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UNSER MANN FÜRS KATZENKLO
ОглавлениеEs war irgendein Tag im September des Jahres 2002, das Datum haben wir schon wieder vergessen, aber das damit verbundene Ereignis nicht: Unser neunjähriger Sohn Moritz hatte seinen ersten richtigen Aufsatz in der Schule geschrieben, ganz ohne unsere Hilfe, und an diesem Tag kam er mit dem benoteten Aufsatz nach Hause.
Nun könnte man denken: Der Vater ein Schreiberling, die Mutter eine schreibende Moderatorin, da werden die beiden doch wohl ein bisschen Sprachgefühl an ihre Kinder vererbt haben.
Das hatten wir zunächst auch geglaubt. Bei unserer Tochter Livia schien alles nach Plan zu laufen. Für sie war Deutsch nie ein Problem, und wir hielten das für selbstverständlich.
Bis unser Sohn in die Schule kam. Das Einzige, was er einigermaßen gut konnte, war lesen, doch dieses Talent beschränkte sich aufs Videospielen mit «SuperMario». Um dort vorwärts zu kommen, war es nötig, ab und zu die Tipps auf hübschen Täfelchen zu lesen, die im Verlauf des Spiels immer wieder auf dem Bildschirm auftauchten. Also war es ungeheuer wichtig, lesen zu lernen – das blieb aber der einzige positive Effekt von «SuperMario».
Außer den Täfelchen wollte er nichts lesen, schon gar keine Bücher. Geschichten hörte er sich zwar gerne an, aber nacherzählen wollte er sie nicht, nicht mündlich, erst recht nicht schriftlich. Fernsehen wollte er stattdessen. Seine Rechtschreibung war anfangs miserabel und bessert sich seitdem nur langsam. Seiner Hausaufgaben entledigt er sich innerhalb von zehn Minuten, und so sehen sie auch aus. Dass er in der Schule nichts auf die Reihe kriegte, haben wir schon in unserem ersten Buch beschrieben. Es wurde besser, nachdem wir die Videospielkonsole auf den Speicher verbannten. Aber Moritz blieb unser Sorgenkind, entwickelte sich nicht so problemlos wie seine Schwester.
Wir vermuteten, er leide unter den Folgen eines frühkindlichen Traumas. Als er noch keine zwei Jahre alt war, hatte seine Mutter sich einem lebensgefährlichen chirurgischen Eingriff unterziehen müssen. So verschwand sie von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben. In den drei Monaten, die sie im Krankenhaus verbrachte, wurde Moritz in der Verwandtschaft herumgereicht, bekam seine Mutter erst nach Wochen nur einige Male im Krankenhaus zu sehen. Und da erkannte er sie nicht wieder. Sie lag in einem Gipsbett, konnte sich nicht rühren, war von der Operation gezeichnet.
Dann kam die Mutter nach Hause, aber verhielt sich nicht so, wie eine Mutter sich normalerweise verhält – wenn zum Beispiel ein Baby die Ärmchen ausstreckt, um aus seinem Bett gehoben zu werden. Moritz’ Mutter durfte ihr Kind nicht heben.
Ein paar Wochen später war sie wieder weg, musste in die Rehaklinik. Als sie zurückkehrte, lehnte Moritz seine Mutter ab, wollte nicht mehr zu ihr, war ganz auf den Vater fixiert, mindestens ein Jahr lang.
In der Folgezeit wirkte Moritz im Vergleich zu Gleichaltrigen in seiner Entwicklung zurückgeblieben. Er fing erst spät an zu sprechen, machte bis kurz vor der Einschulung noch viele Grammatikfehler.
Was sollten wir tun? Wir kümmerten uns sehr um ihn. Wir versuchten, so gut wir konnten, herauszufinden, was ihn wohl gerade interessieren könnte, und wollten dieses Interesse nach Kräften fördern.
So erzählten wir ihm von Dinosauriern, als er sich für Dinos interessierte, lasen ihm aus Dinosaurierbüchern vor, ließen ihn Dinosaurierfilme sehen, zeigten ihm das Dino-Skelett im Frankfurter Senckenberg-Museum. Das gleiche Programm wurde abgespult, als er sich für Ritter interessierte, dann für Reptilien, Fische, Schlangen, Frösche, Kaulquappen. Wir pflanzten Schilf im Gartenteich, setzten Goldfische hinein, Wasserschnecken, Süßwassermuscheln, Kaulquappen und beobachteten das Leben in diesem kleinen Teich.
Einerseits wollten wir für unser Kind eine anregende Umgebung schaffen, andererseits war es strikte Notwehr – eine gezielte Ablenkung von seinen «wahren» Bedürfnissen, welche sich in heftigem Verlangen nach Gameboys, Pokémons und Videospielen äußerten. So haben wir auch Haustiere angeschafft, um unsere Kinder vom Pokémon-Plunder abzulenken. Einen Hund hatten wir schon vor den Kindern. Als dieser starb, holten wir uns einen neuen, und dazu auch gleich zwei Katzen. Und jede Menge Hunde-und Katzenbücher.
