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Mozart im Kuhstall

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Aus eigener Erfahrung möchten wir aber ergänzen: Bevor man Kindern gibt, wonach sie verlangen und womit sie angeblich glücklich werden, sollte man dieses Verlangen kritisch hinterfragen. Unsere Kinder, und viele andere auch, verlangen beispielsweise heftig nach Fernsehen, Computer und Videospielen. Weniger heftig begehren sie Bücher. Es ist zwar in unserem Land eine Zeit lang so getan worden, als ob schon Fünfjährige an den PC gesetzt werden müssten, um fit zu werden für das spätere Leben in der Informationsgesellschaft. Doch es scheint sich allmählich herumzusprechen, dass das Gehirn noch kein Zeitfenster für Textverarbeitungsprogramme und Excel-Tabellen entwickelt hat und der Computer daher so lange warten kann, bis jene Fähigkeiten ausgebildet sind, die nur innerhalb bestehender Zeitfenster optimal ausgebildet werden können. Manch ein kindliches Verlangen verlangt danach, auf die richtigen Felder gelenkt zu werden.

Darum schicken wir unsere Kinder lieber in den Klavier – als in den Computerunterricht, denn vom Klavierspielen weiß man: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Hätten wir früher gewusst, dass man eine Fremdsprache am besten im Kindergartenalter erlernt, hätten wir uns einen fremdsprachigen Kindergarten ausgesucht – falls es so einen überhaupt gegeben hätte.

Andererseits, warnt Singer, sollte man nicht den Fehler begehen, die Kleinen mit Überangeboten zu überschütten. «Mozart nicht nur im Kuhstall, sondern auch im Babyzimmer, Musik und Malerei aller Stilrichtungen, vielleicht sogar etwas hohe Literatur vorlesen» – das sei natürlich Unsinn. Solch ein Overkill sei eher schädlich. Damit erschwere man seinen Kindern deren Bestreben, das für sie Wichtige selber herauszufiltern.

In den meisten Fällen werde es genügen, darauf zu vertrauen, dass die jungen Hirne selbst am besten wissen, was sie in verschiedenen Entwicklungsphasen benötigen und dank ihrer eigenen Bewertungssysteme kritisch beurteilen und auswählen können. Kinder seien in aller Regel genügend neugierig und wissbegierig, um sich das zu holen, was sie brauchen. Elternehrgeiz sei wenig dienlich, es komme nicht darauf an, was die Eltern wollen, sondern was das Kind mitbringt und will.

Entscheidend für die Entwicklung des Kindes sei die Kommunikation mit ihm, betont Singer und erläutert deren Bedeutung am Beispiel des Autismus. Dessen Entwicklung werde unter anderem darauf zurückgeführt, «dass es den Kindern nicht gelingt, die emotionalen Signale zu dechiffrieren, die ihre Bezugspersonen in ihrer Mimik und Gestik ausdrücken». Wenn die Kinder nicht in der Lage sind, diese bewertenden Signale zu dechiffrieren, führe dies zu sozialer Isolation und in der Folge zu gravierenden Fehlentwicklungen aller höheren kognitiven Funktionen. Der Dialog mit der Umwelt breche ab, und umweltabhängige Entwicklungsprozesse würden fehlgeleitet. Das belege, wie außerordentlich wichtig kommunikative Prozesse für die Hirnentwicklung seien.

Kommunikative Prozesse für die Hirnentwicklung – für uns ist das nur der verwissenschaftlichte Ausdruck für etwas anderes: Familienleben. Familie ist der primäre Ort der «kommunikativen Prozesse für die Hirnentwicklung». Und wie fördert man die Kommunikationsfähigkeit der Kinder so umfassend wie möglich? Nicht nur durch Worte, nicht nur durch rationale Logik und kognitive Inhalte, sondern mehr, besser und effektiver über Emotionen und durch nichtsprachliche Ausdrucksmittel, sagt Singer.

In seiner durch ein langes akademisches Leben geprägten Sprache betont der Professor, es sei «wohl bekannt, dass durch bildnerische, musikalische, mimische, gestische und tänzerische Ausdrucksformen Information transportiert werden kann, die sich in rationaler Sprache nur sehr schwer fassen lässt. Überzeugende Schilderungen widersprüchlicher Gestimmtheiten gelingen nur selten mit Worten allein, es sei denn, es liegt lyrische Sonderbegabung vor. Aber die angesprochenen nichtrationalen Kommunikationstechniken können gerade solche Inhalte hervorragend vermitteln, weil sie nicht an binäre Logik gebunden sind. Ich behaupte, und entferne mich damit sicher nicht zu weit von der Wahrheit, dass alle Kinder mit dem Angebot kommen, diese nichtrationalen Kommunikations- und Ausdrucksmittel zu nutzen, und dass alle Kinder über sie verfügen, dass wir diese aber zu wenig und, wenn überhaupt, dann zu spät fördern und sie auf Kosten der Ausbildung der rationalen Sprache vernachlässigen oder gar unterdrücken. Hier liegt nach meiner Einschätzung ein Fall von Deprivation vor.»

Damit bestätigt der Professor, was wir schon in unserem ersten Buch geschrieben hatten: «Sprechen, Malen, Zeichnen, Gestalten, Singen, Musizieren, Spielen und Tanzen haben für die Bildung des Menschen auch im Informationszeitalter eine höhere Bedeutung als das Herumklicken mit der Maus im Internet-Explorer.»

Es freut uns, dass wir in dieser Einschätzung nun auch von der Hirnforschung und der Unternehmensberatung McKinsey bestätigt werden.

Stark für das Leben

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