Читать книгу Exkursionsdidaktik - Christian Stolz - Страница 18
4.4Konstruktivistische Methoden
ОглавлениеEine konstruktivistische Didaktik zeichnet sich im Grundsatz durch die Offenheit des Lernprozesses aus (Neeb 2012, Böing & Sachs 2007, Dickel 2004). Die Lernenden erschließen sich dabei das Wissen induktiv und ohne ein von vorneherein festgelegtes Lernziel. Ziel ist eine eigene Bedeutungskonstruktion mit einer möglichst geringen Beeinflussung durch den Exkursionsleiter (Prinzip der Subjektzentrierung; Dickel & Glasze 2009). Damit geht auch eine gewisse Ergebnisoffenheit einher, weshalb sich konstruktivistische Konzepte nicht für alle Arten von Exkursionen eignen oder aber nur als Ergänzung sinnvoll sind, insbesondere dann, wenn der thematische Schwerpunkt einer Exkursion sehr eng gefasst ist (Böing & Sachs 2007). Methodisch bauen konstruktivistische Exkursionskonzepte meistens auf der Erkundung eines Raums mit allen Sinnen oder auf einer Spurensuche auf (Tab. 4.3). Dabei können Konzepte unterschieden werden, die entweder fast vollkommen ohne Vorgaben auskommen (radikal konstruktivistisch) oder lediglich lockere Richtungsweisungen und/oder eine Problemstellung enthalten (gemäßigt konstruktivistisch). Dabei findet nicht nur eine aktive, ergebnisoffene Wissenskonstruktion, sondern bei handlungsorientierten Elementen auch eine Methodenkonstruktion statt. Der Selbstbestimmungsgrad der Lernenden ist äußerst hoch, was auch gleichzeitig mit einer hohen Aktivität der Lernenden einhergeht. Jeder befasst sich mit individuell verschiedenen Gegenständen im Raum und reflektiert diese auf komplett individuelle Weise oder kommt auf unterschiedliche Weise zum Ziel einer Problemstellung. Die Frage- und Problemstellung kann im Vorfeld selbstständig durch die Lernenden formuliert werden.
Tab. 4.3 Kennzeichen der konstruktivistischen Option | |
lerntheoretische Verortung | konstruktivistisch |
vorwiegende Methodik | Partner- und Kleingruppenarbeit |
Lernprozess | selbstständig, sehr hoher Selbstbestimmungsgrad, hohe Aktivität der Lernenden |
Lernziele | problemlösungsorientiert, aktive Wissens- und Methodenkonstruktion |
In der Praxis eignen sich konstruktivistische Konzepte besonders gut als Einstieg in ein Thema oder zur Erkundung eines Raums (z. B. Wald, Steinbruch, Bachufer, Stadt/-viertel, Museum, Monument). Anders als bei traditionellen Konzepten, bei denen ein Exkursionsleiter „fertiges“ Wissen vermittelt oder feststehende Methoden angewendet werden sollen (z. B. bei einer Gewässeranalyse), interpretieren die Teilnehmer einen Raum selbst (vgl. Böing & Sachs 2007: 37). Ergebnisoffen heißt, dass das, was am Ende dabei herauskommt, äußerst fruchtbar für den Lernprozess einer ganzen Gruppe sein kann. Manche Lehrende sind nach der erstmaligen Erprobung dieser Methode vom Resultat überrascht und unerwartet begeistert. Andererseits kann es aber auch passieren, dass die Übung misslingt, wenig oder gar nichts dabei herauskommt und dass sich die Teilnehmer im schlechtesten Fall langweilen oder vollständig ausklinken. Wichtig ist daher eine zwar allgemein gehaltene, aber deutlich formulierte Aufgabenstellung/Arbeitsanweisung. Auch ohne eine klare Zeitvorgabe kommt man in den meisten Fällen nicht aus. Ab diesem Punkt sollte sich die Lehrperson dann aber weitgehend im Hintergrund halten und nur bei wirklichen Problemen eingreifen. Eine Gliederung des konstruktivistischen Lernprozesses kann nach Albrecht & Böing (2006) durch Einstiegs- und Ausstiegsbögen erfolgen, mit deren Hilfe die individuelle lebensweltliche Ausgangssituation (z. B. „Was erwarte ich?“) und der Stand nach der „Entdeckung“ (z. B. „Was hat mich am meisten beeindruckt?“, „Was will ich noch wissen?“) gesichert werden können.
