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STARK FÜR DAS LEBEN

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Es fing damit an, dass sich die Wirtschaft über ihren Nachwuchs beklagte. Berufsanfänger, die frisch von der Uni kämen, seien nicht zu gebrauchen, schimpfte die Industrie.

Die Uni wies jede Schuld von sich und zeigte mit dem Finger aufs Gymnasium. Dieses ist schuld, sagte die Uni, es schickt uns massenhaft Abiturienten, die gar nicht studierfähig sind.

Das Gymnasium verwies auf die Grundschule. Die Grundschule zeigte auf den Kindergarten, der Kindergarten auf die Eltern. Und auf deren Schultern lastet jetzt das ganze Gewicht einer Misere namens PISA.

Für uns persönlich kündigte sich die Misere etwa vor drei Jahren an. Damals versuchten Politiker, Wirtschaftsfunktionäre und etliche Medien den Eindruck zu erwecken, das größte bildungspädagogische Problem unseres Landes seien fehlende Internet-Anschlüsse an den Schulen und die mangelnde «Kompetenz» unserer Schüler, Businesspläne zu erstellen. Zufällig fiel das mit dem Wechsel unserer Tochter von der Grundschule aufs Gymnasium zusammen.

Vom ersten Tag an fiel der Deutschunterricht aus. Sport auch. Von unseren Bekannten und Verwandten aus anderen Bundesländern hörten wir das Gleiche: Unterrichtsausfall ist der Alltag an deutschen Schulen. Wir fragten uns: Kann es sein, dass die Politiker, Funktionäre und Bildungsexperten in einer anderen Welt leben als Schüler, Lehrer und Eltern?

Als Journalisten fingen wir an zu recherchieren. Die Recherche ergab, was wir unter dem Begriff Erziehungsnotstand zusammenfassten: Eltern, die nicht mehr erziehen, weil sie es nicht können, nicht wollen oder sich überfordert fühlen; Kindergärten und Krippen, in denen Kinder zwar betreut, aber eigentlich kaum gefördert werden; Schulen, in denen sich ausgebrannte, von ihren Aufsichtsbehörden gegängelte, entmutigte Lehrer und lustlose, schlecht erzogene Schüler gegenseitig anöden; Schulmauern, von deren Wänden der Putz bröckelt; Schulbücher, die teilweise zwanzig Jahre alt sind und weder vom Euro noch vom Fall der Mauer künden.

Die Lehrer erzählten uns von armuts- und wohlstandsverwahrlosten Kindern, von Schulklassen mit fünfzig Prozent Ausländerkindern, die kein Wort Deutsch sprechen, von den Problemen der Scheidungskinder und den Sorgen Alleinerziehender. Sie stöhnten über sprachgestörte und verhaltensauffällige Kinder, das «Zappelphilipp-Syndrom» ADS, die Schwierigkeiten der Jungen, eine männliche Identität auszubilden. Sie berichteten von Mobbing im Klassenzimmer und Aggressionen auf dem Schulhof, von Gewalt und Erpressung auf dem Schulweg, von Drogen, vom Konsumterror, von wachsender Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen und von Kindern, die vor Fernsehgeräten, Videospielkonsolen und Computermonitoren vereinsamen und verstummen.

Aber unsere Politiker und Wirtschaftslobbyisten beklagten den fehlenden Internet-Anschluss.

Uns erschien der Widerspruch zwischen der öffentlich geführten Bildungsdebatte und der Erziehungsrealität in Familie, Kindergarten und Schule so groß, dass wir beschlossen, das Ergebnis unserer Recherchen als Buch zu veröffentlichen. Die Ergebnisse der PISA-Studie waren damals noch nicht bekannt, aber wir hatten von ihr gehört und riskierten in unserem Buch die Prognose: Sie wird kaum schmeichelhaft für unser Bildungssystem ausfallen. Es kam bekanntlich noch schlimmer.

Dank PISA erhielten wir, was wir wollten: eine öffentliche Debatte über Bildung und Erziehung in Deutschland. Und dazu einen Waschkorb voll zustimmender Post. Während Deutschland über PISA diskutierte, gingen wir auf Lesereise. PISA füllte uns die Säle und Buchhandlungen. In rund vierzig Städten zwischen Kampen auf Sylt und Konstanz am Bodensee lasen wir vor einer großen Zahl von Zuhörern und diskutierten mit Eltern und Lehrern.

