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Wenn das Hirn verkümmert

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Die Beispiele, und es gibt noch mehr, lehren zweierlei: Wie wir werden, was wir sind, ergibt sich tatsächlich aus einem komplexen Wechselspiel von Anlage und Umwelt, und zwar schon von der ersten Zellteilung im Mutterleib an, sagt Singer. Zweitens entwickeln sich bestimmte Fähigkeiten nur, wenn sie von außen stimuliert werden, und auch nur dann, wenn diese Stimulation zur richtigen Zeit erfolgt. Kommt sie zu spät, entwickeln sich bestimmte Fähigkeiten nicht mehr oder nur noch rudimentär.

Da sich also verschiedene Bereiche des Gehirns unterschiedlich schnell und zu unterschiedlichen Zeiten ausprägen, benötigt das Gehirn in verschiedenen Entwicklungsphasen unterschiedliche Informationen aus der Umwelt, um seine Entwicklung optimieren zu können. Die bereits erwähnten elementaren Verschaltungen in der Sehrinde werden sehr früh ausgebildet und dann erfahrungsabhängig optimiert: Bei Kätzchen dauert diese kritische Phase etwa sechs Wochen, bei Primaten einige Monate, und beim Menschen einige Jahre. Dabei ist die Plastizität der neuronalen Architekturen zu Beginn der kritischen Phasen am höchsten und nimmt dann mit der Zeit kontinuierlich ab.

Vom ersten Tag an kann also bedeutsam sein, was ein Kind zu hören und sehen bekommt, wer sich wie und wie oft um das Kind kümmert, und welche Lernangebote ihm gemacht werden. Ebendeshalb sind Vater und Mutter so wichtig. Und weil das Kind in eine Familie hineingeboren wird, ist das, was in dieser Familie während der ersten Lebensjahre geschieht oder nicht geschieht, so bedeutsam für das weitere Leben jedes Menschen.

Unterm Mikroskop könne man geradezu mit den Augen verfolgen, wie das Gehirn verkümmert, wenn es nicht stimuliert wird, sagt Singer. Man könne sehen, wie die Nervenzellen schrumpfen, wenn die visuellen oder akustischen Signale nicht verfügbar sind, die während der entsprechenden sensiblen Entwicklungsphasen benötigt werden. Bei früh Erblindeten kann es vorkommen, dass Hirnrindenareale, die eigentlich mit der Verarbeitung visueller Signale befasst sind, die Auswertung taktiler oder akustischer Signale übernehmen. Blinde, die Braille lernen – also mit den Händen lesen –, benutzen einen Teil der normalerweise für das Sehen zuständigen Hirnrindenareale, um die taktilen Muster zu dechiffrieren. Die Funktionen von Hirnrindenarealen sind also durch Deprivation in Grenzen verschiebbar.

So, wie man am Gehirn sehen kann, wie es schrumpft, wenn bestimmte Möglichkeiten wegen ausbleibender Stimulation nicht realisiert werden, so kann man auch beobachten, wie es wächst, wenn seine Möglichkeiten realisiert und beständig trainiert werden. «Wer früh anfängt, intensiv Geige zu üben, kann erreichen, dass die Repräsentation der linken Hand, welche die Saiten greift, in der Großhirnrinde mehr Platz eingeräumt bekommt als bei Nichtübenden oder spät Berufenen», sagt Singer.

Ob dies auf Kosten anderer Funktionen geschieht, und falls ja, welcher, ist unbekannt. Weil es im Gehirn keine Leerstellen gibt, steht zu erwarten, dass sich das eine nur auf Kosten des anderen ausbreiten kann. Dies auch deshalb, weil die verfügbare Zeit nicht dehnbar ist. Wer Geige übt, kann nicht gleichzeitig sozial kommunizieren, und umgekehrt. Übertraining und Deprivation gehen oft zusammen, weil die Zeit und die Lernfähigkeit von Gehirnen begrenzt sind.

In diesem Zusammenhang räumt Singer nebenbei mit dem von Wochenendtrainern gewinnträchtig vermarkteten Märchen auf, der Mensch nutze nur einen ganz kleinen Teil seiner neuronalen Ressourcen. Das sei Unsinn. «Es gibt nirgends im Gehirn Bereiche, die brachliegen.» Wäre es so, könnte man von dort Gewebe entnehmen, ohne Funktionseinbußen befürchten zu müssen. So ist es aber nicht. Training bewirkt also das Gegenteil von Deprivation. Die Zahl der Kontakte zwischen Nervenzellen nimmt zu, die für die geübten Funktionen zuständigen Areale dehnen sich aus, und die neuronalen Antworten spezialisieren sich auf die trainierten Inhalte.

