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VOM NACKTARSCHIGEN AFFEN
UND DEN GENEN
ОглавлениеAls die Wirtschaft sich über unqualifizierte Studienabgänger beschwert hatte und der schwarze Peter von der Universität über das Gymnasium, die Grundschule und den Kindergarten an die Eltern weitergereicht worden war, blieb diese Karte dort nicht sehr lange liegen. Die Lesekompetenten unter den Eltern zeigten auf ein Buch und sagten: Wir können gar nicht schuld sein, denn Erziehung ist sowieso sinnlos.
Das weltweit beachtete Buch trägt tatsächlich den Titel «Ist Erziehung sinnlos?», und die amerikanische Autorin Judith Rich Harris beantwortet die Frage eindeutig mit Ja. Der erzieherische Einfluss der Eltern sei wesentlich kleiner als gedacht, interpretiert sie ihre eigenen Forschungen. Viel prägender seien Freundeskreise und das soziale Milieu, den Rest gäben die Gene vor. Der nüchterne Schluss lautet: «Wir sind als Eltern austauschbar wie Fabrikarbeiter.»1
Niemand ist also schuld am PISA-Desaster, allenfalls die Peer-groups unserer Kinder und das soziale Milieu, und vielleicht nicht einmal das?
Möglicherweise ist alles nur Zufall, sagt Steven Pinker, Professor für Psychologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Was wir als «Umwelt» bezeichnen – also das Ergebnis aller erzieherischen Einflüsse –, habe wahrscheinlich gar nichts mit der Umwelt zu tun, sondern sei das Resultat zufälliger Ereignisse bei der Entwicklung des Gehirns.
Tatsächlich ist wissenschaftlich belegt, dass sich Zellen selbst dann unterschiedlich entwickeln, wenn sie exakt dasselbe Erbgut besitzen. Sogar Klone würden sich auf lange Sicht uneinheitlich ausprägen, aber eben nicht aufgrund von Umwelteinflüssen, sondern durch einen genetisch gesteuerten Zufallsgenerator.2 Daher, so folgert Pinker, sei «ein weiterer Teil unserer Persönlichkeit und unserer Intelligenz biologisch (wenn auch nicht genetisch) bedingt und damit selbst den besten Absichten der Eltern und der Gesellschaft entzogen».3
Erziehung ist also vergebens?
Der bisherige Verlauf der Weltgeschichte spricht durchaus dafür. Schon ein kurzer Blick auf diese Geschichte erzwingt die nüchterne Erkenntnis, dass alle bisherigen Bemühungen um die «Erziehung des Menschengeschlechts» zu keinerlei Trost oder Hoffnungen berechtigen. Trotzdem ersinnen Philosophen, Theologen, Pädagogen und Psychologen seit Jahrhunderten alle denkbaren Theorien, die erklären, wie man den störrischen, schwer verbesserlichen Menschen durch Erziehung dorthin bringt, wohin er von Natur aus offensichtlich nicht will. Funktioniert hat bisher noch keine dieser Theorien.
Und wer sich mit der Fülle der pädagogischen Ratgeber abmüht, wird am Ende von den tausendundein einander widersprechenden Empfehlungen so verwirrt sein, dass er zu keiner erzieherischen Handlung mehr fähig ist.
Jeder Vater und jede Mutter mit mindestens drei Kindern lernt aus Erfahrung: Eine bestimmte erzieherische Maßnahme führt beim ersten Kind genau zum Ziel, beim zweiten erreicht sie das Gegenteil und beim dritten etwas völlig anderes, was weder beabsichtigt noch vorherzusehen war. Lernfähige Erzieher schließen daraus: «Jedem das Gleiche» funktioniert in der Erziehung nicht. Also probiert man’s mit dem Grundsatz «Jedem das Seine». Mit dem Ergebnis, dass die individuell auf das erste Kind zugeschnittene Maßnahme tatsächlich ihren Zweck erfüllt, die im zweiten Fall maßgeschneiderte Lösung dagegen nur halb funktioniert, und beim dritten Kind klappt überhaupt nichts.
