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2 - Emma

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Dr. Emma Brugger hätte einer der zufriedensten Menschen auf dieser Erde sein können. Ihre Eltern waren immer für sie da, ohne zu klammern. Ihr IQ war überdurchschnittlich. Das Talent zur Medizin war ihr von der Mutter und das Interesse an Wissenschaft und Forschung vom Vater in die Wiege gelegt worden.

Wohlhabend waren sie auch, so dass sie sich nie Sorgen um Geld hatte machen müssen, und da sie einen bekannten Namen trug, lief es mit der Karriere sicher auch etwas schneller als sonst. Aber der Name allein war sicher nicht dafür verantwortlich, dass sie ihr Abitur bereits mit siebzehn machen konnte und den Doktor der Medizin mit vierundzwanzig.

Nur für Männer hatte sie überhaupt kein Händchen. Die Draufgänger ließ sie abblitzen und die netten Männer erschienen schnell durch ihre Vita eingeschüchtert. Trotz ihres guten Aussehens gehörte sie zu den Menschen, die nervös wurden, wenn sie wirklich an jemand interessiert waren. Dann hatte sie auch immer das Gefühl, sich selbst kleiner machen oder Fragen nach ihrem Beruf ausweichen zu müssen.

Wirklich Schmetterlinge im Bauch hatte sie in den letzten Jahren nur einmal gespürt, aber das war dann ausgerechnet bei einem Patienten. Da sie jegliche Liebeleien mit diesen aus professionellen Gründen von vorneherein ausschloss, konnte sie wahrscheinlich mit Erik wirklich gut und unbeschwert reden. Er war einfühlsam, witzig und intelligent. Klar, dass sie ausgerechnet DEN unterm Messer haben musste!

Warum klappte das mit den anderen Männern nicht? Warum waren gerade die Männer, die sie anbaggerten, die letzten Neandertaler? Und warum versaute sie es, wenn der Kerl in Ordnung zu sein schien? Es ging so weit, dass sie vor einiger Zeit sogar das Experiment gestartet hatte, Frauen zu daten. Sie spürte nicht das Verlangen nach einem anderen Frauenkörper, aber sie kam mit Frauen einfach menschlich besser zurecht. Wie hätte sonst auch das Zusammenleben mit ihrer Mutter funktionieren können?

Der Versuch wurde abgebrochen, als ihr drittes weibliches Date sie mit nach Hause nahm, auf einen „Kaffee“. Sie hatte sich mit ihr den ganzen Abend unglaublich gut unterhalten und dachte sogar, dass da etwas sein könnte. Als aber dann die Hand der rothaarigen Schönheit vorne in ihre Jeans wanderte, brach die Panik aus.

Sie ließ eine völlig verdutzte Lesbe in ihrer Wohnung zurück und begann kurz danach mit Speed-Dating. Vielleicht konnte man einen netten Mann mit Geschwindigkeit überrumpeln, aber sie musste erkennen, dass gerade diese Form des Kennenlernens noch mehr darauf ausgerichtet war, einem fremden Mann vor den Latz zu knallen, dass sie eine der besten Gehirnchirurginnen Europas war und das mit gerade einmal dreißig.

Und so beendete sie auch dieses Experiment und begann ihren Lebensrhythmus wieder mehr auf sich alleine auszurichten. Das bedeutete morgens für zwei Stunden ins Fitness-Center, danach in die Uniklinik, in die Arbeit vertieft und den Abend dann ausklingen lassen mit Lesen, Kino oder Fernsehen auf der Couch, mal alleine, mal mit ihrer Mutter.

In dieser Lebenssituation geschah es, dass sie an einem Samstag gegen Mittag in der Umkleide im Fitness-Center ihr Handy checkte und dabei eine SMS von ihrem Vater vorfand: „Hallo, Kleines! Komm bitte bei mir vorbei! Dringend!“

Das war seltsam, weil man sich am Abend sowieso zum Essen verabredet hatte. Warum also die Eile? Aber Emma kannte ihren Vater genau. „Dringend“ stand da nicht zum Spaß und würde sie nachfragen, ob es wirklich dringend war, dann bekäme sie nur deshalb keine sarkastische Antwort von ihm, wie jeder andere Mensch auf dieser Welt, weil sie stets sein kleiner Engel sein würde.

