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Hoffnungsvolle Monster

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Evolution ist ein gradueller, kontinuierlicher Prozess. Darwin selbst hat dies immer wieder betont, eine seiner Lieblingsmaximen war Linnés Diktum natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge. Speziation vollzieht sich als allmählicher Übergang von einer Art zur anderen. Dennoch gibt es immer wieder Wissenschaftler, die die Ansicht vertreten, die Evolution schreite durch größere, qualitative Sprünge voran. Man nennt diese Theorie daher Saltationismus. Dem Saltationismus steht der Gradualismus gegenüber, den Darwin zeitlebens vertrat. T. H. Huxley kritisierte seinen Freund in diesem Punkt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass die Vielfalt des Lebens durch kleine Schritte entstanden sein sollte.


Abb. 3.2: Beispiel einer Makromutation. Diese lebende Kröte wurde in einem Garten in Kanada gefunden. Sie hat ihre Augen nicht auf dem Kopf, sondern im Maul.

Ein anderer Forscher, der für eine sprunghaft verlaufende Evolution eintrat, war der brillante Biologe und Genetiker Richard Goldschmidt, der 1935 wegen seiner jüdischen Abstammung Nazi-Deutschland verließ und in die USA emigrierte. Dort wurde er im selben Jahr zum Professor für Genetik an die Universität von Kalifornien in Berkeley berufen. Goldschmidt stellte die These auf, dass Arten nicht durch einen graduellen Prozess reproduktiver Isolation entstehen, sondern plötzlich, durch sogenannte Makromutationen. Bei solchen „Großmutationen“ kommt es oft zu abnormalen Geschöpfen, etwa Lebewesen mit zwei Köpfen oder fünf Füßen. Goldschmidt prägte für sie den Begriff hopeful monsters, nahm aber an, dass Makromutationen nicht immer schädlich zu sein brauchen und ihren Trägern bei plötzlich veränderten Umweltbedingungen große Überlebensvorteile verschaffen können. Sie und ihre Nachkommen würden dann am Anfang einer neuen Entwicklungslinie stehen. Ernst Mayr übrigens war davon not amused, er bezeichnete Goldschmidts Kreaturen als hopeless monsters. Denn wie könne ein solcher Organismus überleben und sich fortpflanzen? Wie so oft gab Mayrs Autorität den Ausschlag. Heute findet Goldschmidts These so gut wie keinen Fürsprecher mehr.

Dennoch war Goldschmidt in gewissem Sinn seiner Zeit weit voraus, denn er postulierte, dass vor allem Mutationen in elementaren „Kontrollgenen“ für eine grundlegende Änderung des Körperbauplans der Organismen verantwortlich seien. Diese hypothetischen Gene, die die Entwicklung des Embryos steuern, wurden erst in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entdeckt. Heute werden sie als „Homeobox-Gene“ und „Hox-Gene“ bezeichnet. Ihnen kommt bei der Embryonalentwicklung eine Schlüsselrolle zu. Zuerst unterteilen sie den Embryo in verschiedene Segmente, wie Kopf, Rumpf und Körperende. Anschließend produzieren sie Signalproteine, die die Zellen im wachsenden Embryo über ihre Position im Körper informieren. Dies bestimmt, zu welchem Gewebetyp und zu welcher Form sich die Zellen entwickeln. Die Kontrollgene legen somit fest, ob eine Zelle im Gehirn oder in der Leber heranwächst oder ob ein Gewebe sich zu einem Kopf, einem Schwanz oder zu einem Hinterbein entwickelt. Homeobox-Gene und Hox-Gene sind uralt, sie sind schon sehr früh in der Entwicklungsgeschichte der Tiere entstanden und finden sich in allen Wirbeltieren (Säugern, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien), aber auch bei Insekten – wiederum ein sehr überzeugender Beweis für die Darwin’schen Evolutionsprozesse und die gemeinsame Abstammung der Lebewesen. Am erstaunlichsten ist, dass die Kontrollgene austauschbar sind. So können etwa die Hox-Gene, die beim menschlichen Embryo für die Entwicklung der Augen sorgen, auch bei Mäuseembryos und Fliegenlarven eingeführt werden. Bei der Fliegenlarve übernehmen sie dann die Ausbildung perfekter Facettenaugen.

