Читать книгу Kopf hoch, Kleiner! - Christian Bieniek - Страница 8
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Ich rannte davon, so wie jeden Vormittag.
Für Ende März war es richtig warm. Ich hatte die Trainingsjacke zu Hause gelassen und lief im T-Shirt. Trotzdem begann ich schon an der ersten Straßenecke zu schwitzen. Ich liebte es zu schwitzen, es war ein Beweis dafür, dass ich etwas leistete. Wenn ich mir eine besonders lange Strecke vorgenommen hatte und unterwegs schlappzumachen drohte, brauchte ich nur den Geruch zu atmen, um meine Reserven zu mobilisieren. Komisch, dass der Geruch von Leistungsschweiß nicht auf der Dopingliste steht.
Ende vergangenen Jahres hatte ich angefangen zu begreifen, dass das Nicht-Schreiben keine Beschäftigung war, die mich ausfüllte. Sicher, ich versuchte es Tag für Tag aufs Neue, gab meine Bemühungen aber immer rascher auf und musste mir schließlich etwas einfallen lassen, um die restliche Zeit totzuschlagen. Warum nicht joggen? Also zog ich an einem kalten Januarmorgen meine alten Turnschuhe an und rannte los. Nach zweihundert Metern blieb ich stehen, legte eine Hand auf mein Herz und riss entsetzt die Augen auf: Das war kein Herzklopfen, sondern ein Schlagzeugsolo. In Zeitlupe schlich ich zurück nach Hause, ließ mich aufs Sofa fallen und bat Ellen mit schwacher Stimme, den Notarzt anzurufen. Sie ging in die Küche und machte mir einen Kamillentee. Erst dann griff sie zum Telefon - um ihrer Freundin Hanna zu erzählen, was für einen Superathleten sie geheiratet hatte.
Einige Tage später rannte ich wieder los. Diesmal schaffte ich es bis in den Schlosspark, und in den folgenden Wochen steigerte ich meine Laufzeiten immer weiter. O.K., es war nur Laufen, aber ich war glücklich über die Entdeckung, dass es irgendwas auf der Welt gab, bei dem selbst ein ausgebranntes Wrack wie ich Fortschritte machen konnte. Wenn ich völlig ausgepumpt und durchgeschwitzt nach Hause kam und dann in der Badewanne meine Waden und Oberschenkel durchknetete, war ich so stolz auf mich, als hätte ich gerade den Marathon-Weltrekord gebrochen.
Ich bog in den Schlosspark ein und hielt Ausschau nach Toronto. Ich nannte ihn so, weil ich seinen richtigen Namen nicht kannte und auf der Rückseite seines Trainingsanzuges TORONTO stand. Schon vor Monaten waren wir uns täglich beim Laufen begegnet, aber erst einige Wochen später fingen wir an, uns dabei zuzunicken. Anfang März kamen wir zum ersten Mal ins Gespräch. Seitdem joggten wir zusammen, und mittlerweile vermisste ich ihn sogar, wenn er mal ausblieb und ich allein meine Runden durch den Park drehen musste.
Ich hörte seine Schritte hinter mir. Kurz darauf holte er mich ein.
“Na? Gut geschlafen? Oder haben Sie wieder die ganze Nacht an Ihrem Roman gearbeitet?“
“Nur bis um zwei“, behauptete ich. Beim Laufen konnte man ausgezeichnet lügen: Das Gesicht war sowieso rot, und weil man so schnell atmen musste, fielen gewisse Schwankungen in der Stimme nicht weiter auf.
“Vorsicht!“ rief Toronto und zeigte auf einen Hundehaufen. Ich sprang drüber.
