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Das Rätsel der Neandertaler
ОглавлениеVor ungefähr fünfhunderttausend Jahren kam es, wiederum in Afrika, zu einer neuen Entwicklung. Fossilfunde aus dieser Periode legen eine nochmalige Aufspaltung innerhalb der Hominidenlinie nahe: Homo heidelbergensis betrat die Bühne. Wie H. erectus ist dieser Hominide über die Alte Welt ausgeschwärmt, sodass beide Arten ungefähr das gleiche Verbreitungsgebiet hatten. Der Name geht auf einen 1856 in der Nähe von Heidelberg gefundenen Unterkiefer zurück. Dieser Hominide ist etwas weniger robust gebaut als H. erectus, sein Gehirnvolumen betrug jetzt 1100 bis 1300 Kubikzentimeter. Manche Paläontologen sehen in ihm eine spätere Form des H. erectus, andere hingegen meinen, es handle sich um eine frühe, „archaische“ Form des heutigen Menschen (Homo sapiens). In dieser Hinsicht bleibt des Bild der menschlichen Evolution weiterhin diffus. Wahrscheinlich waren Angehörige der afrikanischen Population des H. heidelbergensis die direkten Vorfahren des heutigen Menschen und die Angehörigen der europäischen Population die Vorfahren eines anderen illustren Hominiden: des Neandertalers.
Leben und Untergang des Homo neanderthalensis – der Name geht auf den Fund eines Schädeldachs im Neandertal bei Düsseldorf zurück – spielte sich in Europa, dem Nahen Osten und Kleinasien ab. In Afrika finden sich keine Zeugnisse dieser Spezies. Sie lebte vor ungefähr zweihundertfünfzig- bis dreißigtausend Jahren. Wenn der Neandertaler auch höchstwahrscheinlich nicht unser direkter Vorfahre ist, so ähnelt er doch schon in mancher Hinsicht dem modernen Menschen. Ein gut gekleideter, rasierter und frisierter Neandertalermann würde an der Börse heute kaum auffallen. Die Neandertaler hatten nicht nur ein ungewöhnlich großes Gehirnvolumen von bis zu 1750 Kubikzentimetern – der heutige Mensch kommt durchschnittlich auf 1500 Kubikzentimeter –, sondern sie waren auch robust gebaut (Abb. 4.8). Wahrscheinlich eine Anpassung an die rauen Bedingungen der Eiszeit. Sie machten mit Steinen, Hiebwaffen und kurzen Wurfspießen Jagd auf Höhlenbären, Auerochsen und Mammute. Ihr gedrungener, kompakter Körperbau diente als Schutz gegen die Kälte, wie dies noch heute bei den Eskimos festzustellen ist.
Abb. 4.8: Schädel des H. neanderthalensis. Das Fossil wurde in La Ferrassie (Frankreich) gefunden und ist ungefähr fünfzigtausend Jahre alt.
Viele der Fossilfunde weisen verheilte Brüche auf, ein Zeichen dafür, dass die Individuen einander pflegten. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie ihre Toten bestatteten und ihnen einfache Geschenke wie Schmuck oder Blumen mit ins Grab gaben, was möglicherweise auf eine Jenseitsvorstellung hindeutet. Auch häufen sich die Beweise dafür, dass der Neandertaler wie der Jetztmensch über ein reiches Repertoire an Lauten verfügte. Sein Kehlkopf hat die gleiche Form und befindet sich an der gleichen Stelle wie bei H. sapiens. Der Archäologe Steven Mithen vertritt in seinem Buch The singing Neanderthal die Ansicht, dieser Hominide habe über eine Art Singsprache verfügt. Es ist jedoch nicht sicher, ob er auch die kognitiven Fähigkeiten besaß, die nötig sind, um eine im modernen Sinn grammatische Sprache hervorzubringen. Sicher ist aber, dass er anfänglich sehr erfolgreich war; er verbreitete sich von Europa aus über den Nahen Osten und Kleinasien. Seine Steinwerkzeuge der Moustérien-Kultur – benannt nach der Fundstelle Le Moustier in Frankreich – sind etwas verfeinerter als die des H. erectus, jedoch wenig innovativ. Zehntausende Jahre lang wurden genau die gleichen Werkzeuge und Techniken benutzt.
Die Neandertaler sind, wie schon erwähnt, wahrscheinlich aus den europäischen Populationen des H. heidelbergensis oder des H. erectus hervorgegangen. Aber vor etwa fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Jahren verschwanden sie urplötzlich. Über den Grund ihres Aussterbens wird heftig diskutiert. War die neue Menschenart schuld, die sich die Alte Welt anzueignen begann, unsere eigene Spezies Homo sapiens? Hat sie den Neandertaler ausgerottet? Oder mit tödlichen Krankheiten angesteckt? Dafür gibt es vorerst keine Indizien. Wahrscheinlicher ist, dass H. sapiens die Neandertaler allmählich verdrängte. Vielleicht kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen um die gleichen Territorien und Nahrungsquellen, aus denen H. sapiens durch sein größeres Anpassungsvermögen als Sieger hervorging. Vielleicht war die Geburtenrate bei den Neandertalern niedriger als bei H. sapiens. Manche Forscher, unter ihnen der amerikanische Paläoanthropologe Milford Wolpoff, sind der Auffassung, dass die Neandertaler keineswegs ausstarben, sondern sich mit unserer Spezies vermischten, was bedeuten würde, dass ihre Gene im Jetztmenschen fortleben. Diese Ansicht ist jedoch strittig, da DNA-Analysen darauf hinweisen, dass die genetischen Unterschiede zwischen den Neandertalern und den heutigen Europäern zu groß sind, als dass sie sich nennenswert biologisch vermischt hätten.