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FUTTER FÜRS GEHIRN

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Wie wichtig die Familie für die frühkindliche Bildung ist, wird heutzutage von unvermuteter Seite bestätigt – von der Hirnforschung.1 Hirnforscher betonen neuerdings unentwegt die Bedeutung so genannter Zeitfenster für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Damit ist gemeint, dass das Gehirn zu bestimmten Zeiten – vor allem während der ersten Lebensjahre – gewisser Reize und Stimulierungen von außen bedarf, um bestimmte Strukturen auszubilden, die für die Entwicklung von Wissen, Können und Fertigkeiten wichtig sind. Kommen diese Reize zu spät, bilden sich die entsprechenden Strukturen nur noch rudimentär oder gar nicht mehr. Das dafür vorgesehene Zeitfenster hat sich geschlossen. In dieser Entdeckung der Hirnforscher haben wir somit die Entsprechung der alten Spruchweisheit: «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.»

Die meisten und wichtigsten Zeitfenster öffnen sich gleich nach der Geburt und während der ersten drei Lebensjahre, also in jener Zeit, in der die meisten Kinder ihr Leben in der Familie verbringen. Ebenfalls wichtig ist die Zeit zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, also die Kindergartenzeit. Was das Kind während dieser ersten sechs Jahre lernt oder nicht lernt, ist entscheidend für seinen weiteren Lebensweg. Ab ungefähr dem vierzehnten Lebensjahr sind die meisten Fenster geschlossen. Was bis dahin versäumt wurde, kann nur schwer kompensiert werden. Darum ist das, was während der ersten vierzehn Jahre in der Familie stattfindet oder unterbleibt, schicksalhaft für jedes Kind und kaum korrigierbar durch unsere derzeit bestehenden Kindergärten und Schulen.

Wolf Singer erläutert das Funktionieren dieser Zeitfenster an einem zunächst etwas abwegig erscheinenden Beispiel: Früher litten Neugeborene häufig an Infektionen ihrer Augen, die sie sich während der Geburt zuzogen. Die Folge waren Trübungen der Hornhaut oder gar der Linse. Die Kinder erblindeten und konnten nur noch diffuse Helligkeitsschwankungen wahrnehmen. Heute kann man Linsen und Hornhäute transplantieren oder gegen künstliche Medien austauschen. Aber wenn man das nicht rechtzeitig macht, geschieht etwas sehr Seltsames: Die Kinder werden trotz dieser Operation nie mehr sehfähig. Wie ist das zu erklären?

Die Ursache liegt nicht in den Augen, sondern im Gehirn, sagt Singer. Im Gehirn sind zum Zeitpunkt der Geburt alle Nervenzellen im Wesentlichen angelegt, aber noch nicht miteinander verbunden. Damit das Gehirn «weiß», welche Zellen es wie miteinander verbinden soll, «wartet» es auf entsprechende Signale von außen, auf bestimmte Sinneseindrücke. Erst wenn diese eintreffen, beginnt das Gehirn mit der Verschaltung und dem Aufbau der zur Verarbeitung dieser Signale nötigen Zellen. Trifft nichts ein, kommt kein optischer Eindruck von der Außenwelt, «meint» das Gehirn, die dafür nötigen Zellen würden nicht gebraucht, und vernichtet sie irreversibel.

Das heißt im Fall jener Babys, die etwas zu spät operiert wurden: Sie haben jetzt zwar funktionierende Augen, aber die Sinneseindrücke, die diese weiterleiten, finden im Gehirn nicht mehr die entsprechende Gegenstelle, die sie verarbeitet. Diese Gegenstelle existiert nicht mehr, und darum bleibt das Kind trotz reparierter Augen blind. «[Viele Patienten] lernten nicht, sich in der Sehwelt zu orientieren, Räume auszumessen oder Objekte zu identifizieren», sagt Singer. «Wenn die kritische Phase für die Entwicklung von Verbindungen in der Sehrinde durchlaufen ist, und sie beginnt beim Menschenkind kurz nach der Geburt und klingt dann im Laufe der ersten Lebensjahre ab, dann kommt jede Hilfe zu spät.»

Warum begeht das Gehirn diese «Dummheit», vorhandene Zellen vorzeitig zu vernichten? Weshalb kommen wir nicht mit einem fertig konstruierten Sehapparat auf die Welt, so wie ein Vogel mit einem fertig konstruierten Flugapparat geboren wird? Jener kann, ohne je geübt zu haben, aus dem Nest hüpfen und fliegen. Sehen dagegen lässt sich offenbar nicht über die Gene erfahrungsunabhängig programmieren, sondern muss erlernt und geübt werden. Warum?

Singer vermutet: Sehen, vor allem beidäugiges, räumliches Sehen sei eine zu komplexe Fähigkeit, um sie von vornherein genetisch festzulegen. Die zwei Bilder, die wir mit beiden Augen wahrnehmen, differieren ja leicht und müssen im Gehirn zur Deckung gebracht werden, erst danach sehen wir auch in die Tiefe, also dreidimensional. Dieser Prozess des Verschmelzens zweier verschiedener äußerer Bilder zu einem einzigen im Kopf hängt von vielerlei Zufälligkeiten ab, beispielsweise von der Körpergröße und dem Abstand der Augen, also von Variablen. Das Kind wächst ja noch. Daher wäre es tatsächlich von der Natur dumm, den Sehapparat vorweg komplett zu programmieren. Die Gene müssten dann den endgültigen Augenabstand und die Körpergröße kennen, und wenn sie den Sehapparat auf diese Größen programmierten, sähe der Mensch erst dann richtig, wenn er die entsprechende Größe erreicht hat. Vorher, also während der ganzen Kindheit und Jugend, sähe er alles verschwommen.