Der Tenor unzähliger Briefe und Wortmeldungen in unseren Lesungen war stets der gleiche: Bleibt dran an dem Thema, denn sonst wird sich nichts ändern. Doch wir wollten es eigentlich mit dem ersten Buch bewenden lassen.

Zumal wir bei deutschen Kultusministern ein neues Phänomen beobachteten: Hyperaktivität. Nach fast zwanzigjähriger Lethargie im deutschen Bildungswesen schien dies ein Zeichen der Hoffnung. Keinesfalls wollen wir die Politiker daran hindern, mehr Lehrer einzustellen, deren Ausbildung und Ansehen zu verbessern, Ganztagsschulen anzubieten, Schulgebäude zu renovieren, so weit es die gähnend leeren Kassen erlauben. Auch das Nachdenken der Lehrer über einen besseren Unterricht wollen wir nicht stören.

Doch bis jetzt wurde nur debattiert. «Der Pisa-Schock vom Frühjahr ist überstanden, und passiert ist: nichts», kritisierte Jeanne Rubner in der Süddeutschen Zeitung. Der «Wind des Wechsels» sei abgeflaut, verflogen auch die Packen-wir’s-an-Stimmung. Zunehmend gehe es statt um Inhalte nur noch um den Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern.1

Tatsächlich dreht sich die Debatte nach PISA schon wieder fast nur um Wettbewerbsfähigkeit, Schlüsselqualifikationen, marktgängige Kompetenzen, «Humankapital». Kurz: um Bildung als Fähigkeit, die Japaner und Koreaner ökonomisch zu schlagen. Schon wieder stehen nicht zuerst unsere Kinder und deren Wohl im Mittelpunkt, sondern das Wohl der Wirtschaft. Die Probleme werden auf Schulprobleme reduziert, und der Eindruck entsteht, unser Bildungssystem müsse nur ein bisschen renoviert und repariert werden, dann stünden wir beim nächsten PISA-Test schon viel besser da.

Pädagogik sei nicht dann schon erfolgreich, wenn sie sich damit begnüge, die jungen Menschen mit Lösungen wie mit einem Reiseproviant auszustatten, sagt der große alte Mann der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig. Vielmehr sollte sie die Kinder «zum ‹Reisen› ermutigen, sie befähigen, die Chancen und Gefahren zu erkennen, die auf sie warten, ihnen Maßstäbe geben und Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten – und einen Überblick über die verfügbaren Mittel»2.

Darüber, wie wir es schaffen, die Heranwachsenden zum Reisen zu befähigen, wird zu wenig geredet. Zu viel über den Proviant, zu viel über Administratives, über Lehrpläne, Lehrstoff und Leistungskontrollen. Und fast gar nicht über die Rolle der Familie.

Schließlich fragt kaum jemand nach den «Reisenden», unseren Kindern. Es scheint für die Bildungspolitiker und Bildungsforscher von untergeordnetem Interesse zu sein, wie es eigentlich unseren Kindern geht, wie sie aufwachsen, wie es in ihrem Inneren aussieht, wie es um ihre Seele bestellt ist. Wir scheuen uns nicht, dieses altmodische Wort «Seele» zu gebrauchen, weil uns die neumodischen Wörter – «Ressourcenausstattung», «Kerncurricula», «Qualitätsmanagement in Betreuungseinrichtungen» und so weiter – zum Hals heraushängen.

Deshalb schreiben wir nun ein zweites Buch. Sosehr wir uns freuen, dass durch PISA wieder über Erziehung und Bildung debattiert wird, und so sehr wir begrüßen, dass Kultusminister und Schulbehörden jetzt Rechenschaft ablegen müssen für das, was unsere Schulen leisten oder nicht leisten – wir fürchten die falschen Konsequenzen. Seit PISA schwappt eine Testwelle über uns, Kulturbürokraten nennen das «Evaluation» und «Qualitätssicherung». Aus ihren Mündern quellen Wörter wie «Zentralabitur», «Erweiterung des Pflichtfachkanons», «Einführung von Abschlussprüfungen auch für die so genannten Restschulen», «Zeugnisnoten von der ersten Klasse an». Mit anderen Worten: «Die erstrebte bessere Qualität wird durch einen Test gemessen, der an Messbarem entwickelt ist.»3 Gelernt wird also nur noch, was messbar ist. Gepaukt wird, was die Tests verlangen.

