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III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?

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Mit dem BVerfG ist ein organisatorisch selbstständiges Gericht errichtet worden, welches die Verfassung letztentscheidend mit Verbindlichkeitsanspruch interpretiert. Das BVerfG nimmt diese Kompetenz wie selbstverständlich in Anspruch (BVerfGE 108, 282, 295): „Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden […, hat es] selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden.“ Allerdings tritt diese zentrale Funktion des BVerfG nicht unmittelbar in Erscheinung; denn das BVerfG entscheidet in erster Linie die ihm zur Entscheidung zugewiesenen, konkreten Verfassungsstreitigkeiten; es stellt die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des geprüften Rechtsakts mit der Verfassung fest und zieht daraus gegebenenfalls noch weitere Konsequenzen, insbesondere erklärt es mit dem GG unvereinbar befundene Gesetze und sonstige Rechtsnormen für nichtig (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) und hebt verfassungswidrige Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen auf (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die maßgebliche Interpretation des Grundgesetzes bildet für diesen, sich im Tenor der Entscheidung widerspiegelnden Entscheidungsinhalt lediglich die präjudizielle Vorfrage.

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Das BVerfG betreibt also keine prinzipale Verfassungsauslegung, erklärt nicht abstrakt, was Inhalt der Verfassung ist. Das gilt auch für das Organstreitverfahren ungeachtet der missverständlichen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG. Die Streitigkeit zwischen obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten über den Umfang der Rechte und Pflichten, die ihnen das GG einräumt, bildet nicht lediglich den „Anlass“ für die Auslegung des Grundgesetzes, sondern den eigentlichen Prüfungsgegenstand; dementsprechend ordnet § 67 BVerfGG im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt an, dass das BVerfG in seiner Entscheidung feststellt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt (Satz 1). Das BVerfG kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt (§ 67 S. 3 BVerfGG). Aber auch diese Rechtsfrage, über die das BVerfG hier mitentscheidet, ist mit der Interpretation des Grundgesetzes, die das BVerfG zur Beantwortung dieser Frage vornimmt, nicht identisch (s. dazu Rn 418 ff). Nichts anderes gilt für die Rechtsfragen, über die das BVerfG in den Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 und 100 Abs. 3 GG „ausschließlich“ entscheidet (vgl §§ 81, 85 Abs. 3 BVerfGG). Von der formellen und materiellen Rechtskraft, die den nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen des BVerfG wie allen letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen zukommt, wird die Auslegung des Grundgesetzes, die das BVerfG vornimmt, als vorgreifliche Frage daher nicht erfasst.

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Die Verbindlichkeit der inzidenten Verfassungsauslegung durch das BVerfG folgt denn auch nicht aus der Verfassung selbst; nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, nicht aber an die Auslegung dieser Ordnung durch das BVerfG (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 93 Abs. 1 GG. Zwar weist diese Vorschrift dem BVerfG bestimmte Entscheidungszuständigkeiten zu, und wenn das BVerfG „entscheiden“ soll, dann impliziert die Anerkennung dieser Entscheidungsgewalt auch deren Verbindlichkeitsanspruch. Dieser erfasst jedoch nur die Entscheidung als solche, dh den in Rechtskraft erwachsenden Tenor der Entscheidung, nicht aber dafür vorgreifliche Verfassungsauslegungen.

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Die Verbindlichkeit der vom BVerfG vorgenommenen Auslegung des Grundgesetzes ergibt sich vielmehr erst aus § 31 Abs. 1 BVerfGG, und auch daraus nur dann, wenn man an der Bindungswirkung der Entscheidung die sie tragenden Gründe (rationes decidendi), soweit sie Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, teilhaben lässt[12]. Diese Deutung des § 31 Abs. 1 BVerfGG entspricht dem Selbstverständnis des BVerfG[13], das sich für den „maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung“, für die „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen“ hält (BVerfGE 40, 88, 93 f; 112, 268, 277; 150, 204, 227). Darin dürfte – entgegen kritischen Stimmen in der Literatur[14] – wohl auch der eigentliche Sinngehalt des § 31 Abs. 1 BVerfGG liegen, über die personelle Geltungserstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen des BVerfG auf alle staatlichen Organe, auch alle Behörden und Gerichte, hinaus[15]. Handeln Letztere dieser einfachgesetzlich angeordneten Bindungswirkung zuwider, dh setzen sie sich darüber hinweg, so liegt in diesem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw gegen die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt zugleich ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG, der vom BVerfG auf Verfassungsbeschwerde hin, die auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden kann, durch Aufhebung des Verwaltungsaktes bzw der Gerichtsentscheidung sanktioniert wird (BVerfGE 115, 97, 108; BVerfGK 7, 229, 236). Dagegen kann sich der Gesetzgeber der in § 31 Abs. 1 BVerfGG für ihn liegenden Selbstbindung durch einen gegenläufigen Gesetzgebungsakt auch wieder entledigen.