Da stand auch, sie solle vorbeikommen, also sparte sie sich einen Rückruf, denn „komm vorbei“ hieß physisches Erscheinen war gewünscht oder gar nötig. Samstags fuhr sie nach dem Sport auch nicht in die Klinik, außer sie musste einen Patienten dringend kontrollieren, was nicht der Fall war. Also war sie für ihren Vater frei.

Sie wunderte sich gerne über sich selbst. Wie konnte sie mit einem Mann wie ihrem Vater so harmonieren, mit all seinen Ecken und Kanten, den Marotten, die er sich nur leisten konnte, weil er einer der führenden Physiker Europas war, aber mit anderen Männern ging gar nichts? Es musste wohl an diesen bescheuerten Kerlen liegen!

Sie liebte die Wohnung ihres Vaters und hoffte heimlich, dass ihre Eltern irgendwann wieder zusammenfinden würden, denn dann könnte sie in diese Wohnung umziehen. Alles Nötige hatte sie eigentlich schon: Stellplatz, Schlüssel und eine dauerhaft ausgesprochene Einladung, gerne jederzeit vorbeizukommen.

Alleine im letzten Punkt hatte sie es sich aber zur Auflage gemacht, nie wieder ohne vorherige Ankündigung einfach mit dem Schlüssel einzutreten.

Vor einigen Monaten war sie vorbeigekommen und stand plötzlich einer leicht bekleideten Frau gegenüber. Beide schauten sich an als hätte es geblitzt und sie richteten dann den fragenden Blick an Vater Brugger, der gerade aus dem Bad kam.

Emma hatte sofort erkannt, dass diese Frau eine Professionelle war. Nun, das war nicht schwer, bei einer Frau die im Negligé und mit High Heels dastand und Champagner trank. Sie hatte einen leicht karibischen Einschlag und war mit einem Alter von vielleicht Mitte zwanzig nicht gerade eine potenzielle neue Lebensabschnittsgefährtin für ihren Vater.

Dieser hatte sie begrüßt, als sei es das Normalste der Welt, und ihr dann die Dame vorgestellt, eine gewisse Chantal. Vielleicht auch „Chantalle“, in dem Metier wusste man sicher nicht genau, wie die „Schantall“ nun genau geschrieben wurde.

Der jungen Ärztin war es sichtlich peinlich, der Hure etwas weniger und dem Professor anscheinend gar nicht. „Shanty“, so nannte er sie liebevoll beim Abschied, warf sich nur einen knielangen, roten Lackmantel um und war damit wieder vollständig angezogen.

Ihr Vater fragte Emma, ob sie Kaffee oder Tee wolle. Emma stand sprachlos mit herunter geklapptem Unterkiefer da.

„Was ist, Kleines?“, fragte er und sie schluckte den Kloß in ihrem Hals erst mal runter und sagte dann: „Meinst du nicht, dass ich eine Erklärung für das hier verdiene?“

Die Erklärung kam auch. Er sei ein Mann mit Bedürfnissen, er habe keine Zeit, Frauen kennenzulernen, übrigens auch keinen Nerv für die Partnersuche und vor allem, und das stimmte Emma dann milde, würde er sowieso immer ihre Mutter lieben, ob geschieden oder nicht. Insofern wäre es geradezu töricht, sich eine neue Lebenspartnerin zu suchen, wenn der Idealzustand doch die Wiederherstellung der alten Ehe war. Der Hauptgrund für die Scheidung sei schließlich die Leidenschaft für die Arbeit gewesen und das wurde beiderseitig so gesehen. Sobald diese mit dem beidseitigen Ruhestand wegfiel, könnte es durchaus wieder klappen.

Emma umarmte ihn dafür, flüsterte ihm dabei aber ins Ohr: „Aber wenn ich nochmal einer halbnackten Hure in deiner Wohnung vorgestellt werde, dann mische ich dir was in deinen Lieblingstee, dass du nie wieder eine brauchst. Verstanden?“

Sie blickte ihn lieb an, hob den Zeigefinger hoch, krümmte ihn dann demonstrativ und hob die Augenbrauen nochmal, um ein Zeichen seiner Zustimmung zu fordern.