Auf Erziehungsratgeber angewendet heißt das: Von sechs gegebenen Ratschlägen für ein einziges Kind passt, wenn man Glück hat, einer, aber welcher das ist, weiß man vorher nicht, und er hat auch nur Erfolg, wenn man ihn am richtigen Ort zur richtigen Zeit anwendet.
Bleibt, wenn man aus allen Ratgebern und Erziehungstheorien sämtliche Widersprüche eliminiert, noch etwas übrig, was allen gemeinsam ist? Gibt es so etwas wie gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, einen pädagogischen Konsens, der Bestand hat? Ja doch, den gibt es, die Frage ist nur, wie weit er trägt.
Konsens ist zum Beispiel der Glaube, geordnete Verhältnisse, Ruhe, Rhythmus, Beständigkeit, zuverlässige Eltern – die Amerikaner nennen es «mothering» – seien wichtige Voraussetzung einer guten Erziehung. Chaos, Unruhe, Hektik stehen der gesunden Entwicklung eines Kindes im Wege, glauben wir, glauben alle Ratgeber. Wahrscheinlich trifft das für die meisten Kinder zu, aber einigen anderen scheint genau dies zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit verholfen zu haben. Und anscheinend ist Chaos in der Kindheit hilfreich für eine spätere Schauspielerkarriere.
Wie zum Beispiel beim Schaustellerkind André Eisermann. Aufgewachsen auf Rummelplätzen, zwischen Schaubuden und Panoptiken, kannte er kein geregeltes Lernen und Leben. Er ging mal da und mal dort zur Schule, und manchmal auch gar nicht, erzählt Eisermann in seiner Autobiographie «1. Reihe Mitte. Ein Schaustellerleben». Aber er wurde ein hervorragender Schauspieler. Für die Titelrolle in «Kaspar Hauser» erhielt er Auszeichnungen auf der ganzen Welt.
Ein anderer großer Schauspieler, Gottfried John, sagt von sich: «So etwas wie Erziehung oder eine vernünftige Schulbildung habe ich nie genossen.» In seinen «Bekenntnissen eines Unerzogenen» berichtet der Schauspieler, seine Mutter habe immer beteuert: «Ich bin keine Mutter, ich weiß nicht, wie das geht und was richtig ist oder falsch. Entscheide du!» Das habe ihn oft überfordert, «aber ich kannte ja nichts anderes, insofern habe ich nicht darunter gelitten.»
John hat seinen Vater nie getroffen, wurde unehelich geboren, weshalb sich seine Mutter, gelernte Fremdsprachenkorrespondentin, gläubige Katholikin, als «gefallenes Mädchen» betrachtete. Sie gab von einem Tag auf den anderen ihr bürgerliches Leben auf und führte mit ihrem Kind ein Nomadenleben. Sie ließ sich treiben, trampte von Stadt zu Stadt, nahm jeden Tag als ein Abenteuer.
Der Junge wurde zum Staatsmündel erklärt und in Heime gesteckt, aus denen er regelmäßig wieder ausbrach. Wenn sie so herumzogen, immer auf der Flucht vor dem Fürsorgeamt, wussten sie oft nicht, wovon sie am nächsten Tag leben sollten. Aber es ging irgendwie, der Junge verhungerte nicht, wurde Schauspieler, arbeitete mit Hans Neuenfels, drehte mit Rainer Werner Fassbinder neun Filme, agierte als fieser Gegenspieler von James Bond, gab den Kommissar Beckmann im Fernsehen und den Cäsar in «Asterix & Obelix».
Was er von seiner Mutter bekommen hatte? Liebe statt Ordnung, und wenn man einem Kind nicht beides geben kann, dann ist Liebe der Ordnung auf jeden Fall vorzuziehen. Als sich Gottfried John einmal besonders hässlich fühlte, sagte ihm seine Mutter: «Du bist etwas ganz Besonderes, Goddi. Vielleicht bist du nicht schön, aber dafür bist du interessant. Und wenn du lachst, dann geht die Sonne auf.»
Vielleicht kann solche Liebe über das ganze Chaos hinwegtragen, in das jemand hineingeboren wird. Es gab sicher noch mehr solcher trostreichen Sätze in Gottfried Johns Leben, und wahrscheinlich sind es diese Sätze, die scheinbar gesicherte pädagogische Erkenntnisse ins Wanken bringen.
