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SCHICKSALSJAHRE

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Was macht unsere Kinder stark für das Leben? Das ist die Leitfrage dieses Buches. Welche Möglichkeiten haben Eltern, ihre Kinder gegen die Gefährdungen des Lebens so zu immunisieren, dass sie mit traumwandlerischer Sicherheit durchs Leben gehen, als ob ein starker Zauber sie schützte? Können Eltern überhaupt großen Einfluss nehmen?

Hier kommt eine erste Antwort: Ein englisches Forscherteam hat viertausend vierzehn- und fünfzehnjährige Jugendliche aus fünf europäischen Ländern untersucht und herausgefunden, dass gesunde Familienverhältnisse der beste Schutz gegen Drogen und Alkohol seien. Die Forscher hatten die Qualität des Familienlebens untersucht und zum Beispiel gefragt, ob die Eltern den Fernsehkonsum ihrer Kinder kontrollieren. Hatte nach der Schule jemand zu Hause gewartet? Hatten die Kinder ein vertrautes, offenes Verhältnis zu ihren Eltern, und durften sie Freunde mit nach Hause bringen?

Die Studie zeigte, dass Jugendliche deutlich weniger zu Alkohol und anderen Drogen neigten, wenn sie von beiden Eltern großgezogen wurden und eine gute Betreuung und gesunde Familienverhältnisse genossen hatten. Als der wichtigste Einzelfaktor erwies sich die enge Beziehung zur Mutter.1

Es ist schon kurios, dass Selbstverständlichkeiten oft erst dann zur Kenntnis und ernst genommen werden, wenn sie durch wissenschaftliche Studien belegt wurden. Daher müssen wir wünschen, dass die englischen Wissenschaftler ihr Untersuchungsfeld noch ein wenig ausweiten, damit sie auch noch herausfinden, dass gesunde Familienverhältnisse der beste Schutz gegen überhaupt alles sind. Kinder sind umso gesünder, kräftiger, belastbarer und selbstbewusster, je besser die Qualität ihres Familienlebens ist. Mehr noch: Zwischen der Qualität des Familienlebens, das wir unseren Kindern angedeihen lassen, und ihren Leistungen in der Schule besteht ein direkter Zusammenhang.

In einer im Juli 2002 veröffentlichten Stellungnahme des «Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend» hört sich das so an: «Die Qualität des kulturellen und sozialen Kapitals, das Kindern in ihren Herkunftsfamilien vermittelt und von ihnen angeeignet wird, erweist sich nach den Ergebnissen der PISA-Studie (wie zuvor schon in vielen anderen Untersuchungen) als die wichtigste Voraussetzung und wirksamste Grundlage für schulische Lernprozesse.»2

Auf Deutsch: Der erste Ort für Bildung ist die Familie. Und wie gut ein Kind in der Schule abschneidet, hängt nicht primär vom Einfluss der Schule ab, sondern vom Elternhaus. Dennoch, wird in dieser Stellungnahme kritisch angemerkt, gebe es in der großen Debatte nach PISA nur wenige Stimmen, welche die entscheidende Rolle der Familie für die Bildung und für den Schulerfolg zum Thema machten. Es sei, abgesehen von Unterschieden im Temperament und in anderen Anlagen, eine Folge der elterlichen Erziehung und des Familienlebens, ob Kinder sich mit Ausdauer einem Spiel oder einer Aufgabe zuwenden und sie bis zu einem Ziel oder Ende betreiben können.3

Was Kinder in ihrer Familie erleben oder nicht erleben, entscheide darüber, ob sie ihre angeborene Neugier, den Wunsch, begreifen zu wollen, und ihr Verlangen, auszuprobieren und zu entdecken, weiterentwickeln oder verlieren. Wie Kinder mit Erfolg und Misserfolg umgehen, wie sie sich in unklaren Situationen verhalten, ob Niederlagen sie in die Resignation treiben oder zu neuen Bemühungen anspornen, und ob sie «Belohnungsaufschub» leisten können zugunsten längerfristiger Ziele – das alles lernen sie primär in der Familie.4 Oder eben nicht, und dann mit gravierenden Folgen für ihr weiteres Leben.