Hartmut von Hentig hat schon vor Jahren kritisiert, dieses Testsystem arbeite mit der Fiktion eines «Durchschnittskindes», das zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung erbringen muss: «Es trainiert die Lehrer in dieser falschen Einstellung. Alle auch gegebenen guten Gründe für eine Evaluation der Schule werden an dieser Selbsttäuschung zunichte. Die Humboldt’sche Vorstellung von Bildung hat man gestrichen.»4

Das können wir nicht wollen. Unsere Kinder brauchen eine erstklassige Bildung und nicht mit Gewalt den ersten Platz in den PISA-Charts. Denn PISA testet nicht die Bildung, sondern nur einige für eine gute Bildung wichtige Voraussetzungen. PISA ist lediglich ein Symptom für etwas anderes, um das es uns – wie schon in unserem ersten Buch – eigentlich und immer noch geht: was wir unseren Kindern antun, wenn wir sie weiter so gedankenlos aufwachsen lassen wie in den letzten zwanzig Jahren.

Zuerst das Kind, dann die Wirtschaft, nicht umgekehrt, das ist unsere Forderung an Politiker, Experten und Funktionäre. Zuerst die Familie stärken, besonders die Kinder, die Lehrer und die Institution Schule. Zuerst eine gute Erziehung und emotionale Stabilität für jedes Kind in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, dann eine umfassende Allgemeinbildung, die zuvörderst dem Einzelnen nützt und manchem Arbeitgeber als Luxus erscheint.

Erst danach folgt alles Weitere, das auch der Gesellschaft und der Wirtschaft zum Vorteil gereicht. Im Übrigen ist für beide nichts von größerem Nutzen als stabile Persönlichkeiten mit fundierter Allgemeinbildung und guter Erziehung. Wettbewerbsfähigkeit ist eben das unvermeidliche Nebenprodukt einer guten Bildung und Erziehung.

Nicht wenige Briefeschreiber und so manche Diskutantin auf unseren Lesungen sagten uns: Ihr habt den Erziehungsnotstand beschrieben, jetzt zeigt gefälligst auch, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.

Den allein selig machenden Weg aus dem Erziehungsnotstand können zwei pädagogische Laien nicht weisen. Wir können uns nur an der Diskussion beteiligen und unseren Standpunkt einbringen, und der lautet zunächst: Wir dürfen die Debatte nicht auf die Frage verengen, welche Tests am genauesten welche Kompetenzen nachweisen. Wir müssen sie auf komplexere Zusammenhänge richten.

Darum schreiben wir keinen Erziehungsratgeber, sondern ein Buch, das die Leserinnen und Leser zum Mitdenken einladen, zu eigenen Gedanken anregen und ihnen helfen will, ihre eigenen Wege aus dem Erziehungsnotstand zu finden.

Wir bestreiten nicht den Sinn einer Diskussion über Zentralabitur, Lehrpläne und Leistungskontrollen. Aber das sind zweitrangige Themen. Schon wichtiger ist die Diskussion über eine Reform der Lehrerausbildung, die Verbesserung des Unterrichts und die Gewährung von mehr Autonomie für jede einzelne Schule. Aber auch diese Diskussion blendet aus, dass Schule allenfalls Erziehungsreparatur betreiben kann.

Sowohl die Ergebnisse der PISA-Studie als auch die moderne Hirnforschung legen uns aber nahe, dass wir den Jahren vor der Einschulung unsere besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Die frühkindliche Bildung, und besonders die Sprachentwicklung, beeinflusst in großem Maß den späteren Erfolg in der Schule. Außerdem erinnern neuere Studien an etwas, was wir eigentlich immer schon wussten, aber offenbar vergessen haben: Emotionales Wohlbefinden der Kinder ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lernerfolg. Die Qualität des Familienlebens entscheidet in hohem Maße über das Schicksal der Kinder. Daraus folgt, dass der Familie eine Schlüsselrolle bei der Bildung der Kinder zufällt. Davon handelt der zweite Abschnitt dieses Buches.

