Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 11
08:45 AM
ОглавлениеBrugger wurde wieder wach. Diesmal weckte ihn das Vibrationssignal seines Smartphones, das auf dem Nachttisch neben der leeren Tasse lag. Der Löffel in der Tasse vibrierte klirrend mit. Aus den Augenwinkeln nahm er auf dem Flachbildschirm wahr, dass die Analyse noch lief. Wer wagte es also, ihm so früh morgens eine SMS zu schicken?
„Morgen Chef! 8:45 Uhr, wir vermissen Sie! Nehme an, Sie arbeiten heute zu Hause?“
Brugger blickte auf den LED-Wecker und bestätigte die Zeit. Dann noch ein Blick auf den Bildschirm, auch dieser bestätigte ihm, dass er verschlafen hatte. „Komme um zehn!“, lautete seine kurze Antwort-SMS an seinen Assistenten. Rechtfertigen musste er sich nicht, aber er wollte, dass man ihn kontaktierte, falls er zu spät dran war. Früher kam es durchaus öfter vor, dass er in der Arbeit versank und die Zeit völlig vergaß.
Allerdings fühlte er sich diesmal völlig unschuldig. Was war passiert? Warum rechnete diese Kiste immer noch? Stromausfall? Ein Online-Update, das seine Analyse verlangsamt hatte? Offensichtlich lief sie noch.
Zum zweiten Mal wurde sein Tagesplan heute über den Haufen geworfen und das gefiel ihm gar nicht. Er wollte so schnell wie möglich wissen, woran es lag und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er versuchte, die Zahlen dort auf dem Bildschirm zu erkennen. Sicher brauchte er eine Lesebrille für Kleingedrucktes, aber diese Zahlen waren groß und scharf genug, dank des riesigen Flachbildschirms. Was er auf dem Bildschirm sah, konnte er einfach nicht glauben. Hatte Magnussen genau danach gesucht? Hatte er die Idee schon fast zehn Jahre früher gehabt als er und einen Versuch angesetzt, der Black-Spots erklären sollte?
Die Analyse stand momentan bei 115 nachgewiesenen Ergebnissen; der bisherige Rekord bewegte sich bei drei! Und bei diesen bisherigen Resultaten seiner Forschungsreihe musste seine Crew jedes Mal konstatieren, dass es sich um reine zeitliche Übereinstimmungen gehandelt hatte, die nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit durchaus als Zufall akzeptiert werden konnten.
Es war zwar erstaunlich, dass in dem Fall zur absolut gleichen Zeit ein Massenspektrometer in Moskau, ein Thermometer in Gotland und ein Amperemeter in Buenos Aires völlig absurde Messergebnisse geliefert hatten, aber worin sollte da der Zusammenhang bestehen? Und so mussten sie es als Zufall abstempeln. Aber 115, nein, gerade sprang die Anzeige auf 116! Das war eine ganz andere Hausnummer!
Allerdings war es noch nicht einmal die Zahl, die bei Brugger für Gänsehaut sorgte. Das Programm zählte derzeit fast einhunderttausend potenzielle Übereinstimmungen und das bei gerade einmal siebzig Prozent auf dem Fortschrittsbalken. Diese zweite Kategorie von Resultaten hatte bisher bei allen Versuchsansätzen im gleichen Größenbereich gelegen, wie die tatsächlich nachgewiesenen.
Diese Explosion an Übereinstimmungen konnte nun eigentlich nur zwei Sachverhalten zugeschrieben werden. Entweder hatte Brugger bei der Eingabe der Analysedefinitionen absoluten Bockmist gebaut oder hier war eine wissenschaftliche Sensation im Gange.
Brugger erhob sich aus dem Bett und schlüpfte wieder in seine Puschen. Die Tiger blinzelten wieder nicht, aber er meinte, dass er ängstlichen Zweifel in ihren Augen sehen konnte. Interessant, wie viele menschliche Gefühle sich in die Plastikaugen von Stofftieren hinein interpretieren ließen.
