Читать книгу Kopf hoch, Kleiner! - Christian Bieniek - Страница 6
ОглавлениеERSTES KAPITEL
1
Ich fuhr hoch und schlug auf den uralten Wecker ein, bis er verstummte. Ellen stieß einen Seufzer aus, wälzte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Dass sie vor mir aufstand, mir ein tolles Frühstück machte und am Bett servierte, war schon öfter vorgekommen - allerdings nur in meinen Träumen.
Ich stieg aus dem Bett und schlüpfte in meine Hausschuhe. Sie waren ein Weihnachtsgeschenk von Vanessa und drei Nummern zu groß. Das Gehen darin wurde nie langweilig, da ich mich bei jedem Schritt anstrengen musste, sie nicht zu verlieren. Eigentlich ein Wunder, dass ich noch keine Krampfadern in den Waden hatte. Vanessa kannte meine Schuhgröße nicht. Sie wusste ebenso wenig, wie alt ich war, was ich studiert hatte und wie ich mit zweitem Vornamen hieß. Warum hätte sie das auch interessieren sollen? Ich war ja nur ihr Vater.
Als ich an der Badezimmertür vorbei zur Toilette schlurfte, brummte ich: “Guten Morgen!“
“Morgen, Paps!“ rief Vanessa überraschend gutgelaunt zurück. Meistens war sie morgens genauso ungenießbar wie ich.
Auf der Toilette hing eine Zeichnung von einem gewissen Gabriel Silewski. Sie stammte offenbar aus einer frühen Schaffensperiode des Meisters, und zwar aus seiner Zeit im Kindergarten. Ellens Begeisterung für moderne Kunst war so ziemlich das einzige, was ich nicht an ihr ausstehen konnte. Neuerdings schleppte sie sogar moderne Möbel an, zum Beispiel einen furchtbar schmalen Sessel mit einer schrägen Sitzfläche aus verrosteten Eisenstangen. Ich wagte mich kaum draufzusetzen, wenn nicht gerade ein Orthopäde im Zimmer war.
Ich ging runter in die Küche, warf die Kaffeemaschine an und deckte den Tisch. Um mir nicht den Appetit aufs Frühstück zu verderben, vermied ich jeden Blick in Richtung Spüle. Dort stapelte sich nämlich mal wieder das schmutzige Geschirr der letzten vier Tage. Ellens Interesse an Hausarbeit war seltsamen Schwankungen unterworfen: Manchmal polierte sie stundenlang die Kacheln im Badezimmer, um dann eine Woche lang völlig zu vergessen, dass wir eine Waschmaschine, einen Staubsauger und eine Mülltonne hatten. Also mussten Vanessa und ich ran, wenn in unserer Küche Seuchengefahr drohte oder es im ganzen Haus kein sauberes T-Shirt mehr gab. Wir waren ein perfekt eingespieltes Team: Ich machte die ganze Arbeit - und Vanessa dachte sich Ausreden aus, um mir nicht dabei helfen zu müssen.
Mit einem strahlenden Lächeln kam Vanessa herein, boxte mich leicht in den Bauch und rief fröhlich: “Na? Gut geschlafen?“
“Was ist los?“ fragte ich mit ernster Miene. “Hast du irgendwelche Drogen genommen?“
“Hä?“
“Du bist so gut drauf, und das vor dem Frühstück.“
Sie schnitt eine Grimasse. Dann setzte sie sich an den Tisch, schüttete Müsli in ihre kleine Schüssel, goss Milch darüber und begann zu essen. Ich ließ zwei Brotscheiben im Toaster verschwinden, setzte mich neben sie und schaute sie an. Abgesehen von dem einen oder andern kurzen Gastspiel, hatten Jungs bisher keine große Bedeutung für sie gehabt. Ich fragte mich manchmal, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich als Fünfzehnjähriger so einem Mädchen über den Weg gelaufen wäre. Wahrscheinlich hätte ich schleunigst das Weite gesucht, und zwar mit gebrochenem Herzen.
“Was glotzt du denn so blöd?“ knurrte Vanessa, lächelte dabei aber ihre Kakaotasse an.
“Irgendwas stimmt nicht mit dir“, behauptete ich mit gespielter Besorgtheit und legte die Toastbrote auf meinen Teller.