„Ja, ich verspreche es! Shanty ist eine echt liebe Person und wir unterhalten uns auch mehr als dass wir ... Du weißt schon! Und wir machen auch nichts Ekliges oder Perverses.“

Emma hielt sich die Hände vors Gesicht, um die Bilder abzuwehren, die durch diesen Kommentar ihres Vaters erzeugt wurden. „Dad! Zu viel Information! Lass das!“

Sie musste sich beherrschen, um nicht zu lachen, damit er nicht für zukünftige Eskapaden ermutigt wurde, aber irgendwie war er schon süß, wie er das alles nüchtern und mit Logik erklären wollte. Und schlimm war daran am ehesten, dass sie als seine Tochter diese Logik besser verstand, als das Gefühlsleben. Was bei ihr hängen blieb, war die Aussage, dass er Mutter noch liebte und wohl nie eine andere wollte und das machte sie glücklich.

Nun stand sie wieder einmal an seiner Wohnungstür und da sie sich sicher sein konnte, dass ihr Vater diesmal keinen Besuch hatte, schloss sie die Tür auf, schaute aber trotzdem erst mal vorsichtig rein. Es bestand da immer noch die Möglichkeit, dass er irgendwann im Laufe des Anziehens abgelenkt worden war. Das kam schon mal vor bei ihm.

Da war sie, ihre heiß begehrte Wohnung. Dieser eine riesige Raum, mit der großen Fensterfront, der geradezu darum bettelte, von ihr neu eingerichtet zu werden. Sie kam langsam herein, da bemerkte sie, dass die Badezimmertür geschlossen war. Emma legte ihre Handtasche ab und rief einmal laut durch den Raum, damit er Bescheid wusste, dass sie eingetroffen war.

Sie konnte schnell erkennen, dass die dringende Angelegenheit wohl irgendwas mit seiner Arbeit zu tun hatte. Sein Rechner und sein Laptop liefen gleichzeitig, auf dem Tisch lagen Ausdrucke ziemlich wirr durcheinander, oben auf eine CD: „Magnussen C-14“! Klang fast wie eine neue alternative Rockband, aber zu neunundneunzig Prozent war da wohl keine Musik drauf.

Das Bett war sorgsam gemacht. Die Überdecken waren abgeräumt, neben dem Bett in einer Ablage verstaut und stattdessen schmückte eine einladende, weiche Tagesdecke den Raum. Emma blickte schräg nach oben zu dem großen Flat Screen und erkannte den Bildschirmschoner.

Aha! Papa hatte also eine Präsentation für sie vorbereitet, die gemütlich auf dem Bett genossen werden sollte. Konnte ihr nur recht sein. Am Schreibtisch herumsitzen wollte sie nicht unbedingt. Sie packte sich eines der Kissen und richtete sich eine schöne Rückenstütze her. Dann kam ihr Vater aus dem Bad und sie zuckte zusammen.

Er sah mitgenommen aus, etwas bleich im Gesicht, die Haare notdürftig nass nach hinten gekämmt, so gut das eben bei dieser Frisur möglich war. Er lächelte sie an, oder besser gesagt, er versuchte es, und das störte Emma nun wirklich. Das Lächeln kam bei ihm sonst natürlich, ein gewinnendes Lächeln, nie gekünstelt, aber dieses wirkte irgendwie gezwungen.

„Was ist denn mit dir los, Paps?“, fragte sie und ging auf ihn zu. Eine kurze Umarmung, ein Kuss auf die Wange, aber all das war heute nicht so normal wie sonst. Er war irgendwie steif, als müsse er ihr was beichten.

Emma dachte kurz an Weibergeschichten, aber die Unordnung in der Wohnung sagte natürlich etwas anderes aus. Sie fühlte sich unwohl, weil ihr Vater sein Metier beherrschte und nicht andersherum. Aber genau so erschien er ihr gerade. Als hätte er einen Fehler gemacht oder als ob er etwas Schlimmes erfahren oder erlebt hätte.

„Kaffee?“, fragte sie ihn, weil ihr nichts Besseres einfiel und weil etwas Koffein in seinem Zustand sicher nicht schaden konnte. Sie waren beide leidenschaftliche Kaffeetrinker.

Ihr Vater nickte und sagte: „Ja, wenn du so lieb wärst? Ich bereite derweil vor, was ich dir zeigen wollte.“

Emma ging in die leicht abgeteilte Küche und begann den Automaten zu bedienen. Sie beobachtete ihren Vater aus den Augenwinkeln, ersparte sich aber weitere Nachfragen. Sie hatte ihn gefragt, was los war und er war wohl noch nicht ganz bereit, darüber zu reden. Aber reden wollte er, sonst hätte er sie nicht herbestellt.