Die wurden aber von unseren Kindern ignoriert. Wahrscheinlich dachten sie: Wozu Bücher über Hunde und Katzen lesen, wenn diese Viecher bei uns auf dem Teppich herumfläzen?
Tochter Livia las wenigstens andere Bücher. Moritz las gar nichts. Wir versuchten, ihn mit all unseren Überredungskünsten zum Lesen zu bewegen. Ohne Erfolg. Sagen, Märchen, biblische Geschichten, Abenteuergeschichten interessierten ihn nur, wenn wir sie ihm vorlasen. Selber lesen kam nicht in Frage.
Wollte er sich damit Zuwendung erzwingen? Fürchtete er, das Gutenachtritual werde ein Ende haben, wenn er selber läse?
Wir wissen es nicht, aber die Rettung kam durch Harry Potter. Als er den Film im Kino gesehen hatte, war er so beeindruckt, dass er das Gesehene noch einmal selber nachlesen wollte. Er las in wenigen Tagen den kompletten ersten Band. Danach den zweiten, den dritten und den vierten.
Und er versuchte plötzlich, so intelligent zu gucken wie Harry. Und mit seinem Freund Lukas, der äußerlich Ron ähnelt, schloss er Blutsbrüderschaft. Mädchen begegnet Moritz mit etwas mehr Respekt und Interesse, seit er gesehen und gelesen hat, dass es für einen Jungen durchaus nützlich sein kann, eine Freundin wie Hermine zu haben.
Seit über einem Jahr wartet Moritz nun auf den fünften Band. Zwischenzeitlich etwas anderes zu lesen kam aber nicht in Frage. Das wäre ja Verrat an Harry. Und außerdem ist es doch immer noch schön, abends im Bett vorgelesen zu bekommen. Die Gänsehautbücher sind derzeit die Favoriten.
Schon relativ früh merkten wir, dass ihn Dinos nicht nur begeisterten, weil es halt Mode war, sondern weil er ein fast wissenschaftliches Interesse entwickelte – nach der Dino-Phase dann für Reptilien, Insekten und allerlei Gewürm. Er konnte stundenlang im Garten Spinnen, Käfern, Maden, Raupen und Würmern bei der Arbeit zusehen. Immer wieder mussten wir ihn im Zoo zu Schlangen, Leguanen, Krokodilen, Skorpionen und Spinnen führen. Und zu den Fischen. Also kauften wir ihm Bücher über Fische, Reptilien und Insekten. Oh Wunder: Diese Bücher las er. Er schlug sie immer wieder auf. Las regelmäßig einzelne Dinge nach, hatte Fragen und versuchte, in den Büchern Antworten zu finden. Auf Reisen, im Urlaub mussten Zoos, Aquarien, Terrarien und naturkundliche Museen besucht werden.
Dann wollte Moritz unbedingt angeln. Eine Angel wurde angeschafft. Das störte zwar die tierliebe Mutter, aber darauf konnte keine Rücksicht genommen werden. Angelbücher, Angelzeitschriften: Moritz las alles gründlich. Wir gingen mit ihm angeln. Fingen nichts, aber das störte ihn überhaupt nicht, der Weg war das Ziel. Nur Livia hielt nichts davon. «Fische interessieren mich nicht», sagte sie kategorisch schon im Alter von fünf Jahren, «und Angeln schon gar nicht, das ist tiermörderisch und bescheuert», merkte sie fünf Jahre später an.
Im vergangenen Jahr entdeckte Moritz plötzlich seine Leidenschaft für Pflanzen. Er bekam sein Beet im Garten. Er hegte es und pflegte es, fuhr die Ernte ein, die aus fünf einzelnen Bohnen, sehr kurzen Karotten und verwurmten Rettichen bestand, und verkaufte alles teuer an seine Eltern. Sein kaufmännisches Gewinnstreben ist noch größer als seine gärtnerische Begabung.
Livia säte anfangs auch mit Begeisterung, aber dann überließ sie ihr Beet den Schnecken und der sengenden Sonne. Sie hört lieber Musik und hat darum keine Zeit fürs Gießen und für die Schädlingsbekämpfung. Die verschiedenen Interessen müssen also fein austariert werden. Das Leben in solch einer Familie ist eine beständige Übung in Toleranz – eine Übung, die auch den Eltern abverlangt wird.
Wie vermutlich alle Jungen interessierte sich auch Moritz besonders für tote Tiere und deren Verwesung, zumal unsere Katzen für eine kontinuierliche Belieferung mit Mäusen, Siebenschläfern und manchmal auch Ratten und Vögeln sorgen. Diese Leichen wurden von Moritz und seinen Freunden mit dem Messer aufgeschlitzt und untersucht. Wir duldeten es.