“Der war garantiert von dieser Bulldogge mit dem roten Halsband. Womit kann man Hunde eigentlich am leichtesten vergiften?“
Toronto war ein leidenschaftlicher Hundefeind, aber das war nicht das einzige, was ihn mir sympathisch machte. Man konnte sehr gut mit ihm plaudern. Er redete zwar am liebsten über sich selbst, das aber meistens so amüsant, dass ich ihm gern zuhörte. Er war Besitzer einer großen Brauerei im Sauerland gewesen, die er ein Jahr zuvor für zehn Millionen verkauft hatte. Seitdem lebte er in einer Penthouse Wohnung in Düsseldorf und kümmerte sich nur noch um seine Geldanlagen und seine wechselnden Affären mit Kellnerinnen, Stewardessen und Models. Toronto war kein sonderlich diskreter Liebhaber. Die detaillierten Berichte über seine Liebesnächte ließen meine Erregung manchmal dermaßen anschwellen, dass ich kaum weiterlaufen konnte.
Toronto war Ende Vierzig, also ein paar Jahre älter als ich, aber viel besser in Form. Joggen und Sex waren nur zwei der zig Sportarten, mit denen er sich fit hielt. Ich beneidete ihn um sein Geld, seine Frauen und seine Figur, doch am besten gefiel mir an ihm, dass er nichts von Ellen und Timo wusste. Mein Drang, ihm von den beiden zu erzählen, hielt sich sehr in Grenzen. Für den Rest der Welt war ich ein ehemaliger Fernsehautor, der vom Bestsellererfolg seiner Frau lebte. Für Toronto war ich ein ehemaliger Fernsehautor, der sich beim Joggen von der Arbeit an seinem ersten Roman erholte. Ich hatte keinerlei Gewissensbisse wegen dieser kleinen Schwindelei, im Gegenteil: Für den Fall, dass Toronto eines Tages meinen Namen wissen wollte, hatte ich mir schon einen ausgedacht. Doch sein Interesse an mir war nicht besonders groß. Wahrscheinlich ahnte er, dass mein Leben so aufregend war wie die Gebrauchsanweisung für eine Stehlampe.
Allerdings erkundigte er sich regelmäßig danach, wie es mit meinem Roman weiterging. Dann musste ich ihm erzählen, wie sich die Geschichte weiterentwickelte. Die Story, die ich ihm auftischte, war absolut großartig. Am liebsten hätte ich sie wirklich zu einem Roman verarbeitet - wenn F. Scott Fitzgerald sie nicht schon vor sechzig Jahren in DER GROSSE GATSBY verwendet hätte.
Wir liefen am Wassergraben hinter dem Benrather Schloss entlang. Toronto berichtete mir ausführlich von der vergangenen Nacht, die er mit einer jungen Spanierin verbracht hatte. Er hatte eine widerliche Art, über Frauen zu reden. Aber es war mindestens genauso widerlich, wie gierig ich ihm dabei zuhörte. Toronto kam schnell zum Höhepunkt seiner Geschichte. Und dann zum nächsten und zum übernächsten Höhepunkt. Und so ging es die ganze Nacht lang weiter, bis die Spanierin heiser war vom Stöhnen. Verglichen mit dem, was dieser Zuchtbulle mit seinen Gespielinnen veranstaltete, war mein Sexualleben mit Ellen so unschuldig wie die Sendung mit der Maus.
Plötzlich sprang eine Dogge aus dem Gebüsch und stürmte mit wütendem Gebell auf uns zu. Toronto riss die kleine Spraydose aus der Tasche und sprühte dem Hund Tränengas in die Augen. Die Dogge jaulte auf und trollte sich. Ihr Besitzer schrie ein paar nette Worte hinter uns her. Wir drehten uns lachend um und zeigten ihm unsere ausgestreckten Mittelfinger.
Ja, es waren zwei kleine Jungs, die da durch den Schlosspark liefen, sich an obszönen Geschichten aufgeilten und sich wahnsinnig freuten, wenn sie Hunde oder Erwachsene ärgern konnten. Wenn Ellen geahnt hätte, auf welch pubertärem Niveau ich mich jeden Vormittag amüsierte, hätte sie mir einen Walkman und ein Skateboard besorgt. Und einen guten Psychiater.