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Dass letztlich nur das BVerfG, genauer: der Senat, der entschieden hat, wissen kann, welches die tragenden Gründe seiner Entscheidung gewesen sind, steht auf einem anderen Blatt[16]. Nur das BVerfG selbst kann sein eigener authentischer Interpret sein. Die tragenden Entscheidungsgründen gehören daher zu den arcana imperii; ihre alleinige Kenntnis bildet das Herrschaftswissen des BVerfG, mittels dessen es seine Verfahrensherrschaft (s. dazu Rn 21 ff) ausübt.

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Im Ergebnis bedeutet § 31 Abs. 1 BVerfGG, dass die Auslegung, die das BVerfG im Rahmen seiner Entscheidungen dem GG gibt, nicht nur in dem Sinne praktisch wirksam ist, dass sich alle staatlichen Organe, wollen sie nicht Gefahr laufen, in Karlsruhe „aufzulaufen“, in ihrem Verhalten darauf einstellen werden, sofern nicht ausnahmsweise ersichtlich ist, dass sich das BVerfG, das selbst keiner Bindung an seine Rechtsprechung unterliegt (BVerfGE 4, 1, 38 f; 85, 117, 121 f), von dieser Auslegung in der ihm eigenen Souveränität wieder lösen könnte. Vielmehr ist diese Auslegung auch rechtsverbindlich, so dass von ihr nicht in zulässiger Weise abgewichen werden darf; etwas anderes gilt lediglich für den Gesetzgeber, der keinem Normwiederholungsverbot unterliegt (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f; 96, 260, 263; 135, 259, 281; aA allerdings der Zweite Senat, vgl BVerfGE 1, 14, 15 (LS 5); 69, 112, 115) und damit den Anstoß für eine – im Falle einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle mögliche – Überprüfung dieser Auslegung durch das BVerfG selbst geben kann[17].

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Die Verbindlichkeit der Verfassungsauslegung durch das BVerfG macht dieses Gericht nicht zum authentischen Interpreten der Verfassung, wodurch es Anteil an der Verfassungsgesetzgebung hätte; da ihm die Verfassung als Maßstab vorgegeben ist, kann es nicht zugleich selbst über sie verfügen. Wohl aber liegt bei ihm die Kompetenz zur autoritativen, letztverbindlichen Auslegung des Grundgesetzes, was ihm die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Interpretationsherrschaft verschafft.

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Das BVerfG besitzt kein Interpretationsmonopol hinsichtlich der Verfassung, aber in Sachen Auslegung der Verfassung das maßgebliche letzte Wort. Die anderen Verfassungsorgane sind dagegen lediglich zur Erst- oder Zweitinterpretation der ihr Handeln verfassungsrechtlich determinierenden Grundgesetzbestimmungen berufen. Der vom BVerfG (BVerfGE 106, 310 ff) abschließend entschiedene Streit um das wirksame Zustandekommen des so genannten Zuwanderungsgesetzes macht dies deutlich. Die Interpretation der hier maßgeblichen Vorschrift des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG lag zunächst in der Hand des Bundesrates, genauer: in der Hand des die Verhandlungsleitung innehabenden und die vom Bundesrat gefassten Beschlüsse feststellenden Präsidenten des Bundesrates, sodann – in Zweitinterpretation – beim Bundespräsidenten, der vor Entscheidung über die Ausfertigung des Gesetzes dessen ordnungsgemäßes Zustandekommen gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG prüfen musste. Das entscheidende letzte Wort gebührte dann dem in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG angerufenen BVerfG.