Erziehung ist die Kunst, für jedes Kind zu jedem Zeitpunkt das jeweils richtige Maß zwischen zwei Extremen oder mehreren konkurrierenden Zielen zu finden. Und oft genug ist es auch die Kunst, dieses richtige Maß für das Kind jetzt gerade nicht zu suchen, sondern es selbst suchen zu lassen.

«Sie machen zu viel», sagte eine Psychologin zu Cathrin Kahlweit, Mutter dreier Kinder. «Ihr Sohn muss lernen, sich zu langweilen. Sie sind zu eilfertig. Wenn er sagt, dass er sich langweilt, dann machen Sie nicht sofort ein Programm für ihn, sondern lassen sie ihn sich langweilen.» Es sei wichtig, Kindern Phasen der Langeweile zuzumuten, findet auch Claudia Volmar, Mutter zweier Kinder aus Mainz, «nur dann können Kinder auch Ideen entwickeln oder einfach nur vor sich hin träumen».

Auch Eltern müssen für sich selbst das jeweils richtige Maß finden, im Grunde besteht darin die ganze Kunst des Lebens. Und eigentlich ist es das, worum es bei der Erziehung geht: das Kind zu lehren, wie man lebt und wie man dieses Maß findet.

Und wie lehrt man das? Indem man miteinander lebt. Erziehung sei kein zweckrationaler Vorgang, sagt der Philosoph Robert Spaemann. Es gebe nicht eine spezielle Tätigkeit, die man «Erziehen» nennt. Erziehung sei vielmehr eine Nebenwirkung, die sich einstellt, wenn man vielerlei anderes tut.

Wo geschieht das alles? Zuallererst in der Familie. Im Nest der Familie machen die Jungen ihre ersten Übungen im Fach Leben. Dort ahmen sie nach, was ihnen vorgelebt wird. Dort erhält das Leben der Kinder eine erste Struktur, einen Rhythmus und eine Ordnung. Dort erfahren sie von Anfang an: Leben lernen heißt unterscheiden lernen. Also lernen sie den Unterschied zwischen gut und böse, wahr und unwahr, schön und hässlich, zu viel und zu wenig, wichtig und unwichtig. Dort lernen sie den Unterschied zwischen richtigem und falschem Stolz, richtigem und falschem Ehrgeiz, Mut und Tollkühnheit, Sparsamkeit und Geiz, Großzügigkeit und Verschwendungssucht.

Dort lernen sie, wie man sich freut und wie man trauert, wie man sich in Menschen und Tiere einfühlt, wie man Schmerzen aushält und sich selbst, seinen Körper und seine Triebe beherrscht. Dort lernen sie, wie man mit dem Bösen umgeht, mit der Lüge, der Gewalt, mit dem Leid und mit dem Tod. Dort lernen sie, wie man sich gegenüber Schwächeren verhält und gegenüber Stärkeren, wann Regeln gelten und wann die Ausnahme, wie sich der Alltag vom Fest unterscheidet und dass Ostern anders riecht als Weihnachten.

Dort lernen sie, dass auch ihre Eltern Eltern haben, und diese ebenfalls Eltern hatten, dass sie also Teil einer Geschichte sind, die sie nicht mehr ändern können. Sie erfahren aber auch, dass sie eine Zukunft haben, die sie noch beeinflussen und gestalten können, und dass diese Zukunft nur dann besser wird, wenn sie aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

In der Familie lernen Kinder, dass ihr Zuhause Teil eines Dorfes, einer Stadt, einer Region, eines Landes ist und dieses Land eine Geschichte hat, durch die sie mit den Generationen vor ihnen verbunden sind. So kann ein Gefühl für Heimat und Geborgenheit in ihnen heranreifen. So lernen sie, Verantwortung für sich und ihr Zuhause zu übernehmen. So lernen sie, ohne dass sie es richtig merken, starke Charaktere zu werden.

Oder sie lernen es nicht. Gelernt wird das alles nur, wenn dieses Nest nicht beschädigt ist, wenn es über funktionierende Strukturen verfügt oder zumindest über einen Ersatz für diese Strukturen, und wenn da mindestens ein Erwachsener ist, der diese Unterscheidungen aufrechterhält und vorlebt, was ihm wichtig ist.