Emma bereitete zwei Tassen Milchkaffee zu und fand in einem Schrank noch einen verpackten Schokoladenkuchen. Tja, selbstgemachten gab es nur bei Muttern, aber der hier würde jetzt auch genügen. Schokolade für die Nerven und das Gemüt waren angebracht. Sie schnitt ein paar Scheiben ab, legte das Randstück auf seinen Teller, da er es sicher brauchen konnte. Dann stellte sie alles auf ein Tablett und trug es zu dem kleinen Tisch neben dem Bett.

Mittlerweile schien er zielstrebiger geworden zu sein und als er den Duft des Kaffees roch, kam er zu ihr, und sie setzten sich beide auf die Bettkante. Emma sah ihm beim Trinken zu und war gespannt, wann der Vortrag beginnen würde.

„Hast du heute keine Patienten, bei denen du reinschauen musst?“

„Nein, Dad, ich hab den ganzen Tag Zeit, wenn du was Größeres vorhast.“

„Das ist gut! Es wird nicht so ganz einfach sein, dir das hier zu erklären. Es sprengt auch meine Vorstellungen von Physik etwas.“

Emma nippte an ihrer Tasse. Dass etwas sein Verständnis der Physik sprengen sollte, klang nicht gut, aber wenigstens erklärte es seinen leicht derangierten Look. Nun, es war sicher nur Wissenschaftskram. Vielleicht ein neues Element? Hatte die Quanten-Feld-Theorie die String-Theorie auf dem Feld der Physiker-Ehre besiegt? Sie hoffte zumindest, dass es etwas wäre, das sie verstand und nicht allzu abgedrehtes Zeugs.

Sie schwiegen sich eine Weile an und Emma brachte das Geschirr noch schnell zur Spülmaschine, bevor sie dann aufs Bett stieg, um sich die neuesten Erkenntnisse des Professor Arno Brugger präsentieren zu lassen.

Ihr Vater seufzte zunächst: „Verzeih, wenn ich mich nicht zu dir setze! Aber ich muss ein wenig nervöse Energie ablaufen. Ich kann nicht ruhig sitzen dabei.“

Emma zog wieder die Augenbrauen hoch. Nein, so hatte sie ihn noch nicht erlebt. Wollte er ihr gerade erklären, dass er wusste, wann die Welt untergehen würde?

„Fang einfach an, Dad! Lauf herum, so viel du willst! Du weißt, sowas stört mich nicht. Aber bitte, komm zur Sache!“ Sie merkte, dass ihre Stimme etwas spitz klang und fügte leise hinzu: „Du machst mir sonst langsam Angst.“

Das war nun endlich ein Weckruf für ihren Vater. Wenn seine kleine Prinzessin Angst hatte, dann musste er sich zusammenreißen. Er begann damit, sie zu befragen, was sie denn von seinem derzeitigen Projekt wusste.

Emma konnte seine Zufriedenheit erkennen, als sie ihren Wissensstand wiedergab. Sie gab sich Mühe, ihr Maß an Information geradlinig strukturiert wiederzugeben, um nicht unterbrochen zu werden. Sie hatte mitbekommen, dass seine Untersuchung nicht gerade positiv verlief und verpackte ihre Kommentare in möglichst unkritische Worte. Ihr Vater nickte ruhig vor sich hin und Emma huschte ein Lächeln übers Gesicht. Das war wie früher, wenn er sie abfragte, bevor sie wichtige Prüfungen zu schreiben hatte.

Als Emma nichts Weiteres hinzufügen konnte und ihr Vater erfreut feststellte, dass sie eigentlich vor drei Tagen zu seinen Assistenten hätte stoßen können, um nahtlos in die Studie einzusteigen, zeigte er ihr das erste Diagramm, das er vorbereitet hatte.

„Kannst du mir sagen, was das ist?“, fragte er etwas zögerlich.

Vor Emmas Augen erschien eine Auflistung von chemischen Bestandteilen irgendeiner Substanz. Da war alles sauber aufgeführt, auch die kleinsten Fitzelchen penibel dokumentiert und sie wollte schon losprusten und fragen, ob er glaubte, sie habe vergessen, wie Cytoplasma aufgebaut war.