Beim Aufstehen merkte er, dass seine Beine wacklig waren. Kein Wunder! Wenn du als Forscher solch ein Ergebnis geliefert bekommst, willst du eigentlich hinausrennen und der Welt mitteilen, dass du etwas Großes vollbracht hast. Blöd nur, wenn dich der erste Passant fragt: „Was haben Sie denn vollbracht?“ und du dann antworten musst: „DAS weiß ich noch nicht!“
Man musste sich in solchen Momenten immer beherrschen, nicht zu früh zu jubeln und man durfte schon gar nicht andere Fachkollegen informieren. Das würde mit Sicherheit im Fiasko enden. Eine Entdeckung erforderte immer ein gesundes Maß an Verschwiegenheit oder gar Geheimniskrämerei.
Erst wenn das Gebilde solide genug war, durfte man es in die Wildnis der Wissenschaft entlassen. Das Kind deiner Forschung musste gesund und kampfbereit sein, wie ein Elefant oder ein Nashorn; schickte man eine kränkliche, kleine Gazelle, würde sie nur von den Hyänen zerrissen werden. Und Hyänen gab es in der wissenschaftlichen Gemeinde zur Genüge.
Er griff nochmals nach seinem Smartphone und tippte eine revidierte Meldung ein: „Streiche zehn Uhr! Arbeite zu Hause! Nur dringendste Anrufe!“
Der Fortschrittsbalken zeigte Brugger an, dass er frühestens in einer Stunde mit einem abschließenden Protokoll rechnen konnte, also lieber erst mal duschen, einen Kaffee ziehen und den Verstand für das öffnen, was dieser Tag noch bringen könnte.
Was hatte er da heute Nacht eingegeben? An alles konnte er sich nicht erinnern, nur dass er sehr viele Verknüpfungen erlaubt hatte, was vielleicht die riesige Zahl an potenziellen Treffen erklärte. Und gerade diese würden Brugger sicher noch die meiste Arbeit machen.
Brugger betrat das Bad und betrachtete sich im Spiegel. Mit seiner linken Hand strich er über die Altersfurchen und zog sie etwas glatt. Besonders nach einer solchen Nacht sah er so alt aus, wie er war, zweiundsechzig. Seine Tochter würde noch immer von „etwas größeren Grübchen“ sprechen, aber das war Humbug und eines stand für ihn jetzt schon fest: Was da gerade geschah, würde seine Falten nicht kleiner werden lassen und auch den Anteil an grauen Haaren nicht reduzieren.
Was auf diese Einsicht folgte, war sicherlich die längste Dusche seines Lebens, verbunden mit dem höchsten Pro-Körper-Seife-Verbrauch der Menschheit; vom Wasserverbrauch ganz zu schweigen. Dass er das Einseifen dreimal wiederholte, bemerkte er nicht. Seine Haare allerdings blieben weitgehend ungewaschen. Die Dusche war also nach seinen Maßstäben ein organisatorisches Fiasko, aber er machte sich bereits Gedanken über die Auswirkungen seiner Entdeckung, sofern es denn wirklich eine Entdeckung war und nicht sein Ende als ernsthafter Wissenschaftler bedeutete.
Den Bademantel übergeworfen und die Kapuze über die zumindest nassen Haare gestülpt, schlappte er zurück in Richtung Kochnische, wo er seinen Kaffeeautomaten anschaltete. Er konnte am Knacksen aus dem Rechner hören, dass das Programm noch nicht fertig war. Außerdem würde „In der Halle des Bergkönigs“ ertönen, sobald die Analyse fertig war. Er musste leicht grinsen, weil er sich noch zwischen diesem Lied und „Morgenstimmung“ hatte entscheiden müssen. Er hatte das richtige Lied gewählt. Es würde langsam und leise beginnen und immer schneller und lauter werden mit großen Crescendo am Ende. Brugger machte sich einen Milchkaffee und fand in einem Schrank noch leckere Kekse, „Double-Chocolate-Chunk-Cookies“. Vielleicht nicht das gesündeste Frühstück, aber gut fürs Gemüt und ein wenig Nervennahrung, dank der Schokolade.