Andere Tiere wurden eingegraben und drei Wochen später wieder ausgegraben, abgewaschen, fotografiert, wieder eingegraben und wieder ausgegraben. Wir duldeten auch das. Vielleicht dient das ja der Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod.
Dann hatten sie die Idee, die Beute unserer Katzen in Marmeladengläsern luftdicht zu verschließen und den Verwesungsprozess zu beobachten. Wir bestanden nur darauf, die Gläser im Garten zu deponieren statt im Kinderzimmer. Gelegentlich wurden die Gläser auch wieder geöffnet, nicht selten auf dem Küchentisch, und unsere Proteste gegen den bestialischen Gestank wurden von Moritz und seinen Freunden toleriert. Unsere Erziehung zur Toleranz trug also Früchte.
Daraus entstand übrigens auch noch ein erzieherisch unbeabsichtigter, aber für die Familie enorm wichtiger Nebenvorteil: Da sich Moritz vor nichts ekelt, macht es ihm überhaupt nichts aus, das Katzenklo zu reinigen. So wurde er unser Mann fürs Katzenklo.
Und jetzt sollte er also einen Aufsatz verfassen. Moritz und seine Klassenkameraden mussten ein «Watuzi» beschreiben. Die Lehrerin hatte sich von einem Gedicht Peter Maiwalds über das «Watuzi» anregen lassen und gab diese Anregung weiter an ihre Schüler. Sie sollten sich die näheren Einzelheiten dieses geheimnisvollen Phantasiewesens ausdenken.
Das fiel bei Moritz auf fruchtbaren Boden.
Während andere Kinder oft nur das Äußere dieses Wesens beschrieben, hatte Moritz auch genaue Vorstellungen darüber, wie sich so ein Watuzi ernährt, sich fortpflanzt, welche Krankheiten es bekommen kann, wie es sich seinen Artgenossen gegenüber verhält – er schrieb wirklich «Artgenossen» – und dass es im Sommer in die Sommerfrische und im Winter «in die Winterstarre geht».
Der Aufsatz war ein voller Erfolg. Das Ergebnis: Eine Eins mit Sternchen. Und zwei stolze Eltern. Unsere Mühe war nicht umsonst.
Natürlich hatte Moritz auch Glück. Wenn seine Lehrerin nicht diese schöne Geschichte über das «Watuzi» gelesen und nicht gleich ein Aufsatzthema daraus abgeleitet hätte, wenn sie nicht von dem Wunsch beseelt gewesen wäre, ihren Schülern den Spaß am Schreiben zu vermitteln, ihre Phantasie anzustacheln, wenn sie stattdessen darauf bestanden hätte, einen Aufsatz über den letzten Ausflug schreiben oder eine mäßig interessante Geschichte nacherzählen zu lassen – dann hätte unser Moritz bestimmt kein Extralob nach Hause gebracht.
Es muss also viel zusammenkommen, bis so ein Einser mit Sternchen entsteht. Es muss neun Jahre lang schwer geschuftet werden. Gene für Deutsch oder Mathematik mag es ja geben, aber diese allein bewirken gar nichts. Der Ertrag der Schufterei steht in krassem Missverhältnis zum Aufwand, aber immerhin: Es gibt einen Ertrag, und sei er auch so karg wie Moritz’ erste Gartenernte. Die Mühe ist nicht umsonst. Erziehung ist eine sinnvolle Tätigkeit, wenngleich eine, die offenbar niemals aufhört.
Da es mit Deutsch, auch mit Rechnen, bei unserem Sohn jetzt zu klappen scheint, können wir uns anderen Defiziten zuwenden. In seinem nur rudimentär vorhandenen Charme beispielsweise steckt noch viel Entwicklungspotential. Und die pubertierende Livia schichtet gerade ihre Interessen um. Ihr Bedürfnis nach Schule und guten Noten erlebt zur Zeit einen dramatischen Schwund. Coole Jungs, coole Klamotten und heiße Partys zählen umso mehr.
Nach zwölf Jahren Leben mit Livia und neun mit Moritz glauben wir, eines behaupten zu können: Jene politischen und administrativen Maßnahmen, über die jetzt nach der PISA-Studie bei uns diskutiert wird, und all die ministeriellen Beschlüsse, die nun als Konsequenz aus dem PISA-Desaster noch zu erwarten sind – sie kratzen nur an der Oberfläche dessen, was Erziehung eigentlich bedeutet. Erziehung ist komplexer und schwieriger, als es sich auf Kultusministerkonferenzen und Symposien zur Leseförderung darstellt. Erziehung ist eine Aufgabe, die uns alle mehr fordert, als uns lieb ist.