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ELTERN – ALLEIN ZU HAUS
Оглавление«Gene sind von Anfang an immer in Umwelt eingebettet»1, sagt der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer. Reize, Signale, Informationen aus der Umwelt initiieren das Auslesen der genetischen Information und koordinieren die Entwicklung vom Ei zum Organismus. Die Zellen teilen und differenzieren sich und informieren sich durch Austausch chemischer Signale über die sich ständig wandelnden Nachbarschaftsbeziehungen. Dadurch verändert sich das molekulare Milieu in den Zellen, was wieder unterschiedliche Gen-Expressionsmuster nach sich zieht.
In einem sich selbst organisierenden Prozess bilden sich durch die ständige Kommunikation zwischen Genom und umgebendem Milieu immer komplexere Strukturen. Spezialisierung und Differenzierung setzen ein. Zellen «erkennen» über Rezeptormoleküle in ihrer Membran, an welcher Stelle des Embryos sie sich befinden, und entwickeln sich dann je nach Lage zu Nerven-, Muskel-, Leber-, Knochen- oder Hautzellen.
Mit der Entwicklung von Nervenzellen beginnt die lebenslange Kommunikation im menschlichen Körper. Jetzt können Ereignisse und Aktionen an einer Stelle des Embryos ganz bestimmte Ereignisse und Reaktionen an entfernten Orten hervorrufen. Was also eine Frau während ihrer Schwangerschaft tut oder unterlässt, was sie isst und trinkt, welche Medikamente sie nimmt, ob sie raucht, Drogen nimmt, Stress hat oder sich ruhig und sorgenfrei auf die Geburt freut, beeinflusst die Frucht im Mutterleib.
Die Geburt bedeutet einen dramatischen Sprung für die Hirnentwicklung. Die Sinnesorgane sind nun in der Lage, Signale aus der Umwelt aufzunehmen. In dem Maße, in dem Sinnesfunktionen ausreifen, gerät die Steuerung der weiteren Selbstorganisation zunehmend unter den Einfluss außerkörperlicher Faktoren. Alles, was auf die Sinnesorgane des Babys einwirkt, nimmt ab jetzt Einfluss auf die weitere Entwicklung des Gehirns. Berücksichtigt man ferner, dass sich diese aktivitätsabhängigen Entwicklungsprozesse des Gehirns bis zur Pubertät fortsetzen, wird deutlich, welch prägenden Einfluss frühe Erfahrungen auf die strukturelle Entwicklung des Gehirns nehmen können. Eine sichere Schlussfolgerung daraus sei, «dass kein Kind dem anderen gleichen kann», sagt Singer, und das gelte «auch für eineiige Zwillinge, weil im Laufe der Entwicklung eine riesige Zahl von Verzweigungen durchlaufen werden müssen und Entscheidungen darüber, welche Gabelung gewählt wird, oft von kleinen, mitunter zufälligen Fluktuationen der Umgebungsbedingungen abhängen».
Natürlich seien die Gene wichtig, betont auch die an der Chicago Medical School lehrende Neurobiologin Lise Eliot, «aber jeder, der sich mit Nervenzellen beschäftigt hat, wird bestätigen, wie bemerkenswert formbar sie sind. Das Gehirn selbst wird buchstäblich von Erfahrungen geprägt: Jeder Anblick, jeder Laut und Gedanke hinterlässt auf bestimmten neuronalen Schaltkreisen einen Eindruck und verändert damit die Wahrnehmung künftiger Anblicke, Laute und Gedanken. Die Hirnstruktur ist keineswegs von Geburt an festgelegt; vielmehr ist das Gehirn ein lebendes, dynamisches Gewebe, das sich fortwährend auf den neuesten Stand bringt, um die jeweils gegebenen sensorischen, motorischen, emotionalen und geistigen Anforderungen zu erfüllen.»2
Eliot vergleicht das Zusammenspiel von Erbe und Umwelt mit einem Ball, der einen Berg hinunterrollt. Dass er nach unten rollen wird, lässt sich voraussagen, die Schwerkraft zieht ihn unvermeidlich abwärts. Aber welche Bahn er nehmen und wo er ankommen wird, lässt sich nicht vorhersagen, denn an zahlreichen Punkten kommen auf dieser Bahn Zufall oder Entscheidung ins Spiel. An jedem Felsen, Baum, Stein, oder Loch ändert sich seine Richtung, und mit jeder Änderung wird seine Bahn charakteristischer, individueller.