So ein Gemeinplatz ist beispielsweise der Glaube, eine rundum glückliche Kindheit und ein liebevolles Elternhaus bringe liebevolle Menschen und ausgeglichene, lebenstüchtige, charakterstarke Persönlichkeiten hervor. Dagegen lehrt die Beschäftigung mit Lebensläufen prominenter und nichtprominenter Zeitgenossen, dass sich viele von ihnen trotz traumatischer Kindheitserlebnisse zu ausgeglichenen und empathiefähigen Menschen entwickeln konnten, während so manches liebevoll erzogene Kind trotz hoher Begabung und optimaler Familienverhältnisse später im Erwachsenenalter zu einer unzufriedenen, neurotischen Nervensäge mutierte.
Konsens ist, dass geprügelte Kinder später selber zu Gewalt neigen. Wenn man die Kindheit prügelnder Väter untersuche, stelle man fest, dass 90 Prozent früher selber verprügelt wurden, sagen die Statistiker. Sie können aber nicht erklären, warum Menschen zu Schlägern werden, die als Kind nie geschlagen wurden, und warum viele verprügelte Kinder später keineswegs selber prügeln.
Die Statistik ist also offenbar immer nur ein Argument von begrenzter Reichweite für oder gegen die Erziehung, denn die Zusammenhänge zwischen elterlichen Erziehungsmethoden und Erziehungsergebnissen sind selten so eindeutig, wie wir es gerne hätten. «Möglicherweise kann man mit Erziehung den Kindern nur Glück und Sicherheit geben. Alles andere ist ihre Sache. Wenn sie scheitern, scheitern sie», sagt Cathrin Kahlweit, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung und Mutter dreier Kinder.
Es scheint uns daher mit unseren Theorien und Mutmaßungen über eine gute Erziehung nicht besser zu gehen als den Aktienanalysten, deren Treiben der Wirtschaftswissenschaftler Burton Malkiel auf die Formel brachte: «Ein blinder, nacktarschiger Affe könnte Dartpfeile auf die Finanzseiten einer Zeitung werfen und so ein Depot zusammenstellen, das ebenso erfolgreich wäre wie eines, das von Experten sorgsam zusammengestellt worden ist.»
Vollends in die Resignation treiben uns seit etlichen Jahren die Genforscher, Biochemiker, Gehirnforscher und Informatiker, die pausenlos melden, schon wieder ein neues Gen, ein Hormon, einen Gehirnbotenstoff oder sonst einen biochemischen Mechanismus entdeckt zu haben, der nun endgültig erkläre, warum wir so sein müssen, wie wir sind.
Menschliche Instinkte und Verhaltensweisen hätten sich in der steinzeitlichen Urhorde entwickelt und in der kurzen Geschichte der Zivilisation noch nicht genügend Zeit gehabt, um uns nackte Affen an die Lebensbedingungen von heute anzupassen, erklären die Soziobiologen. Und mit Vorliebe erzählen sie uns von Orang-Utans, die gern mal einzelgängerische Weibchen vergewaltigen, womit uns die Vermutung nahe gelegt wird, es scheine auch Vergewaltigergene zu geben. Von Glücks-, Raucher- und Verbrechergenen lesen wir ebenfalls regelmäßig in der Zeitung, und auch für Alzheimer, Brustkrebs und Fettsucht und natürlich für die Intelligenz sind neuerdings die Gene zuständig.
Unkoordiniert und wohl auch ungewollt malen Wissenschaftler aller Disziplinen ein Bild des Menschen, das uns als in der Steinzeit programmierte, von Zufällen und Hormonen gesteuerte biochemische Maschinen erscheinen lässt. Und die eine erstaunliche Intelligenz dabei entwickeln, sich über sich selbst zu täuschen und sich der Illusion eines freien Willens und dem Aberglauben an ein personales Ich hinzugeben.
Für Erziehung scheint in diesem Gemälde kein Platz zu sein, allenfalls für Dressur, und diese würde vermutlich sogar für das reibungslose Funktionieren unserer Gesellschaft genügen. Wozu also Erziehung?