Wo kein Unterschied gemacht wird zwischen Werktag und Feiertag, Ostern und Weihnachten, wo das Leben nur den Unterschied zwischen Arbeit und Freizeitgestaltung kennt, da wird natürlich weniger gelernt. Wo es keine Familienfeiern gibt und keine Verwandtenbesuche, werden möglicherweise auch keine Familiengeschichten erzählt. Wo sich Eltern verabschieden vom Strom der Geschichte und der Traditionen, wird kein Kind mehr Anschluss finden, und es kann kein Geschichtsbewusstsein ausbilden. Wenn sich Eltern, Geschwister, Verwandte gleichgültig verhalten gegenüber Gut und Böse, Wahr und Unwahr, Schön und Hässlich, wird auch das Kind nicht zu unterscheiden lernen und keine Werthaltung, keinen Charakter entwickeln.

Wenn Eltern zwischen Liebe und Verwöhnung zu unterscheiden wissen, wenn sie konsequent sind in ihrer Haltung, aber auch immer wieder begründete Ausnahmen zulassen, wenn Eltern das richtige Maß für Lob und Tadel finden, für Freiheit und Kontrolle – dann werden auch die Kinder zu unterscheiden lernen.

Wo solche Unterschiede nicht gemacht werden, wo über das jeweils richtige Maß nie gestritten wird, wo Familienereignisse, Fernsehsendungen oder Zeitungsberichte selten zu Familiendiskussionen führen und keine Werturteile hervorrufen, wo es keine Bücher gibt und nicht gelesen und vorgelesen wird, sinkt die Chance der Kinder auf Entwicklung. Dann lernen sie nicht, eine differenzierte Sprache auszubilden, differenziert zu denken, sensibel auf menschliche Signale zu reagieren, soziale Intelligenz zu entwickeln. Wo Sprachlosigkeit herrscht, sinkt die Urteilskraft und mit ihr die Abwehrkraft gegen Manipulationen, Konsumismus und Gewalt. Damit beginnt die geistige, seelische und körperliche Verwahrlosung, und daraus entwickelt sich Ich-Schwäche.

Natürlich sind es nicht die Eltern allein, die wesentlich das Schicksal ihrer Kinder beeinflussen. Je älter diese werden, je stärker ihr Aktionsradius wächst, desto größer werden die Einflüsse von außen. Aber auch darauf haben Eltern Einfluss. Welchen Peergroups ein Kind sich anschließt, welche außerfamiliäre Einrichtungen ein Kind besucht, welche Angebote es wahrnimmt, kann man entweder dem Zufall überlassen oder so weit wie möglich bewusst steuern. Schon mit der Entscheidung, in welche Gegend man zieht, trifft man eine Vorentscheidung über die Peer-groups, die das Kind dort vorfindet, über die Schulen, Vereine und Bildungsangebote, die zur Wahl stehen.

Deshalb ist es die Pflicht des Staates, der Wirtschaft und überhaupt der ganzen Gesellschaft, die Eltern zu stärken und den Familien zu geben, was sie brauchen, um ihre Verantwortung für die Kinder wahrnehmen zu können. Wo die Eltern versagen, kommt es darauf an, dass andere Erwachsene die Stelle der Eltern einnehmen und tun, was deren Pflicht wäre. Man muss Familien ermöglichen, an der Qualität ihres Familienlebens zu arbeiten, und wo das nicht gelingt, muss Vater Staat als Ersatzvater einspringen und Pädagogen, Psychologen und Betreuungseinrichtungen bereitstellen. Besonders Alleinerziehenden muss vielfältig geholfen werden.

Die Familie ist in den letzten dreißig Jahren fast vergessen worden und wird jetzt gerade wieder neu entdeckt, auch von den Parteien. Sogar die Grünen bekunden eine neue Wertschätzung der Familie und nehmen erstmals einen Gedanken zur Kenntnis, der ihnen lang so fremd erschien: dass Familie als Institution ein Wert sein könnte, den wir auch im 21. Jahrhundert bewahren müssen.

Ob die Familie zu einem Ort der Geborgenheit wird, hängt nicht davon ab, ob es einen Trauschein gibt. Auf die Bewohner dieses Nests kommt es vor allem an. Ihnen sollte unsere Sorge gelten.

Stark für das Leben

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