Unsere Gene können wir so wenig beeinflussen wie die Schwerkraft, suggeriert dieses Bild. Der Ball muss nach unten. Aber die Felsen, Löcher, Bäume, Steine können wir gezielt setzen. Die Umwelt, in der ein Kind aufwächst, können wir gestalten. Auch darin liegt noch viel außerhalb unseres Einflusses. Wir können zwar den Hang an strategisch wichtigen Punkten mit Felsen, Steinen und Bäumen versehen, aber dass der Ball auch dort ankommt, ist ungewiss. Zu viele andere Zufälle funken hinein und machen unsere schönen Pläne zunichte. Wenn wir aber den ganzen Hang überlegt gestalten, besteht die Chance, dass der Ball auch dann eher eine gute Bahn nimmt als eine schlechte, wenn er nicht nach unseren Wünschen und Plänen rollt.
Wolf Singer erklärt daher die derzeitige Überbetonung des genetischen Determinismus für obsolet, und begründet das mit einem simplen Gedankenspiel: Es sei anzunehmen, dass sich unsere genetische Ausstattung seit den letzten dreißig- bis vierzigtausend Jahren nur unwesentlich, wenn überhaupt, verändert hat. Das bedeute, dass ein Baby Höhlen bewohnender Steinzeiteltern so werden würde wie wir, wenn es von Geburt an in unserer Gesellschaft aufgezogen würde. Nichts an diesem Menschen würde darauf hindeuten, dass seine Eltern aus der Steinzeit stammen. Umgekehrt entwickelten sich unsere Kinder, würden sie unter Steinzeitbedingungen von Neandertalern erzogen, zu Neandertalern. Diese Überlegung zeige, wie unsinnig der Glaube an die alleinige Macht der Gene sei, folgert Singer.3
Damit scheint das Pendel wieder in einer vernünftigen Mitte zwischen den Extremen angekommen zu sein. Ist also dieser Streit zwischen Erb- und Umwelt-Apologeten nun durch die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse der Hirnforscher endgültig entschieden? Ist das Pendel zum Stillstand gekommen?
Wir glauben es nicht. So weit, wie uns die moderne Hirnforschung heute bringt, waren wir vor einem Vierteljahrhundert schon einmal. Damals schrieb der Göttinger Pädagoge Heinrich Roth ein dickes zweibändiges Standardwerk über pädagogische Anthropologie. Das meiste, was er damals als gesichertes Wissen zusammentrug, kehrt heute wieder in den Antworten, die moderne Hirnforscher nun geben.
Roth schrieb sinngemäß: Wie einer wird, was er ist, was einer tut, woran er glaubt und welche Eigenschaften er ausbildet, das hängt von vier Faktoren ab: seinem Erbe, der Umwelt, in der er aufwächst, seinem eigenen, sich allmählich entwickelnden Ich und als Viertes vom Zusammenwirken dieser drei Faktoren. So gut wie alles ist übbar und steigerungsfähig. Jeder verfügt auf seiner Intelligenzstufe über genügend Spielraum, unendlich viel hinzuzulernen. Bevor erzieherisch nicht alles getan wurde, was möglich war, ist kein erbbiologischer Pessimismus am Platze. So weit Heinrich Roth vor mehr als fünfundzwanzig Jahren.
In den nächsten fünfundzwanzig Jahren werden wir wahrscheinlich trotzdem von neuesten Studien hören, die endgültig bewiesen haben, dass Erziehung rein gar nichts vermag und man sich deshalb wirklich ernsthaft überlegen sollte, ob es nicht besser sei, auf eine gentechnische Verbesserung des Menschen zu setzen. Danach wird ein Wissenschaftler «entdecken»: Das mit den Genen, das war alles nur ein grandioser Irrtum. Allein die Umwelt macht’s. Anschließend wieder umgekehrt. Und so weiter.
Uns ist das egal. Wir glauben an Erziehung. Diese Überzeugung wollen wir uns weder von gegenwärtigen noch künftigen Moden zerstören lassen.
Wir können auch gar nicht anders als glauben, denn eines hat dieser Exkurs in die Wissenschaft leider nicht gebracht: eine endgültige, einwandfrei bewiesene Antwort auf unsere Ausgangsfrage, was wir eigentlich über Erziehung mit Sicherheit wissen, wie viel wir uns von der Erziehung erhoffen dürfen und womit wir uns endgültig abfinden müssen. In dieser Frage sind wir heute zwar weiter als vor hundert Jahren, aber von annähernd gesicherten Erkenntnissen trennen uns wahrscheinlich noch weitere hundert Jahre. Wenn wir nicht einmal die genauen Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung kennen – wie können wir dann genau wissen, wie und auf welche Ziele hin wir eigentlich erziehen sollen? Darum werden wir weiterhin viel falsch machen, und damit müssen wir leben.
