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Der Erbe-Umwelt-Streit
ОглавлениеVor rund 125 Jahren hat der Engländer Sir Francis Galton (1822 bis 1911), ein Verwandter Darwins, erstmals versucht, den Erbe-Umwelt-Streit wissenschaftlich zu klären. Und er entschied: Zweifellos spiele Erziehung eine Rolle, aber die Erbanlagen gäben den Ausschlag. Galton war der Begründer der Zwillingsforschung, die zu belegen schien, dass das genetische Erbe die bestimmende Kraft war. Doch die Vererbungstheorie stieß schon bald auf Widerspruch. Einerseits lehrte Sigmund Freud, wie folgenschwer sich frühkindliche Erfahrungen auf das spätere Leben jedes Menschen auswirken, andererseits glaubten die Behavioristen wissenschaftlich bewiesen zu haben, dass der Mensch eben doch als unbeschriebenes Blatt zur Welt komme und beliebig beschrieben werden könne.
Einer ihrer wichtigsten Vertreter war der amerikanische Psychologe John Watson, der 1919 durch ein Aufsehen erregendes Experiment berühmt wurde: Er brachte ein Kleinkind namens Albert dazu, sich vor einer Laborratte zu fürchten, indem er jedes Mal das Kind durch Lärm erschreckte, wenn es nach der Ratte greifen wollte. Bald erschrak Albert auch dann, wenn nur noch die Ratte auftauchte, und sonst alles ruhig blieb. Verhalten, folgerte Watson, könne man durch bestimmte Reiz-Reaktions-Mechanismen konditionieren, also sei es erlernt, also sei damit der dominierende Einfluss der Umwelt und Erziehung erwiesen.
Watson war so sehr überzeugt von seiner Theorie, dass er den berühmt-berüchtigten Ausspruch tat: «Geben Sie mir ein Dutzend gesunde, wohlgestaltete Kinder und ein bestimmtes Milieu, in dem ich sie aufziehen kann, und ich garantiere Ihnen, dass ich aufs Geratewohl eines von ihnen herausgreifen und zu jedem beliebigen Spezialisten heranbilden werde, der mir einfällt – Arzt, Anwalt, Künstler, Unternehmer, und ja: sogar Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Stärken und der Rasse seiner Vorfahren.»3
Obwohl Galton und Watson uns als wissenschaftliche Antipoden erscheinen, standen sie einander letztlich näher, als sie vielleicht selber ahnten. Bei allen Gegensätzen blieben beide einem mechanistischen Menschenbild verhaftet. Galton erblickte im Mechanismus der Gene das Steuerungsinstrument, das den Menschen formt, für Watson bildete die Summe der Umwelteinflüsse diesen Mechanismus.
Man sollte annehmen, dass spätere Generationen von Wissenschaftlern sich doch eigentlich schnell auf jene Vermutung hätten einigen können, die sich jedem Laien aufdrängt: Die Wahrheit im Erbe-Umwelt-Streit wird irgendwo zwischen den Extremen liegen. Natürlich ist den Wissenschaftlern diese Vermutung nicht unbekannt, aber dann stellt sich sogleich die Frage: Was und wie viel kommt von den Genen, was und in welchem Maße prägt die Umwelt? Bei der Klärung dieses Rätsels meint der eine oder andere Wissenschaftler doch wieder Anhaltspunkte für ein Übergewicht der Gene oder der Umwelt gefunden zu haben, und dann geht alles wieder von vorne los. So pendeln die Theorien zwischen diesen Extremen – bis heute.
Die Umwelthypothese bekam ungeheuren Auftrieb, als der in den USA forschende österreich-ungarische Psychologe René A. Spitz nach 1945 entdeckte, wie schwerwiegend sich eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung bei Säuglingen und Kleinkindern auswirkt. Für seine berühmt gewordene Untersuchung hat Spitz in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zwei verschiedene Gruppen benachteiligter Kinder verglichen. Die eine Gruppe wuchs in einem Waisenhaus auf, die andere bei inhaftierten Müttern in einem an das Gefängnis angeschlossenen Kinderheim.