Als er hörte, wie die Musik begann, blieb er an seiner Kaffeebar stehen und genoss das Lied, den Kaffee und die Cookies. Der Stress würde ihn noch früh genug einholen. Erst als die Musik aus den Wäldern und Bergen Norwegens verklungen war, begab er sich wieder in den großen Raum und stellte sich neben das Bett, von wo aus er den großen HD-Bildschirm am besten sehen konnte.
182 Übereinstimmungen und 142.557 potenzielle Treffer lautete das Endergebnis des Programms. Er rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht und bemerkte, dass er das Rasieren vergessen hatte. Was zum Teufel hatte er eigentlich über eine halbe Stunde lang in dieser Dusche gemacht? Egal, es gab nun Arbeit und zwar jede Menge.
Brugger stöpselte nun seinen PC wieder an den normalen Monitor an. Dieser Job erlaubte nicht die Bequemlichkeit eines Bettes. Hier war harte Arbeit für einen Wissenschaftler angesagt und diese erledigte sich einfach am besten an einem Schreibtisch.
Der Kapuzen-Bademantel ließ ihn von weitem eher wie einen alten Jedi-Meister statt wie einen Professor erscheinen. Nur die Plüsch-Tiger passten nicht zu Darth Brugger.
Wieso hatten eigentlich die von der dunklen Seite der Macht immer die coolen Namen?
Nun begann die mühsame Kleinstarbeit am Rechner. Dabei vergaß er alles um sich herum. Die Putzfrau, die am Nachmittag vorbeikam, fand ihn in Boxershorts und einem weißen Feinripp-Unterhemd vor, da er beim Grübeln den Vorgang des Anziehens abgebrochen hatte. Auch dauerte es einige Minuten, bevor er bemerkte, dass er etwas unpassend gekleidet war und sich dann dazu zwang, sich doch noch fertig anzuziehen. Die Putzfrau störte ihn dann aber doch so sehr, dass er ihr sagte, sie solle nur das Bad machen. Er bezahlte sie für die vollen vereinbarten zwei Stunden und musste ihr mehrfach versichern, dass alles in Ordnung war.
„Ja, am Montag wieder normal! Ich werde Sie dann auch nicht mit meiner Anwesenheit stören, dann können Sie putzen wie und was Sie wollen!“ Es klang etwas arrogant, war aber nicht so gemeint. Er mochte die Frau, die nun schon seit sieben Jahren bei ihm putzte, ihren eigenen Schlüssel hatte und vor der er manchmal sogar seine privaten Probleme ausgeschüttet hatte. Das hatte er aber jedes Mal mit einem Trinkgeld bedacht, schließlich war er der Ansicht, sich so den Weg zum Seelenklempner gespart zu haben.
Psychologie! Was heute alles Wissenschaft sein will!
Zurück am Schreibtisch hatte sein Rechner für ihn eine Meldung parat: „Darstellung nicht möglich! Reduzierung der Dimensionen empfohlen.“ Die Nachricht wurde von einem „Ausführen“-Feld begleitet. Brugger legte seine Stirn in Falten und rieb sich das Kinn mit einer Hand. Er hatte keine Ahnung, worauf dieses Mistding hinaus wollte und so fuhr er mit dem Mauszeiger eben über dieses „Ausführen“-Feld und klickte. Langsam erschienen Punkte auf dem Bildschirm, allerdings so langsam, dass klar war, dass hinter jedem Punkt einiges an Rechenarbeit steckte.
Nebenbei sah er ein paar der Protokolle durch; vielleicht gelang es ihm dort zu erkennen, warum eine Reduzierung der Dimensionen erforderlich war und verdammt nochmal, welche Dimensionen sollten denn da vernachlässigt werden? Dann sah er es Weiß auf Schwarz: „x=0; y=0; z=0“; also alle drei darstellbaren Dimensionen? Brugger minimierte das Fenster mit dem Protokoll und musste mitansehen, wie sein Rechner gerade ein dreidimensionales Bild erzeugte.