“Mit dir auch nicht“, konterte sie. “Warum gehst du eigentlich nicht mal zum Psychiater?“
Ich sah sie stirnrunzelnd an.
“Dir fällt doch nichts mehr ein. So 'ne Therapie kann deine Phantasie vielleicht wieder in Schwung bringen.“
“Phantasie!“ schnaubte ich verächtlich. “Ich hab' noch nie Phantasie gehabt.“
“Ach nee! Und womit hast du früher deine Drehbücher geschrieben?“
“Mit der Schreibmaschine.“
Ich unterhielt mich nicht gern beim Frühstück über dieses Thema. Beim Mittagessen und Abendbrot auch nicht. Ehrlich gesagt hasste ich es, auch nur ein einziges Wort darüber zu hören oder zu reden, egal zu welcher Tageszeit.
“Wieso willst du mit mir nicht darüber sprechen?“ fragte Vanessa gereizt. “Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt: Ich bin nicht mehr zehn, sondern vierzehn.“
“Und du meinst, du hast dich in den letzten vier Jahren irgendwie verändert?“
Ich wollte sie wütend machen, um sie zum Schweigen zu bringen, was sie irrtümlicherweise für ihre stärkste Waffe hielt. Doch sie lachte nur über diesen plumpen Versuch.
“Eins ist ja wohl klar: Auch Mutti ist dran Schuld, dass dir nichts mehr einfällt. Weil ihr Buch nämlich so erfolgreich ist.“
“Sehr scharfsinnig, Doktor Freud.“
“Hast du eigentlich schon mal was von Sigmund Freud gelesen?“ wollte sie wissen.
“Von Büchern mit mehr als zwei Fremdwörtern pro Seite krieg ich Kopfschmerzen.“
“Ich lese gerade sein Buch über Träume. David hat gesagt, dass man durch Träume sehr viel mehr über sein Unterbewusstsein –“
Sie unterbrach sich abrupt. Ich biss in mein Toastbrot und sah sie an. Mir dämmerte, warum sie an diesem Morgen anders war als sonst.
“Wer ist David?“
Sie wurde rot, schlug mir mit dem Handrücken auf den Oberschenkel und murmelte “Du bist blöd!“
Dann stopfte sie sich einen übervollen Löffel Müsli in den Mund und kaute ganz langsam darauf herum. Ich verstand sofort, dass sie mir damit ein Angebot machte: Kein Wort mehr über David, und dafür würde sie mein Schreibproblem nicht mehr erwähnen. Damit war ich natürlich einverstanden. Also plauderten wir über die Schule, bis sie mit ihrem Frühstück fertig war. Dann nahm sie eine Banane und einen Apfel aus der Obstschale und ging zur Tür.
“Er kommt demnächst mal vorbei“, sagte sie mehr zur Türklinke als zu mir.
“David?“
“Er wird euch gefallen.“
Ich nickte. Plötzlich kam sie zu mir und küsste mich auf die Backe.
“Ich find‘s toll, dass du jeden Morgen meinetwegen so früh aufstehst“, erklärte sie mit einem leicht verlegenen Lächeln.
“Deinetwegen? Wie kommst du denn darauf? Ich steh auf, weil ich schreiben will.“
Sie sah mich mitleidig an. “Du solltest mal mit David drüber reden. Vielleicht kann er dir helfen.“
Ich verkniff mir eine bissige Antwort und griff nach meiner Tasse. Vanessa ging hoch in ihr Zimmer. Ich trank die Tasse aus, stellte sie hin und berührte mit zwei Fingern die Stelle, auf die mich Vanessa geküsst hatte. Ohne sie war es sehr still in der Küche. Am liebsten wäre ich ihr nach oben gefolgt, um sie beim Packen ihrer Tasche zu beobachten. Ich hätte sie auch gerne in die Schule gebracht und später wieder abgeholt und sie zwischendurch in den Pausen besucht. Und noch lieber hätte ich sie nachmittags zu ihren Freundinnen begleitet und stundenlang ihrem Geplauder und Gekicher zugehört. Ja, ich war Vanessas größter Fan - und deshalb wahrscheinlich ein ganz miserabler Vater.