Der Zusammenhang zwischen der Ausbildung kognitiver Leistungen und Umwelteinflüssen zeigt sich für Singer besonders eindrucksvoll beim Spracherwerb. Die Erstsprache wird mühelos, unbewusst, fast wie im Schlaf, erlernt, wenn jemand da ist, der mit dem Kind während der für die Sprachentwicklung sensiblen Phase gut und viel spricht. Die Zweitsprache, die meist erst im Gymnasialalter angeboten wird, erlernt sich sehr viel schwerer und auf ganz andere Weise als die Erstsprache. Lernen erfolgt jetzt regelbasiert und unter Kontrolle des Bewusstseins. Entsprechend bilden sich unbewusst ablaufende Automatismen für die Decodierung und Produktion von Sprache nur unvollkommen aus. Die Zweitsprache erreicht nur selten das Perfektionsniveau der Erstsprache. Beim Erlernen der Erstsprache werden neuronale Verarbeitungsroutinen ausgebildet, die sich später nicht mehr ändern lassen und auf denen alle anderen Lernprozesse aufbauen.

Singer und viele andere, beispielsweise die Unternehmensberatung McKinsey, leiten daraus die Forderung ab, mit dem Erlernen einer zweiten Sprache wesentlich früher zu beginnen als jetzt.2 Man könnte sogar überlegen, die Fremdsprache schon im Kindergarten anzubieten und dort so zu lehren, wie die Muttersprache gelehrt wird, nämlich gar nicht. Für das Erlernen der Muttersprache erhält das Kind ja keinen Unterricht. Die Muttersprache lernt es einfach durch Zuhören und Nachahmen der Mutter oder anderer Erwachsener. Genauso würde es eine zweite, fremde «Muttersprache» erlernen. Es müsste einfach jemand da sein, der mit den Kindern in dieser Sprache spricht, und zwar täglich, nicht nur zwei Stunden pro Woche.

Wegen dieser völlig anderen Art des Lernens kann man auch nicht, wie manche es tun, von einer Vorverlegung der Schulzeit in den Kindergarten sprechen. Wer eine Fremdsprache lernt wie seine Muttersprache, unterliegt keinem Leistungsdruck, erhält keine Zensuren und wird nicht um seine Kindheit betrogen. Im Gegenteil: Da das mühselig-langweilige Pauken und Repetieren von Vokabeln und Grammatik später in der Schule entfiele, und die richtige Aussprache und Satzmelodie ebenfalls weniger Mühe bereitete, bestünde die Chance, den späteren Paukstress etwas zu reduzieren.

Eine weitere Schlussfolgerung lautet: Entwicklung bedarf der aktiven, selbst gesteuerten Interaktion mit der Umwelt. Das Kätzchen-Experiment lehrt: Selbermachen ist entscheidend, «weil nur dann der interaktive Dialog mit der Umwelt einsetzen kann, der für die Optimierung von Entwicklungsprozessen unabdingbar ist» (Singer).

Diese Erkenntnis sollte endlich in unseren Schulen beherzigt werden, wo noch immer gilt: Alle schlafen, einer spricht/ dieses nennt man Unterricht. Physik lernt man nicht gut, wenn man immer nur dem Physiklehrer zuhören muss. Chemie lässt sich besser verstehen, wenn man selber experimentiert. Über Biologie lernt man im Klassenzimmer mehr, wenn man zuvor im Garten gearbeitet hat, im Wald spazieren gegangen ist, vor einem Tümpel gesessen hat, im Meer getaucht ist und im Hochgebirge eine Wanderung gemacht hat.

Dritte Folgerung: Für die Ausbildung verschiedener Hirnfunktionen muss das Rechte zur rechten Zeit verfügbar sein, also nicht zu spät, aber auch nicht zu früh. «Es ist nutzlos und womöglich sogar kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, die nicht adäquat verarbeitet werden können, weil die entsprechenden Entwicklungsfenster noch nicht offen sind» (Singer). Leider weiß man aber noch nicht genau, wann das menschliche Gehirn welche Informationen benötigt. Daher empfiehlt Singer, sorgfältig zu beobachten, wonach die Kinder fragen, wofür sie sich interessieren, wonach sie verlangen und wodurch sie glücklich werden.

Stark für das Leben

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