Aber dann erkannte sie die minimalen Abweichungen. Ihr Interesse war geweckt und sie gab ihre entspannte Liegestellung auf. Instinktiv bediente sie mit der Bewegungssteuerung nun die Anzeige, vergrößerte, verkleinerte und verschob, bis sie alle Abweichungen markiert hatte.

Emma erkannte es schneller als ihr Vater, der mit der Biologie schon immer ein wenig auf dem Kriegsfuß stand. Das war weder menschlich, noch tierisch und auch nicht pflanzlich. Einige Bestandteile, besonders im Bereich der anorganischen Ionen, erschienen ihr fremd, so als hätte man sie in diese Zellflüssigkeit gezwungen.

„Das ist künstliches Cytoplasma. Vielleicht hergestellt, um Strom besser leiten zu können oder einen Körper resistenter gegen Schäden durch Strom oder allgemein elektrische Ladungen zu machen.“

Ihr Vater zog eine Augenbraue hoch und attestierte: „Faszinierend!“

Für einen Mann, der Science Fiction nie besonders gemocht hatte, konnte er „Mister Spock“ erstaunlich gut nachmachen. Wahrscheinlich, weil er es nur unterbewusst tat.

„Ich hatte zuerst auf außerirdisches Cytoplasma getippt“, sagte er und schockierte seine Tochter damit. Emma wurde es langsam zu viel. Alle paar Minuten kam er mit Dingen, die sie von ihm nie erwartet hätte.

„Was? Alien-Zellen? Paps, was ist mit dir los? Du bist doch einer der schärfsten Gegner aller Science Fiction. Du hast doch jeden Wissenschaftler zerrissen, der sich ernsthaft mit der Kontaktaufnahme zu Aliens beschäftigt hatte. Darf ich dich daran erinnern, wie du mir als Achtjähriger erklärt hast, dass ich vor Aliens keine Angst haben müsste, weil allein die unglaubliche Unendlichkeit des Weltalls schon dafür sorgt, dass selbst von dem Moment an, in dem wir eine Nachricht aus dem All erhalten, noch weitere zehn bis zwölf Generationen darauf warten müssen, diese Außerirdischen auch zu Gesicht zu bekommen?“

Emma holte tief Luft, bevor sie fortfahren konnte: „Und das auch nur vorausgesetzt, dass uns diese Aliens um mindestens tausend Jahre im technischen Entwicklungsstadium voraus wären, damit sie eine Reise zu uns antreten könnten, in dem Moment, als unsere Nachricht bei ihnen eingetroffen war?“

Ihr Herz pochte heftig, ihre Wangen waren gerötet. Sie war es nicht gewohnt, ihren Vater an die Grundfeste seiner Überzeugung erinnern zu müssen.

„Vor circa vierzig Stunden war das auch noch so. Seither hat sich alles geändert. Ich muss einige meiner Thesen überdenken. Aber ich denke nun auch eher, dass es künstlich erzeugtes Cytoplasma ist und nicht außerirdisches.“

Dann reichte er ihr die Beschreibung des Versuchsaufbaus von Professor Magnussen: „Allerdings schließe ich auch außerirdisches Cytoplasma nicht aus, oder gar von Außerirdischen künstlich erzeugtes.“

Was es für Emma nun nicht wirklich besser machte.

Emma blätterte in den Unterlagen und wunderte sich. Und damit erging es ihr eigentlich genauso, wie allen, die das gelesen hatten. Sie blickte ihren Vater mit vielen Fragezeichen an, wusste aber, dass er auf neue Impulse von ihr wartete. „Also dieser Magnussen hat am Nordpol fast zehn Monate lang Luft analysiert und dabei in ungefähr achtzigtausend Proben etwa zweihundertmal dieses Zeugs nachgewiesen.“

„Genau 182 Mal, aber fahre bitte fort.“

„Nun da stellen sich sehr viele Fragen. Warum hat er danach gesucht? Wie kommt das Zeug dahin? Und warum macht dich das alles so fertig?“

Ihr Vater nickte nachdenklich. „Fragen Eins und Zwei bearbeite ich selbst noch. Übrigens nennt sich das Zeugs Magnasse, aber das nur nebenbei. Frage Drei werde ich dir jetzt beantworten.“

Er erklärte ihr, wie die Studie seines Lehrstuhls aufgebaut war und dass trotz aller Datenmengen nichts Verwertbares zum Vorschein gekommen war. Danach hörte Emma sich an, wie er die kreative Woche ausgerufen hatte und sie nun begonnen hatten, auch andere Untersuchungen, die keinen „Black-Spot“ enthielten, in diese Studie einzubauen. Selbst seinen Alptraum ließ er nicht aus und die für seine Verhältnisse wilde Nacht.

