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EINE UNENDLICHE GESCHICHTE

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Wir nennen es «Amoklauf», wenn ein 19-jähriger Schüler schwer bewaffnet seine Schule stürmt und acht Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Sekretärin, einen Schüler, eine Schülerin und einen Polizisten niederstreckt – wie am 26. April 2002 in Erfurt geschehen. Wir empfinden es wie ein Naturereignis, beklagen die Opfer und bewältigen unser Entsetzen mit Hilfe anschwellender Zeitungsartikel, Talkshows und Sondersendungen im Fernsehen, bis wir ihrer überdrüssig sind und andere, neue Ereignisse unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Nach einigen Wochen ist der Schauder vorbei.

Für Günter Lamprecht ist nichts vorbei. Der Schauspieler und dessen Frau Claudia Amm waren am 1. November 1999 Opfer eines anderen Amoklaufs geworden. Ein 16-Jähriger hatte in Bad Reichenhall vier Menschen und sich selbst erschossen. In das Schussfeld des Amokschützen geriet auch das Ehepaar Lamprecht-Amm. An den Verletzungen, die es dabei erlitten hat, laboriert das Paar noch heute. Auch psychisch haben die beiden zu kämpfen.

Günter Lamprecht und Claudia Amm finden nicht, «dass sie einfach froh sein sollen, überlebt zu haben».1 Jemand muss verantwortlich sein, denken sie. Der Amokschütze ist tot, kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Aber was ist mit den Eltern? Sie haben diesen Jugendlichen erzogen. Sie müssen irgendetwas falsch gemacht haben, ist Lamprechts Überzeugung. Deshalb erstattete er Strafanzeige gegen die Eltern, nicht so sehr, um sie zu bestrafen, sondern weil er «die erzieherische Aufgabenstellung des Elternhauses als Garant für eine positive Lebensentfaltung der in die Welt gesetzten Kinder»2 festschreiben möchte.

Lamprecht glaubt also, dass wir uns mit Amokläufern nicht abfinden sollten wie mit Naturereignissen. Er hält offensichtlich nichts von der These, Erziehung sei sinnlos, sondern formuliert einen hohen Anspruch an Erziehung. Wenn der Reichenhaller Junge anders erzogen worden wäre, hätte er sich nicht zum Amokschützen entwickelt: Für Lamprecht ist Erziehung eben nicht vergebliche Liebesmüh, die man sich auch sparen könnte, weil Gene und Zufälle alles bestimmen, sondern buchstäblich eine Frage von Leben und Tod. Und die Verantwortung dafür liegt bei den Eltern.

Steckt darin nicht eine gewaltige Überforderung? Als Eltern wünscht man sich unter der Last dieser Verantwortung fast, die Vertreter der Sinnlosigkeitsthese hätten Recht.

Die Vorstellung, Eltern, Lehrer und Institutionen könnten Kinder zu selbstbestimmten, mündigen und glücklichen Menschen formen, wenn dabei nur alles richtig gemacht wird, wurzelt tief. Vor allem Eltern wehren sich daher geradezu instinktiv gegen die Behauptung, auf sie käme es gar nicht so an.

Aber für alles geradestehen, was später bei den Kindern aus dem Ruder läuft? Das will man als Eltern auch wiederum nicht. Diese Bürde ist zu schwer, um sie allein zu tragen.

Die Frage, was Eltern gerne hätten, ist allerdings nicht die entscheidende. Viel wichtiger: Was stimmt denn nun, vermag Erziehung alles oder nichts oder doch wenigstens ein bisschen? Sind wirklich die Eltern schuld, wenn ihr Sohn ein Blutbad in seiner Schule anrichtet? Wurzelt so eine Tat in mangelnder Elternliebe, kaputten Familien, Vernachlässigung oder ungünstigen sozialen Verhältnissen?

Es hängt viel ab von der Antwort auf diese Fragen. Darüber wird seit Jahrhunderten leidenschaftlich gestritten. Gewissheit haben wir bis heute nicht, denn durch bloße Beobachtung menschlichen Verhaltens lässt sich kaum entscheiden, ob der Mensch als Blatt zur Welt kommt, das nach Belieben beschrieben werden kann, oder als fertiges Buch.

Stark für das Leben

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