Das Leben der Kinder in beiden Institutionen sah auf den ersten Blick ziemlich gleich aus. Im Waisenhaus wie im Gefängnis-Kinderheim wurden die Kinder gut ernährt, gut gekleidet und medizinisch gut versorgt. Und doch unterschieden sich die Kinder der einen Gruppe fundamental von denen der anderen. Während sich die Kinder der inhaftierten Mütter weitgehend normal entwickelten, fielen die Waisenhauskinder durch eine ganze Reihe negativer Symptome auf: gesteigerte Krankheitsanfälligkeit, erhöhte Sterblichkeit, Apathie, Weinerlichkeit, motorische Unruhe, geringes Spielinteresse, Kontaktarmut, Aggressivität und Verzögerungen in der motorischen, der Sprach- und der Intelligenzentwicklung, häufig begleitet von Ernährungsstörungen und Infektanfälligkeit. Viele überlebten kaum das zweite Lebensjahr. Die Überlebenden entwickelten sich körperlich und geistig langsamer als normale Kinder. Im Alter von drei Jahren konnten die meisten weder laufen noch sprechen. Die Schäden und Persönlichkeitsstörungen dieser Kinder waren, wie sich später herausstellte, irreversibel. Ein Leben lang trugen diese Menschen an ihrer Waisenhauskindheit.
Worin bestand der Unterschied im Leben dieser Kinder? Was war so anders im Waisenhaus und so viel besser im Gefängnis-Kinderheim?
Spitz erkannte den entscheidenden, folgenschweren Unterschied in der geistigen und seelischen Vernachlässigung der Waisenhauskinder. Diese wurden nur körperlich gut versorgt. Eine einzige Pflegerin war für acht Kinder zuständig, und abgesehen von den kurzen Fütterungs- und Wickelzeiten lag jedes Baby isoliert in seinem Bettchen, von Vorhängen abgeschirmt, ohne optische und akustische Reize, ohne Spielzeug und vor allem: ohne persönliche Kontakte, ohne die Körperwärme einer Mutter oder Pflegerin. Die Säuglinge und Kleinkinder in diesen Häusern erhielten kaum eine persönliche Ansprache und wurden kaum gestreichelt. Niemand lachte, scherzte oder sang mit ihnen. Niemand weckte die in ihnen schlummernden geistigen und seelischen Anlagen. Also verkümmerten sie. Und mit ihnen die Kinder.
Dagegen die Babys im Kinderheim des Gefängnisses: Sie wurden von ihren Müttern gefüttert, gestreichelt, gepflegt, geherzt, geküsst und mit Aufmerksamkeit überschüttet. Obwohl die Zahl der Stunden, die sie mit ihren Müttern verbringen durften, begrenzt war, entwickelten sich diese Babys normal.4
Spitz’ Untersuchungen und Erkenntnisse wurden von anderen vielfach bestätigt, wodurch sich das Pendel nach dem Krieg, besonders in den USA, stark zur Umwelthypothese bewegte. Den extremsten Ausschlag in Richtung Umwelt bewirkten die Bewegung der Achtundsechziger und die Feministinnen. Die Achtundsechziger wollten eine klassenlose Gesellschaft, Chancengleichheit und die gleiche Bildung für alle. Das Sein bestimme das Bewusstsein, verkündeten die Marxisten, daher genüge es, die äußeren Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Die Verbesserung des menschlichen Charakters werde sich dann automatisch einstellen. Die Feministinnen beschrieben die Rollenunterschiede zwischen Mann und Frau als erlernt und rein umweltbedingt und machten sich daher für eine geschlechtsneutrale Erziehung stark, in der Jungen nicht in die Männer- und Mädchen nicht mehr in die Frauenrolle hineingedrängt werden.
«Unbotmäßiges Verhalten und Aggression wurden damals als Antwort auf repressive Erziehung gesehen», erinnert sich Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung in Frankfurt.5 Selbst Krankheiten, die wir heute als genetisch mitbedingt erkannt haben, wie zum Beispiel die Schizophrenie, seien damals noch ganz auf soziale Faktoren zurückgeführt worden, zum Beispiel auf das Phänomen des «Double-Bindings»: Das ungewollte Kind, das von der Mutter nicht angenommen, nicht geliebt und als lästig empfunden wird, erfahre emotionale Ablehnung. Desgleichen habe man den Autismus, die Unfähigkeit, emotionale Kontakte aufzubauen, der emotionalen Kälte der Mutter zugeschrieben, ihrem «Nichtkommunizierenkönnen». «An sehr vielem waren damals die Mütter schuld und trugen eine schreckliche Last. Für den Rest war die Gesellschaft als Ganzes zuständig.»6