Aus einzelnen Punkten entstand eine perfekt geformte Schleife, die durch den Mittelpunkt der Anzeige verlief und dann auf der Gegenseite eine absolut symmetrische Schleife erzeugte. Dann kam die Linie wieder durch den Mittelpunkt, bog um ein paar Grad ab und bildete wieder eine Schleife von exakt der gleichen Größe und so lief es weiter und weiter. Wunderschöne präzise langgezogene Unendlichkeits-Zeichen, immer leicht nebeneinander versetzt, aber ein Schönheitspreis war hier nicht zu gewinnen. Dennoch erfreute die Ästhetik des Ergebnisses den Physiker.
Brugger sah nochmal auf das Protokoll. Nein, er hatte sich nicht geirrt: X, Y und Z waren auf null gesetzt. Wenn der Rechner nun eine dreidimensionale Darstellung anbot, dann war Achse X die Zeit, das war klar, aber was waren Y und Z? Theoretisiert wurde schon immer über unendlich viele Dimensionen, aber zu fassen hatte sie noch niemand bekommen.
Bis jetzt?
Brugger begann leicht zu grinsen, während sich die Schleifen weiter verdichteten. Die Freiheiten, die er dem Programm erlaubt hatte, zahlten sich aus. Obwohl er sonst durchaus etwas restriktiver arbeitete, war er heute Nacht wohl in der richtigen Laune gewesen.
Brugger überlegte laut: „Dimension fünf ist vielleicht der Versuch die Krümmung von Raum und Zeit darzustellen. Aber was ist Dimension sechs?“ Oder teilte das Programm Raum- und Zeitkrümmung nochmal in zwei unabhängige Darstellungs-Dimensionen?
Bei geschätzten knapp dreitausend Schleifen hörte das Zeichenprogramm auf. Brugger betätigte die Option „Automatisch vervollständigen“, und nach kurzem Knacksen flogen die Schleifen nur so über die Grafik, bis eine kompakte Kugel entstanden war.
Der Professor erschrak, war aber schlau genug, sich gleich auf den Weg zu seinem Medizinschrank zu machen. Er spürte, dass er Nitro brauchte, weil sein Herz unregelmäßig schlug. Kein Wunder bei dem, was er gerade gesehen hatte. Er legte sich eine Tablette unter die Zunge und blickte in den Spiegel. In diesem Moment hätte er schwören können, dass die Falten bereits tiefer geworden waren und dass das eine oder andere Haar sich weiß gefärbt hatte. Er sah einen Mann, der innerhalb von Stunden um drei bis vier Jahre gealtert war und das, obwohl er sich eigentlich hätte freuen sollen über die größte Entdeckung seit ... Ja, seit wann denn?
Das Objekt, die Darstellung der Berechnung hatte er gesehen. Was aber fehlte, war die Interpretation und diese wurde gerade in seinem Gehirn erstellt. Hatte Professor Magnussen etwa danach gesucht? Wie konnte er das, wenn ihm doch die anderen Ergebnisse gar nicht zur Verfügung standen, aus denen sich diese Unmenge an Volltreffern überhaupt ergeben hatte?
Nein, Magnussen war nur etwas aufgefallen; eine Unregelmäßigkeit in der Zusammensetzung der Polarluft vielleicht? Danach sah sein Versuchsansatz aus und ließ auf nichts anderes schließen. Und wenn man bedachte, dass der Norweger aber auch gar keinen Hinweis auf seine Absichten in den Dokumenten hinterlassen hatte, konnte man zu dem Schluss kommen, dass er nicht wollte, dass jemand anderes von seinen Vermutungen erfuhr.
Magnussen war also damals in der gleichen Situation, wie Brugger heute. Er wusste, dass er etwas entdeckt hatte, aber er konnte es nicht veröffentlichen, weil man ihn in der Luft zerrissen hätte, wäre er mit unvollständigen Daten vor die Kollegen getreten. Da die Uni sein Projekt beendet hatte, war auch klar, dass wohl keiner seiner Assistenten wusste, was er gesucht hatte.
Bruggers Computer interpretierte Magnussens Ergebnisse nur. Ein Darstellungsversuch der Krümmung der Zeit konnte nur bedeuten, dass die Proben in Magnussens Untersuchung eine zeitliche Diskrepanz aufwiesen; also, dass die später genommenen Proben „jünger“ waren als die frühen? Wissenschaftlicher Unfug, aber er musste dem nachgehen.
