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Sexuelle Selektion und Kultur
ОглавлениеDie amerikanische Musikzeitschrift Rolling Stone veröffentlichte vor einiger Zeit eine Liste der hundert besten Rockgitarristen aller Zeiten. Nach Ansicht ihrer Leser führte Jimi Hendrix die Top 100 an, zu denen bemerkenswerterweise nur zwei Frauen gehörten, nämlich Joni Mitchell (72) und Joan Jett (87). Zwei Frauen unter achtundneunzig Männern – ein recht großes Ungleichgewicht. Ähnlich, wenn auch weniger extrem, verhält es sich in der klassischen Musik und im Jazz. Frauen tragen ihren Teil bei, doch selten in vorderster Linie (von Sängerinnen einmal abgesehen). Große Komponisten, Künstler und Wissenschaftler sind fast alle männlich. Zum Teil ist dieses Phänomen sicher kulturell bedingt. Frauen werden weniger ermutigt, sich auf diesen Gebieten auszuzeichnen als Männer oder bekommen einfach nicht die Gelegenheit, sich zu beweisen. Dies trifft auf jeden Fall auf die Vergangenheit zu. Doch diese kulturelle Erklärung bedarf einer Ergänzung. Männer scheinen sich nämlich im Allgemeinen mehr ins Zeug zu legen, sie sind ehrgeiziger und geltungssüchtiger, sie wollen Karriere machen und mit ihrem Status angeben, so wie der Pfau mit seinen Schwanzfedern. Sie stellen ihre Potenz zur Schau, indem sie teure Autos fahren und sich mit Reichtum umgeben. Männer sind wie besessen von ihrer gesellschaftlichen Stellung, denn Ansehen, Reichtum und Macht gelten in allen Kulturen als erstrebenswert.
Nach Ansicht des amerikanischen Evolutionspsychologen Geoffrey Miller ist diese „Prunksucht“ des Mannes das Resultat der sexuellen Selektion. Sie brachte keine physiologischen Ornamente wie die Pfauenschleppe oder den Gesang der Amsel hervor, sondern zerebrale Ornamente wie Kunst, Technik und Wissenschaft. Männer versuchen, einander und dem anderen Geschlecht mit ihren Leistungen und ihrer Kenntnis zu imponieren. Kunst und Kultur sind Miller zufolge ein sexuelles Lockmittel. Unser großes Gehirn und seine damit zusammenhängenden Fähigkeiten verdanken wir der sexuellen Selektion. Millers Hypothese ist gewagt, aber interessant. Nach der gängigen Auffassung war die natürliche Selektion für die explosive Zunahme der Gehirngröße verantwortlich. Als unsere Vorfahren aufrecht zu gehen, Steinwerkzeuge herzustellen und zu sprechen begannen, begünstigte ein starker Selektionsdruck das Wachstum des Gehirns. Das Problem bei dieser Theorie ist allerdings, dass niemand genau sagen kann, was diesen Prozess in Gang gesetzt hat. Denn man kann sich hinsichtlich des menschlichen Gehirns die gleiche Frage stellen wie bei den Schwanzfedern des Pfaus: Welchen Nutzen hat ein so merkwürdiges Ornament? Denn viele Millionen Jahre kamen unsere Vorfahren auch ohne ein überdimensioniertes Gehirn ganz gut zurecht, so wie unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Die Erklärung, natürliche Selektion sei für die Zunahme des Gehirnvolumens beim Menschen verantwortlich, ist also zumindest ergänzungsbedürftig.
Millers alternative Theorie vermeidet diese Schwierigkeit, da sexuelle Selektion und besonders die weibliche Präferenz, wie wir sahen, die Evolution auf die Spitze treiben kann. Ein zufällig entstandenes, unscheinbares Merkmal kann sich immer mehr vergrößern. Dies ist nach Ansicht Millers auch mit dem Gehirn passiert. Weibliche Exemplare unserer Vorfahren bevorzugten diejenigen Partner, die sich durch Intelligenz und Kreativität auszeichneten. Wie die Pfauenfedern wurde ein kreativer Geist ein Indikator für gute Gene. Durch die weibliche Präferenz beschleunigte sich diese Entwicklung, und sie ist auch heute noch nicht abgeschlossen.
Millers Hypothese wird von der Hirnforschung gestützt. Im Unterschied zu den anderen Primaten ist beim Menschen das Großhirn in zwei Hälften unterteilt, die unterschiedliche Funktionen haben. Die linke Gehirnhälfte hat unter anderem verbale Aufgaben, die rechte die der räumlichen Orientierung. Die Trennung der beiden Hemisphären ist am auffälligsten beim Mann. Dies erklärt vielleicht auch, warum Männer in vieler Hinsicht brillieren, aber auch, warum bestimmte psychische Erkrankungen, wie Schizophrenie, bei ihnen viel häufiger vorkommen als bei Frauen. Die Erforschung der möglichen Auswirkungen der sexuellen Selektion steckt noch in den Kinderschuhen. Einiges weist jedoch darauf hin, dass die sexuelle Selektion womöglich die Physiologie, das Verhalten und die Psyche von Mann und Frau geformt hat. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass sie auch bei einem der wichtigsten evolutionären Ereignisse eine Rolle spielte, bei der Entstehung neuer Arten.