Straftaten hervorbringen oder unterstützen können – thematisierte. Seine Kritik an dem „starren juristischen Verständnis“ von Kriminalität bezog sich – hinsichtlich des Merkmals „Straftat“ – also einerseits auf die privilegierte Stellung der white collar-Kriminellen und andererseits auf das „Grau wirtschaftlicher Grenzmoral“[4], wobei er die Kriminalisierung von Verhaltensweisen an der Grenze zwischen Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit erwog. Seine Denkanstöße wurden teilweise durch die Kriminalsoziologie[5] aufgenommen, deren Kriminalitätsbegriff umfassender ist und auch noch nicht strafbares, aber durchaus strafwürdiges Verhalten in den Gegenstandsbereich kriminalsoziologischer Forschung einbezieht.[6] Dieser Betrachtungsweise schloss sich auch Terstegen an, welcher die Erforschung der „white collar-Delikte“ in Deutschland als erster aufnahm. Anknüpfungspunkt für Terstegens Untersuchungen waren ebenfalls nur grob skizzierte Fälle wie z. B. aus der Wirtschaft (Normallese wird als Spätlese verkauft), aus der Rüstungsindustrie (Investitionen in Waffengeschäft werden als Entwicklungskosten deklariert) oder aus sonstigen Bereichen (Ärzte führen unnötige Operationen aus oder stellen nicht durchgeführte Operationen den Kassen in Rechnung; Lehrer geben ihren Schülern schlechte Noten und erschwindeln sich so Nachhilfestunden).[7]

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Mit diesen „einfachen“ Fällen lenkte Terstegen den Blick der Strafrechtler auf den Mangel einer durchgängigen strafrechtlichen Zuordnung dieser Tatbestände und warf gleichzeitig die Frage auf, ob gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität eine Beschränkung auf bereits unter Strafe gestellte Sachverhalte sinnvoll ist.[8] Für letztere Ansicht konnte zwar sprechen, dass die Strafverfolgungsorgane nur tatbestandsmäßige Sachverhalte verfolgen dürfen und auch nur so die im GG verbürgten Rechte der Bürger respektiert werden konnten. Auch schien es ihm unvernünftig, sich in allgemeineren kriminologischen Betrachtungen von der Lebenswirklichkeit, dem Wortlaut der Gesetze und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entfernen. Allerdings konnte dies, laut Terstegen, nur gelten, wenn anzunehmen war, dass die Organe der Rechtspflege in Kenntnis der Sach- und Rechtslage handelten. Nach Terstegens Ansicht konnten diese Beschränkungen jedoch nicht für vorliegende Fälle gelten, in denen es um strafwürdige, aber noch nicht strafbare Sachverhalte geht.[9] Hier müsste auf die existierenden Lücken aufmerksam gemacht werden, die er zuvörderst in der damaligen Konzeption des Betrugstatbestands sah.[10] Die Ursache der Fehlerhaftigkeit lag für ihn darin, dass die „Wirklichkeit betrügerischen Verhaltens“ nicht genau genug untersucht wurde, also nicht alles strafwürdige Verhalten unter Strafe gestellt war, „und zwar in einer Weise, die es erlaubt, auch den Schlauen forensisch zu erfassen“.[11]Konsequenz für die Wirtschaftskriminalität im Allgemeinen, welche dogmatisch noch schwieriger zu erfassen ist, sei deshalb, die Grenze nicht zwischen „strafbar“ und „straflos“ verlaufen zu lassen, sondern vielmehr zwischen „sozialwidrig“ und „sozialadäquat“.[12]

Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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