Als er dann auf dem Bildschirm das Ergebnis in Zahlen anzeigen ließ, erkannte Emma die entscheidende Zahl „182“ sofort. Darum hatte er sie vorhin also korrigiert. Und die Anzahl der möglichen Ergebnisse ließ ihren Mund wieder aufklappen.

„Wow, Dad, das ist doch ein Traumergebnis für jeden Wissenschaftler! Da hast du doch auf Jahre hinaus Arbeit vor dir.“ Sie blickte ihn mit großen Augen an. Warum jubelte er nicht?

„Dad, das ist Nobelpreis-Material! Warum ziehst du da so eine Fresse?“ Ihr Blut war in Wallung. Ihr Vater, auf den sie immer so stolz war, könnte es schaffen, kurz vor der Rente doch noch den Preis aller Preise zu gewinnen, aber vor ihr stand ein gebrochener, zweifelnder Mann.

„Nun, das Problem ist, wenn ich alle meine anderen Daten entferne und nur die Nordpolstudie untersuche, ist das Ergebnis ebenfalls 182. Lediglich die potenziellen Ergebnisse fallen weg. Ich habe meinem Programm da ein wenig zu viele Freiheiten erlaubt und es spekulieren lassen. Man sollte so etwas nicht unbedingt mitten in der Nacht machen.“

Emma blickte ihn leicht traurig an. „Also keine wirkliche Übereinstimmung mit deinen Black-Spots?“

Er verzog etwas schmerzlich das Gesicht und nickte. „Doch! Immer, wenn am Nordpol Magnasse gemessen wurde, gab es auch irgendwo auf der Welt einen oder mehrere fehlgeschlagenen Messwerte. Aber da sind keinerlei Zusammenhänge nachweisbar und würde ich das veröffentlichen, könnte ich meinen Scheiterhaufen gleich selbst anzünden.“

„Du hast mich also nur herbestellt, um auf sehr hohem Niveau zu jammern?“, fragte Emma etwas ungläubig. „Oder kommt da jetzt noch was?“

Ihr Vater fuchtelte etwas vor dem Sensor herum und auf dem Monitor erschien die Anzeige, die er gestern Morgen vor sich gehabt hatte: „Darstellung nicht möglich! Reduzierung der Dimensionen empfohlen!“

Er machte eine einladende Handbewegung, die ihr anzeigte, dass sie die „Ausführen“-Taste drücken sollte, sobald sie bereit war. „Ich möchte dir nur vorweg sagen, dass das Programm dir gleich die Achsen X, Y und Z entfernen wird. Alles, was du siehst, wird also nichts mit irgendeiner Position im Raum zu tun haben.“

Emma hatte bereits den Mauszeiger über den Button geführt, aber sie merkte, dass ihr Vater es noch hinauszögern wollte, trotz seiner Worte, dass sie jederzeit klicken durfte.

„Und um es einfach zu halten, zeigt das Programm nur die 182 Ergebnisse von Magnussen an. Meine restlichen Datensammlungen habe ich einstweilen alle aus dem Programm entfernt. Aber bitte, lass dich nicht weiter aufhalten!“

Emma hatte das Gefühl, ihr Vater wolle sie vorführen oder testen. Was sollte ein Diagramm ohne die drei Raumachsen schon anzeigen? Eine Zeitlinie? Das wäre unspektakulär. Aber sie war vertraut mit einigen Konzepten der theoretischen Physik und Mathematik. Sie hatte den Verdacht, gleich eine zweidimensionale Darstellung zu sehen. Sollte ihr Vater eine weitere Dimension bewiesen haben, könnte das vielleicht seine Aufregung erklären. Die Neugier war nun da. Sie drückte schnell den Button.

