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Ein Artenschwarm im Viktoriasee

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Die allopatrische Speziation durch geographische Isolation ist jedoch nicht die einzige Form der Artbildung. Neue Arten können auch innerhalb desselben Lebensraumes entstehen. Man spricht dann von sympatrischer Artbildung (griechisch sym = dasselbe; patra = Vaterland). Der Genaustausch zwischen Stamm- und Teilpopulation kann unter dem Einfluss natürlicher und sexueller Selektion unterbunden werden. Ein Beispiel ist die Artaufspaltung der Cichliden – die jedem Aquariumliebhaber wohlbekannten Buntbarsche – in den afrikanischen Seen. Sie ist mit der der Darwinfinken vergleichbar, jedoch viel umfangreicher. Allein im Viktoriasee sind in einem Zeitraum von zwölftausend Jahren mehr als fünfhundert neue Arten entstanden. Man spricht daher zu Recht von einem Artenschwarm.

Nach der gängigen Auffassung stellt die Artenvielfalt der Buntbarsche ein Paradebeispiel für die allopatrische Speziation dar: Einige Arten seien über Flüsse in den See gelangt, und die Fluktuation des Wasserspiegels habe der allopatrischen Speziation Vorschub geleistet. Durch das allmähliche Absinken des Wassers bildeten sich viele Buchten und Becken, in denen kleine Populationen genetisch isoliert wurden. Bei einem anschließenden Anstieg des Wasserspiegels, tausende Jahre später, seien die Unterschiede zwischen den Populationen bereits so groß gewesen, dass kein Genfluss mehr stattfand. Wenn sich ein solcher Prozess Dutzende Male wiederhole, könne es zur Bildung eines Artenschwarms kommen. Diese Erklärung wird jedoch zunehmend infrage gestellt.

Die Auffächerung der Cichliden in neue Arten ist wahrscheinlich eher auf sympatrische Artbildung zurückzuführen. Wie aus genetischen Untersuchungen hervorgeht, sind die Arten sehr eng miteinander verwandt und alle im Viktoriasee entstanden. Auch die Theorie des flukturierenden Wasserspiegels ist aufgrund geologischer Daten nicht haltbar. Zum einen ist der See für zahlreiche Schwankungen des Wasserspiegels über längere Zeiträume nicht alt genug – eine halbe Million Jahre –, zum anderen ist er, was noch gravierender ist, mehrere Male gänzlich ausgetrocknet, zuletzt vor nur etwa dreizehntausend Jahren. Die vielen Hundert Arten von Buntbarschen müssen sich also innerhalb dieses Zeitraums und auf sympatrische Weise entwickelt haben, dass heißt innerhalb ein und desselben Ökosystems. Wie ist dies möglich?

Eine Erklärung ist die adaptive Radiation. Durch Nahrungskonkurrenz wurden die Fische gezwungen, verschiedene ökologische Nischen des Sees zu erkunden. Allmählich passten sich die Populationen durch die natürliche Selektion an ihre neue Umgebung an. So gibt es etwa Arten, die sich auf das Abweiden von Algen spezialisiert haben, andere zermalmen Schnecken oder ernähren sich von Insekten oder fressen die Jungen anderer Fischarten. Auch sexuelle Selektion durch die Weibchenwahl spielte möglicherweise eine wichtige Rolle. Bei einem Männchen kann sich zum Beispiel durch eine Mutation oder zufällige Neuordnung seiner Gene ein anderes Farb- oder Fleckenmuster gebildet haben, oder er zeigt ein auffällig anderes Balzverhalten. Wenn sich Weibchen von diesen Merkmalen angezogen fühlen, werden sowohl die Merkmale des Männchen als auch die Vorliebe des Weibchens an ihre Nachkommen weitergegeben. Ist dieser Prozess einmal in Gang gesetzt, können sich die Merkmale rasch verstärken. Der Genfluss zur Ursprungspopulation wird unterbrochen, und innerhalb relativ kurzer Zeit kann eine neue Art entstehen. Vieles spricht dafür, dass die sympatrische Artbildung durch sexuelle Selektion angetrieben wird.

Die Freude an der Erfolgsstory der Cichliden im Viktoriasee blieb allerdings nicht lange ungetrübt. In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurden zur Unterstützung des örtlichen Fischfangs Nilbarsche in den See eingeführt, nicht endemische Raubfische, die bis zu anderthalb Meter lang und fünfundsiebzig Kilogramm schwer werden. Die Folgen waren katastrophal, die Neuankömmlinge vermehrten sich auf Kosten der endemischen Fauna und richteten vor allem unter den Cichliden ein wahres Blutbad an. Nach einigen Jahrzehnten brach das Ökosystem völlig zusammen. Das ist umso bedauerlicher, als man im Viktoriasee Darwins Evolutionstheorie wie in einem Zeitraffer verfolgen kann. Der niederländische Biologe Tijs Goldschmidt hat dies in seinem Buch Darwins Traumsee eingehend beschrieben. Das Drama zeigt einmal mehr, wie anfällig Ökosysteme sind und wie sehr menschliches Eingreifen die Biodiversität gefährden kann.

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