Die langsam rotierende Kugel auf dem Monitor stach ihm wieder ins Auge. Sie hatte etwas Drohendes, etwas Beunruhigendes, was hauptsächlich daran lag, dass sie durch ihre Kompaktheit die einzelnen Schleifen verdeckte oder vielleicht sogar verstecken wollte? Mein eigener kleiner Todes-Stern? Schnell drückte Brugger auf die Reverse-Taste und schon waren wieder nur die Schleifen zu sehen, die aus den wirklich vorhandenen 182 Treffern entstanden waren. Auch das waren schon reichlich viele für seinen Geschmack.
Er musste sich die Daten aus dem Päckchen, das Steffen zusammengestellt hatte, nochmal gründlich anschauen. Er vermied jegliche schicke Darstellungsweise und ließ sich nur langweilige Tabellen anzeigen. Jede Luftprobe war sauber chronologisch markiert, fast penibel im Fünf-Minuten-Takt ohne irgendeinen Hinweis auf Ungereimtheiten. Da gab es gar nichts zu finden, also stöberte er ein wenig in den chemischen Auflistungen herum.
Fast jede der Proben war in ihrer Zusammensetzung zu 99,99 Prozent identisch mit allen anderen. Nur einige wenige der Proben wichen um circa 0,2 Prozent in ihrer Zusammensetzung ab. Das war für Brugger schwierig zu analysieren, weil es nicht direkt in seinem Fachbereich lag, aber zumindest konnte er mit dem Computer so gut umgehen, dass er sich die Art und Menge der Moleküle anzeigen lassen konnte, die diese Abweichung verursachten.
Proteine, Lipide, Polysaccharide, interessanterweise DNA-Spuren, dazu noch Spuren organischer und anorganischer Verbindungen, Moleküle oder Ionen. Insgesamt gut dreißig Zeilen an Substanzen im Nanogramm-Bereich, die ihm den Kopf schwirren ließen. Und immer, wenn die Abweichungen kamen, war das Verhältnis dieser Substanzen zueinander gleich.
Zellspuren! Cytoplasma! Plötzlich erkannte er, was sich da präsentierte. Spuren von Zellflüssigkeit mussten das sein. Ein wenig Biologie war dann doch in seinem alten Schädel hängengeblieben. Was fehlte, war der Wasseranteil von über achtzig Prozent, der in menschlichen oder tierischen Zellen vorkam, aber das konnte die Messung nicht anzeigen, weil das Wasser in der Luftfeuchtigkeit untergehen musste und deshalb sowieso angezeigt wurde.
Die Jagdlust war plötzlich da. Endlich hatte er einen Ansatz. Er scrollte weiter, in der Erwartung, jedes Mal wieder die gleichen dreißig Zeilen zu sehen, doch plötzlich, bei etwa der Hälfte der Untersuchungsunterlagen, stand da nur noch ein Wert, eine zusammenfassende Bezeichnung für das Gemisch: Magnasse!
Brugger nickte. Ja, das war Magnussens gutes Recht, seine Entdeckung nach sich selbst zu benennen. Dass er es nicht Cytoplasma (oder besser dehydriertes Cytoplasma) nannte, konnte nur eines bedeuten: Es handelte sich nicht um eine menschliche, tierische oder pflanzliche Zellflüssigkeit!
War es eine synthetisch hergestellte Substanz? Oder war sie von außerirdischer Natur? Brugger hasste es, an Science Fiction denken zu müssen, aber nach allem, was er in den vergangenen Stunden gesehen hatte, war es sogar eine logische Erklärung, dass Magnussen die Spuren von zeitreisenden Aliens nachgewiesen haben könnte. Allerdings hatte er bis dato keine chronologischen Abweichungen gefunden, die den Zeitreise-Aspekt bestätigen würden.
Brugger hatte das ungute Gefühl, dass gerade diese Abweichungen bald auftauchen würden, weil er sie bisher nur übersehen hatte. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend und vielleicht gerade noch Zeit Steffen an der Uni zu erreichen.