An Insekten wie der Taufliege wurde im letzten Jahrzehnt viel mit Hox-Genen experimentiert. Wie sich zeigte, unterteilen sie den Körper der Fliege in acht Segmente. Künstlich herbeigeführte kleine Mutationen in den Genen führen im Embryo und im ausgewachsenen Exemplar zu großen Veränderungen. Ein Insekt entwickelt etwa zwei Flügelpaare oder Füße am Kopf. Eine unscheinbare natürliche Mutation im Hox-Gen könnte auf diese Weise zu einer Makromutation im Embryo und im Phänotyp führen. Doch Goldschmidts Modell der Makroevolution hat nie Anklang gefunden. Fast alle Biologen vertreten heute wie Darwin und Mayr den gradualistischen Standpunkt. Vermutlich zu Recht, denn in der Evolution entstehen selten oder nie ganz neue biologische Arten durch plötzliche Sprünge. Je mehr Fossilien gefunden werden, desto klarer wird, dass der Evolutionsprozess in sehr kleinen Schritten abläuft. Natürlich tauchen hin und wieder Makromutationen und „Monstren“ auf, doch sie sind fast immer weniger erfolgreich als ihre „gesunden“ Artgenossen. Sie sind selten lebensfähig oder vermehren sich nicht. Denn Organismen sind im Allgemeinen durch die Feinabstimmung der natürlichen Selektion annähernd optimal an ihre Umgebung angepasst, jede größere Veränderung würde diese Balance sofort zerstören. Radikale Neuerungen sind in der Regel Verschlechterungen. Hoffnungsvolle Monster sind daher fast immer zum Scheitern verurteilt.

Eine abgeschwächte Version von Goldschmidts Saltationismus ist die Theorie des punctuated equilibrium, des unterbrochenen Gleichgewichts, die Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts von dem Paläontologen Niles Eldredge und dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould aufgestellt wurde. Sie vertraten die Ansicht, dass die fossile Überlieferung den allmählichen Übergang von einer Art zur anderen nicht unterstütze. Überall seien Lücken und sprunghafte Veränderungen zu beobachten. Darwins Vorstellung einer graduellen Evolution sei daher als Erklärung unzureichend. Die Artbildung, so Eldredge und Gould, geht sprunghaft vor sich, lange Perioden der Stasis – in denen so gut wie nichts geschieht – werden durch kurze Phasen unterbrochen, in denen sich innerhalb weniger Generationen große evolutive Veränderungen vollziehen. Die Frage, welcher Mechanismus diese plötzliche Artbildung antreibt, konnten Eldredge und Gould allerdings nicht beantworten. Vielleicht spielt das Massenaussterben eine wichtige Rolle, insofern es überlebenden Organismen neue ökologische Nischen eröffnet.

Auch die Theorie von Eldredge und Gould ist eines langsamen Todes gestorben. Die vermeintlichen großen Lücken in der fossilen Abfolge, die auf eine sprunghafte Entwicklung hinweisen, werden heute anders gedeutet. Es kommt uns zwar so vor, als wären Arten bisweilen plötzlich und übergangslos aufgetaucht, doch dies ist eine Art optische Täuschung. Unsere paläontologischen Kenntnisse sind einfach noch zu unvollständig. Wenn uns alle Fossilien in allen Erdschichten zur Verfügung stünden, würde wahrscheinlich der Eindruck einer saltatorischen Entwicklung verschwinden und wir würden eine vollkommene, ununterbrochene Artenreihe erkennen können.

Die meisten heutigen Evolutionsbiologen sind, wie gesagt, Gradualisten. Doch sie geben, wie schon Darwin, zu, dass Evolution nicht immer im gleichen Tempo fortschreitet. Manche Organismen entwickeln sich sowieso schneller als andere, da sie unterschiedliche Generationszeiten haben. Bakterien evolvieren viel rascher als Elefanten oder Menschen, ihre Generationszeit ist um ein Vielfaches kürzer. Die Evolution kann sich aber auch beschleunigen, weil eine Population relativ klein ist, wodurch manche Variationen eine größere Chance haben, sich durchzusetzen, als in einer großen Population. Gendrift und Flaschenhals-Effekt spielen dann eine Rolle. Kurzum, Gradualismus schließt nicht aus, dass evolutionäre Prozesse mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. Doch faktisch müsste man immer (fossile) Zwischenformen finden können, die den allmählichen Übergang von einer Art zur anderen belegen.

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