In vielen Familien erhalten Kinder nicht, was sie brauchen. Hohe Scheidungsraten, Patchworkfamilien, die Nöte Alleinerziehender, die beruflich bedingte ganztätige Abwesenheit beider Eltern, Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Forderungen der Wirtschaft nach mehr Mobilität und Flexibilität, ein überbordender Medienkonsum der Kinder und sogar der Geburtenrückgang beeinträchtigen heute in vielfältiger Weise das Familienleben und die Erziehung der Kinder.

Daraus ergibt sich die Forderung an den Staat, vorbeugend und kompensierend einzugreifen, mehr pädagogisches und psychologisches Personal zu beschäftigen und besser zu qualifizieren, Kinderbetreuungseinrichtungen zu schaffen, Elternschulen zu gründen, Familien finanziell zu entlasten und ihnen helfend und beratend zur Seite zu stehen. Darüber reflektiert der dritte Teil.

In einem weltanschaulich neutralen Staat und in einer pluralistischen Gesellschaft, in der prinzipiell alle Wertvorstellungen kritisierbar sind und dadurch auch relativiert werden, sind viele Eltern und Lehrer unsicher, auf welche Ziele hin sie erziehen sollen. Welche Wertvorstellungen und Vorbilder sollen sie vermitteln, ist dies überhaupt sinnvoll? Im vierten Abschnitt legen wir dar, warum wir für eine gründliche Wertevermittlung eintreten, wie dies geschehen kann und auf welche Werte es uns ankommt.

Wir wollen Eltern in der Überzeugung stärken, dass sie die erste Instanz für ihre Kinder sind und bleiben. Es werden nämlich viele Jahre vergehen, bis sich unsere Kultusminister darauf geeinigt haben, wie die Schule und der Unterricht zu verbessern seien. Es wird ein paar Jahre dauern, bis die Universitäten herausgefunden haben, was sie an der Lehrerausbildung ändern müssen, und dann noch einmal mindestens sechs Jahre, bis die ersten neu ausgebildeten Lehrer in die Schulen kommen.

Es werden viele Jahre vergehen, bis der Staat das nötige Geld aufbringt, um zu reparieren und neu aufzubauen, was in den letzten zwanzig Jahren kaputtgespart wurde. Und es wird in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft noch viel geschehen müssen, bis Familien und Kinder wieder ein Klima vorfinden werden, in dem sie wirklich gut gedeihen können.

Kinder haben wir aber jetzt. Die können nicht warten, bis wir das ideale Bildungssystem ausgetüftelt und finanziert haben. Erzogen werden muss heute, Unterricht ist jeden Tag.

Darum suchen wir nach Antworten auf die entscheidenden Fragen: Wie können Eltern ihren Kindern trotz aller Widrigkeiten zu einem guten Start ins Leben verhelfen? Was ist das eigentlich: eine «gute Erziehung»?

Wir streiten nicht nur für Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und Frühförderung, dafür schon auch, uns treibt nicht allein die Frage, was Väter und Mütter jetzt tun können, das selbstverständlich auch. Darüber hinaus aber geht es uns um die Kultur, in der Erziehung stattfindet, und letztlich um die Frage: Woran glauben wir überhaupt?

Noch eine Bemerkung zum Text: Da wir beide pädagogische Laien sind, also weder eigene wissenschaftliche Studien noch Forschungsergebnisse aus Schulen oder Kindergärten vorlegen können, haben wir für dieses Buch die Erfahrungen mit unseren eigenen Kindern einfließen lassen und nicht zuletzt unsere eigene Bildungsbiographie. Weil wir zwei Menschen von unterschiedlicher Herkunft, mit ganz persönlichen Erlebnissen und Einsichten sind, haben wir uns beim Schreiben des Öfteren getrennt, sind vom «wir» zum «ich» gewechselt. In diesen Fällen verzichten wir darauf, jeweils den Autor zu benennen, denn wer schreibt, erschließt sich dem Leser sehr schnell aus dem Zusammenhang.

Stark für das Leben

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