Er zögerte kurz und beruhigte sich erst durch langes, tiefes Atmen. Er wollte nicht zu aufgeregt klingen, denn möglicherweise hatte er hier etwas entdeckt, was vielleicht niemals veröffentlicht werden konnte oder durfte.
Er wählte Steffens Nummer und nach nur zweimal klingeln war Steffen auch schon dran.
„Chef? Was gibt's?“ Brugger konnte förmlich heraushören, dass er ihn gerade noch erwischt hatte, bevor er ins Wochenende abmarschiert wäre.
„Nichts Wichtiges! Äh, sagt Ihnen der Begriff Magnasse was?“, gab er so beiläufig wie möglich von sich.
„Magnasse?“, fragte Steffen und schien kurz zu überlegen. „Ja, sicher, das Zeug mit der C-14-Methode. Habe ich den Anhang nicht dem Datenpaket angefügt?“
Bruggers Herz blieb fast stehen. Die C-14-Methode diente der Altersbestimmung von organischen Substanzen. Oh, mein Gott, dachte er, Magnussen hatte genau gewusst, was er da tat, genau gewusst, auf was für einer heißen Spur er sich befunden hatte. Deshalb die absolute Verschwiegenheit! Aber Steffen hatte ihm eine Frage gestellt und Brugger wusste nun nicht mal mehr, was er gefragt hatte? In ihm kam Panik auf.
„Chef? Sind Sie noch da?“, klang Steffen besorgt.
Jetzt musste Brugger improvisieren. „Äh ... ja ... Moment ... Ich hab' hier Kaffee verschüttet!“
Oh, Gott! Wann hatte er das letzte Mal bewusst gelogen? Gerade Steffen würde es seiner Stimme anmerken, dass hier etwas nicht stimmte. Doch er hatte Glück, dass Steffen wohl wirklich auf dem Sprung nach Hause war.
„Also, Chef, ich bin schon mit einem Bein aus dem Büro. Die Altersbestimmung der Magnasse ist in einer Unterdatei gespeichert, aber die Werte sind bereits mit der Hauptstudie verknüpft. Wenn Sie die Werte anschauen wollen, da ist ein Unterverzeichnis mit dem Namen C-14. Die Werte sind nicht in der Mappe, weil das die einzigen Daten von Magnussen waren, die auf CD gebrannt waren. Die CD liegt irgendwo auf meinem Schreibtisch, falls Sie das Original brauchen. Ich muss nun wirklich los, wir fahren übers Wochenende mit den Kindern weg!“
Steffen war zu sehr abgelenkt, als dass er misstrauisch werden konnte. Wahrscheinlich war er länger an der Uni geblieben, als er seiner Frau versprochen hatte. Seine Kollegen tuschelten bereits, dass Steffen zu Hause nun wirklich nicht die Hosen anhatte. Für Brugger war dies ein Gottesgeschenk.
„Ja, los! Ich sagte doch, es ist nicht wichtig! Die Kinder gehen vor! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Grüßen Sie Ihre Frau, bitte!“ Er hätte kein weiteres Wort mehr herausgebracht, so trocken war sein Mund geworden.
„Danke, Chef! Bis Montag!“, und schon war Steffen weg.
Brugger klickte den Ordner mit dem Namen „C-14“ an. Dort waren die Proben in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet. Die Altersbestimmung schwankte zwischen Null und über fünfhundert Jahren, weder aufsteigend, noch absteigend, sondern kreuz und quer. Er kontrollierte die Werte von Probe eins bis Probe einhundertzweiundachtzig. Er zuckte zusammen. 182 Übereinstimmungen hatte die Analyse gefunden und es gab auch genau 182 Altersbestimmungen von Magnasseproben.
Jedes Mal, wenn Magnussens Apparatur am Nordpol diese seltsame Zellflüssigkeit nachgewiesen hatte, spielten weltweit die Messgeräte verrückt? Brugger schaffte es gerade noch zu seinem Bett. Dann geschah etwas, was weder er, noch irgendjemand, der ihn auch nur ansatzweise kannte, jemals für möglich gehalten hätte.
Brugger wurde ohnmächtig.