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Durch das Letztentscheidungsrecht des BVerfG wird die Erst- und Zweitinterpretation durch sonstige Verfassungsorgane jedoch nicht etwa bedeutungslos. Das gilt zum einen deshalb, weil zum Zeitpunkt der mit ihrer Interpretation zeitlich zusammenfallenden Anwendung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen noch gar nicht feststeht, ob das BVerfG in zulässiger Weise angerufen werden wird, so dass es seine Letztentscheidungsbefugnis ausüben kann. Zum anderen hat die vorgängige Erst-, auf jeden Fall aber die Zweitinterpretation des Grundgesetzes durch den zur Ausfertigung von Bundesgesetzen berufenen Bundespräsidenten im Fall der Anrufung des BVerfG unter Umständen eine entscheidende Bedeutung, nämlich dann, wenn bei der Entscheidungsfindung des BVerfG im zuständigen Senat Stimmengleichheit auftreten sollte[18]. Dann kann ein Verstoß gegen das GG, der mit dem Antrag geltend gemacht wird, nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG)[19]. Es unterliegt also in diesem Fall der Antragsteller; es obsiegt der Antragsgegner. Es kann daher letztlich entscheidend sein, welche Seite aufgrund der zunächst maßgeblichen Erst- bzw Zweitinterpretation der Verfassung in die „Angreiferrolle“ gezwungen wird und welche Seite die bequemere „Verteidigungsposition“ einnimmt. Schon deshalb dürfen Bundespräsidenten sich bei Ausübung ihres formellen und – wenn auch auf Evidenzfälle begrenzten – materiellen Prüfungsrechts nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG nicht einfach damit begnügen, „den Weg nach Karlsruhe frei zu machen“. Der Weg nach Karlsruhe steht immer offen. Fraglich ist nur, wer ihn beschreiten und damit das Risiko des Unterliegens, insbesondere einer für ihn nachteiligen Vier-zu-Vier-Entscheidung tragen muss.

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Die Kompetenz des BVerfG, vom Parlament erlassene Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren und bei Feststellung der Unvereinbarkeit für nichtig zu erklären, begründet eine außerordentliche Rechtsmacht in der Hand des Verfassungsgerichts, die das politische Koordinatensystem entscheidend verändert: Es kommt zum Übergang des parlamentarischen Gesetzgebungs- zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat[20]. Wer dagegen vorbringt, Verfassungsgerichtsbarkeit füge doch der materiellrechtlichen Bindung an die Verfassung, dh dem Vorrang der Verfassung, der sich auch der Gesetzgeber beugen müsse (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) nichts hinzu, übersieht geflissentlich die Interpretationsfähigkeit und -bedürftigkeit der Verfassung und die durch die Befugnis zur letztverbindlichen Interpretation der Verfassung begründete Interpretationsherrschaft des BVerfG[21]. Anders formuliert – in Anlehnung an Carl Schmitts berühmtes Diktum: „Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet“[22].

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Denkt man sich das „(Verfassungs-)Haus ohne Hüter“, also die Institution des BVerfG, wie sie das GG verfasst hat, einmal hypothetisch weg, dann unterläge zwar die Verwaltung wegen der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG einer gerichtsförmigen Kontrolle am Maßstab auch der Verfassung, und auch die anderen Fachgerichte könnten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufgrund ihrer unmittelbaren Bindung an die Grundrechte und die Verfassung im Ganzen (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) deren Unverbrüchlichkeit verbürgen. Der parlamentarische Gesetzgeber wäre aber keiner prinzipalen Kontrolle unterworfen, und Gesetze könnten, sofern sie nicht in Individualrechte eingreifen und dagegen fachgerichtlicher Individualrechtsschutz mobilisiert werden kann, nicht auf ihre objektive Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft werden. Daher liegt in der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die umfassende Zuständigkeit für eine abstrakte und konkrete, prinzipale und inzidente, unmittelbare und mittelbare Kontrolle von formellem Gesetzesrecht besitzt, eine partielle Entmachtung des Gesetzgebers. Nur der verfassungsändernde Gesetzgeber kann – als authentischer Interpret der Verfassung – der verbindlichen Interpretation des Grundgesetzes durch das BVerfG wirksam entgegentreten. Aber auch er muss gewärtigen, verfassungsgerichtlicher Kontrolle, wenn auch nur am eingeschränkten Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG, unterworfen zu werden.

§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › IV. Das Bundesverfassungsgericht – Herr des Verfahrens?

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