Das Programm war so justiert, dass es jede Sekunde eine Schleife zeichnete. Emma bemerkte also bei der dritten Schleife, dass noch eine weitere Dimension dargestellt wurde.

„Sechsdimensional also?“, dachte sie leicht panisch.

Das überforderte ihre Vorstellungskraft, aber so wäre es wohl jedem Nicht-Dimensions-Experten gegangen. Sie konnte nur fasziniert zusehen, wie das Programm seine Schleifen zog und am Ende sah sie ein Gebilde, das sie am ehesten an einen leicht bizarren Weihnachtsschmuck erinnerte.

Sie blickte ihren Vater an. Dieser stand mit leicht nervös wippendem linkem Fuß da und schien auf eine Reaktion der Tochter zu warten. Sie zuckte mit den Achseln. „Dad, mehr als vier Dimensionen brauche ich in meinem alltäglichen Leben nicht. Ich habe sicher mal was von der Krümmung von Raum und Zeit als mögliche fünfte Dimension gehört. Das wäre es dann aber schon.“

Ihr Vater nickte und spielte dabei mit den Lippen. Emma konnte ihm ansehen, dass da etwas aus ihm herausplatzen wollte, aber er hielt sich weiter zurück und reichte ihr dann einen Ausdruck der Altersbestimmung der Magnasseproben.

Dort waren auf drei Seiten alle 182 Proben in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet und mit dem zugehörigen Alter versehen. Emma sah, dass mangels einer Vergleichsprobe die jüngste Probe mit dem Alter Null festgesetzt worden war und dass die ältesten wohl über fünfhundert Jahre alt waren.

„Erst Aliens und jetzt was? Zeitreisen? Ist das dein Ernst?“ Sie schaute ihn tadelnd an. Da kein Widerspruch kam, wusste sie, dass dies wirklich sein Schluss war. Das machte sie ängstlich und zornig zugleich.

„Du schimpfst, wenn in Independence Day die Aliens die Erde plündern wollen, du verdrehst die Augen, wenn Marty McFly seine Eltern zusammenbringen muss oder wenn der Terminator diese Sarah Connor töten soll, weil das alles unmöglich sei, aber jetzt legst du mir so was vor?“

Ihr Vater hob verteidigend die Hände vor die Brust. „Ich mag das Ergebnis auch nicht. Warum denkst du, laufe ich nicht jubelnd durch die Wohnung oder trommle meinen Lehrstuhl zusammen. Ich habe sogar Steffen angeschwindelt, damit er hiervon nichts erfährt. Ich kann noch nicht einmal genau sagen, was ich da entdeckt habe. Insofern habe ich nur eine Theorie, aber diese macht mir nicht halb so viel Angst, wie die Theorien anderer hierzu mir machen werden. Chinesisch oder Indisch?“

„Indisch!“, kam es spontan von Emma. Es war nichts Neues für sie, dass er plötzlich solche Gedankensprünge machte, aber den Hunger verspürte sie auch und dass das mit dem Abendessen nichts werden würde, war ihr längst klar geworden.

Sie nahm seinen Hinweis auf die möglichen Interpretationen dieses Fundes auf und begann langsam zu erkennen, warum ihr Vater derart negativ auf seine vielleicht größte Entdeckung reagierte.

„Schnapp' dir, was du willst und schau die Unterlagen durch!“, bat er sie. „Danach essen wir und dann haben wir die ganze Nacht zum Diskutieren.“

Emma rollte mit den Augen. Ja, auch so konnte das mit ihrem Liebesleben nichts werden! Sie war die Tochter dieses Vaters und das bedeutete, dass sie immer irgendwie miteinbezogen wurde. Das war schön und es war auch immer hochinteressant, aber gerade hier, bei diesem Problem, fühlte sie sich überfordert und musste...

Ja, sie musste schon wieder an Erik denken. Und das war heute schon das zweite Mal. Diesmal aber nicht an ihn als Mann, sondern als Spezialisten für gerade solche Angelegenheiten, aber wenn ihr Vater schon den eigenen Assistenten angeschwindelt hatte, konnte sie jetzt nicht einen Fremden als Hilfe vorschlagen, der noch dazu nicht ganz legal sein Geld verdiente.

Aber verdrängen konnte sie Erik jetzt auch nicht mehr. Er war bereits in ihrem Kopf und vielleicht...

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