Daher ist es vernünftig, den Sehapparat erst im Nachhinein mit Hilfe der optischen Reize von außen zu entwickeln und ihn ständig an die sich verändernden Größen anzupassen. So bildet das Gehirn mit Hilfe der Umwelt Verschaltungsmuster, die durch genetische Instruktionen allein nicht zu realisieren wären.

Ein weiteres Beispiel für die Einbeziehung der Umwelt in die Entwicklung des Organismus ist ein Versuch, der am Massachusettes Institute of Technology (MIT) mit zwei Kätzchen angestellt wurde. Sie wurden in ein kleines Katzenkarussell gesetzt. Aber während das eine in einer Gondel saß und passiv bewegt wurde, hatte das andere die Pfoten auf dem Boden und konnte durch sein Laufen das Karussell bewegen. Dieser kleine Unterschied hatte gravierende Folgen. Das Kätzchen, das mit seinen Pfoten das Karussell bewegen durfte, entwickelte sich normal. Das andere war in seiner visuell-motorischen Koordination schwer gestört und nahezu blind. Die Entwicklung des Sehapparats bei Katzen ist also nicht nur von optischen Eindrücken allein abhängig, sondern auch von körperlicher Bewegung. Irgendwo im Katzenhirn fließen taktile, mechanische und optische Informationen zusammen, und erst nach der Verarbeitung dieser unterschiedlichen Informationen kann der Seh- und Bewegungsapparat der Katze gebildet werden.

Drittes Beispiel: Asiaten verfügen als Baby über die Fähigkeit, den Unterschied zwischen r und 1 wahrzunehmen. Weil aber in ihrem Sprachraum die Unterscheidung dieser Phoneme keine Rolle spielt, verlieren sie diese Fähigkeit wieder und hören als Erwachsene den Unterschied trotz deutlicher Aussprache nicht mehr, und was sie nicht hören, können sie auch nicht sprechen. Gleiches gilt für die Fähigkeit von Skandinaviern, mehr als ein Dutzend verschiedener A-Schattierungen zu hören.

Viertes Beispiel: Es gibt verschiedene Arten von Zeichensprachen für Taubstumme, zum Beispiel die American Sign Language (ALS), die auf den gleichen syntaktischen und grammatischen Regeln aufbaut und ähnlich abstrakte Symbole verwendet wie die gesprochene Sprache. Hier ersetzen lediglich die Hände die Sprachwerkzeuge und die Augen die Ohren. Diese Sprache wird in den gleichen Hirnstrukturen analysiert und produziert wie die gesprochene Sprache. Daneben gibt es noch andere Zeichensprachen, die sich mehr abbildender, mimetischer Strategien bedienen.

Nun zeigte sich: Kinder, die mimetische Sprachen erlernt haben, tun sich schwerer, logische Zusammenhänge höherer Ordnung zu durchschauen. Solche lassen sich mit mimetischen Sprachen nur unvollkommen darstellen, weil mangels abstrakter Symbole und differenzierter Syntax keine komplexen logischen Strukturen aufgebaut werden können. Offenbar kann man also durch den übenden Umgang mit einer differenzierten Sprache lernen, solche abstrakte Konstrukte auch zu denken und sich vorzustellen. Darin steckt, nebenbei, die Bestätigung eines alten Argumentes für Latein: Es schult das Denken. Allerdings schult das Erlernen jeder Sprache das Denken. Und Mathematik auch.

Fünftes Beispiel: Radfahren. Wer erst als Erwachsener versucht, Rad zu fahren, hat größte Schwierigkeiten, im Sattel zu bleiben. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen Sportarten. Wer es darin zur Meisterschaft bringen will, muss als Kind mit dem Training beginnen. Das Gleiche gilt für die Beherrschung von Musikinstrumenten.

Neben solchen frühen Prägungsphasen gibt es aber auch spätere und sehr späte, in denen sich die komplexen kognitiven Leistungen bilden. Die eigene Existenz in der Zeit zu begreifen, Handlungen aufzuschieben und von vorausgehenden Überlegungen abhängig zu machen, ein Konzept vom eigenen Ich zu entwickeln und sich in soziale Wertgefüge einzuordnen, sind Beispiele dafür. Kinder entdecken sich relativ spät als eigenständiges Ich. Erst ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr suchen sie nicht hinter dem Spiegel, sondern erkennen sich in ihm und beginnen sich als autonom Handelnde zu erfahren.

Diese höheren Leistungen des Gehirns entwickeln sich so spät, weil sie in vorderen Strukturen des Gehirns angesiedelt sind, die sich ebenfalls erst spät aufbauen. Erst wenn diese funktionstüchtig werden, gelingt es den Kindern, Handlungen aufzuschieben und vorher darüber nachzudenken, ob sie besser jetzt oder später agieren.

Stark für das Leben

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