Ganz vergebens war dieser Exkurs aber trotzdem nicht, denn er hat uns etwas anderes gelehrt: die Einsicht in die Relativität und Zeitbedingtheit wissenschaftlicher «Erkenntnisse» über den Menschen. Aus dieser Einsicht heraus tun wir gut daran, jeder als brandneu verkauften wissenschaftlichen Erkenntnis zunächst mit einer gesunden Skepsis zu begegnen. Nachrichten aus der Wissenschaft soll man wohl zur Kenntnis nehmen. Wer ihnen aber unkritisch folgt, müsste heute das Gegenteil dessen tun, was gestern für richtig gehalten wurde, und morgen etwas Drittes. Während übermorgen plötzlich wieder als richtig gälte, was doch erst vorgestern als falsch abgehakt worden war.
Die Wissenschaft häuft Daten über Daten, aber es bleibt wenig übrig, wenn man versucht, aus diesen gewaltigen Haufen gesichertes, anwendbares Wissen für den Erziehungsalltag herauszupressen. Damit sind Erzieher auf sich verwiesen. Eltern bleiben mit ihren Entscheidungen allein.
Wann sollen Kinder zum ersten Mal Sex haben? Haben die Eltern darüber zu befinden, oder darf das minderjährige Kind entscheiden? Auch das zwölfjährige? Und soll man einen Unterschied machen zwischen Mädchen und Jungen? Soll man seiner 14-jährigen Tochter erlauben, ihren Freund in ihrem Zimmer übernachten zu lassen? Wann sollen 13-Jährige spätestens zu Hause sein? Wo liegt die vernünftige Mitte zwischen Freiheit und Sicherheit? Wie sollen Eltern oder Erzieher mit feindseligem oder aggressivem Verhalten umgehen, wie mit der Unordnung im Kinderzimmer? Was ist zu tun, wenn Kinder lügen oder stehlen?
Es gibt tausend solcher Fragen, und rund ein Dutzend Mal am Tag muss der Erzieher blitzschnell entscheiden. Doch auf all diese Fragen findet die Wissenschaft keine verbindlichen Antworten.
Erziehung ist im Grunde die Kunst, zu jedem Zeitpunkt für jedes Kind das jeweils richtige Maß zwischen zwei Extremen oder mehreren konkurrierenden Zielen zu finden. Man kann sich aus den Steinbrüchen der Pädagogik diese oder jene Theorie herausschlagen. Am Ende wird man sich als Erzieher auf sein Gefühl, seine Erfahrung und seinen gesunden Menschenverstand verlassen und entscheiden müssen, was einem wirklich wichtig ist.
Anton und Resi Empl, ein Elternpaar aus Niederbayern mit zwei eigenen und vier schon erwachsenen Pflegekindern, sagen beispielsweise: «Uns war die Charakterbildung wichtig, Ehrlichkeit, aufrichtig sein, nicht mit den Ellenbogen arbeiten, Rücksicht nehmen.» Zugleich fragen sie sich, ob ihren Kindern jetzt nicht die Ellenbogen fehlen, um sich gegen andere durchzusetzen, aber dann gestehen sie ein: «Eigentlich finden wir das nicht so wichtig. Schon unsere Eltern haben uns nicht beigebracht, wie man sich durchsetzt.» Anton Empl, der im Hauptberuf Lehrer und im Nebenberuf Maler ist, resümiert schließlich: «Ich finde es viel wichtiger, zu dem zu stehen, was ich mache. Das, was ich tue, muss stimmig sein. Ein Bild von mir muss sich nicht durchsetzen, es muss einfach Qualität haben, für mich gut sein.» So funktioniert Erziehung in der Praxis: abwägen, unterscheiden, was wichtig und weniger wichtig ist, was speziell in dieser Familie für dieses Kind gut ist, und dann entscheiden.
Was die Wissenschaft dazu beisteuert, sollte man zur Kenntnis nehmen und kritisch prüfen. Es könnte ja etwas wirklich Neues oder Relevantes dabei sein. Die Entscheidung abnehmen kann einem die Wissenschaft nicht. Und ergänzen sollten wir unsere Weltkenntnis, unsere Erfahrung und unser Wissen mit der Literatur, der Philosophie, der Kunst und der Religion. Mit jeder dieser Sichtweisen sehen wir bestimmte Sachverhalte besonders scharf und andere nur schwach oder gar nicht. Darum sind wir auf alle Perspektiven angewiesen. Und auf unseren gesunden Menschenverstand.
Am besten unter Ausnutzung des «Geschirrspül-Effekts», eines Geheimnisses, das der Physiker Niels Bohr einmal unter dem Eindruck von Wasserknappheit auf einer Almhütte so beschrieben hat: «Wenn man schmutziges Geschirr in schmutzigem Spülwasser spült und anschließend mit feuchten, schmutzigen Handtüchern trocknet, wird das Geschirr trotzdem irgendwann trocken und sauber.»