Nach Abschluss der Durchführungsphase soll auf jeden Fall eine Ergebnissicherung und Reflexion erfolgen. Dabei sind beispielsweise folgende Fragen von Bedeutung (vgl. Dickel 2004):
„Was habe ich gemacht?“
„Wie habe ich das gemacht?
„Warum habe ich das so und so gemacht?“
„Welche Grundannahmen hatte ich?“
Auch in der Rückschau auf eine Exkursion sind konstruktivistische Ansätze sinnvoll, die dabei weit über die eigentliche thematische Vorgabe hinausgehen können und sich z. B. auch mit interkultureller Kommunikation u. Ä. befassen können.
Konstruktivistische Exkursionskonzepte und ausgewählte Methoden
Spurensuche (nach Hard 1993a, Isenberg 1987, Dickel 2004, Böing & Sachs 2007): Die Lernenden begeben sich in einem bestimmten Raum auf die Suche nach „Spuren“ zu bestimmten, vorgegebenen Sachverhalten oder Phänomenen, dokumentieren diese und formulieren daraus eine Fragestellung, die durch eine Recherche vor Ort oder im Nachhinein beantwortet wird. Zur Auswertung sind folgende Fragen möglich: Welche Bedeutung hat die Spur für den Gegenstand oder Raum? Was macht die Spur zu einer Spur? Was verrät die Spur über einen selbst?
Graphen von Aktionsräumen (nach Rhode-Jüchtern 2006a und Böing & Sachs 2007): Die Lernenden bewegen sich eine Zeit lang ohne nähere Aufgabenstellung innerhalb eines Raumes und erhalten gegebenenfalls eine topographische Karte oder einen Stadtplan zur Orientierung. Danach tragen sie den abgelaufenen Weg in die Karte ein und versehen ihn mit auffälligen Raumobjekten, Highlights, Örtlichkeiten oder Adjektiven, die den Raum charakterisieren. Danach können die subjektive Wahrnehmung von Räumen und unterschiedliche Raumkonzepte (vgl. Kap. 2.1) diskutiert werden.
Fiktive Raumwahrnehmungsübungen (nach Rhode-Jüchtern 2006b und Böing & Sachs 2007): Die Lernenden gehen ein Stück zu Fuß und versetzen sich an einem Exkursionsort in die Raumwahrnehmung verschiedener Personen oder Bevölkerungsgruppen hinein (z. B. in einem Park in einen Jogger, ein Elternteil mit Kind, einen Hundebesitzer, ein spielendes Kind). Am Schluss steht eine Reflexion, die sich z. B. mit den Aktionsräumen einzelner Akteure und möglichen Konflikten beschäftigt.
Wahrnehmungskartenskizzen (nach Dickel 2004 und Böing & Sachs 2007): Die Lernenden erhalten eine Karte eines Raums, in dem sie sich bewegen, und tragen getrennt voneinander alle visuellen, akustischen oder olfaktorischen (riechbaren) Reize ein. Zur Reflexion erfolgt ein Vergleich der Ergebnisse.
Streifenkarten (nach Hüttermann 2005 und Böing & Sachs 2007): Die Lernenden tragen den zurückgelegten Fahr- oder Fußweg während einer Exkursion in eine Karte ein und versehen ihn mit persönlichen Auffälligkeiten. Möglich ist es auch, Besonderheiten mit farblich unterschiedlichen Stecknadeln zu kennzeichnen (Ohl 2007).
360-Grad-Drehung (nach Herse 2006 und Böing & Sachs 2007): Ein Lernender dreht sich langsam um die eigene Achse und zählt dabei seine Eindrücke auf. Diese können von einer weiteren Person protokolliert und anschließend reflektiert und verglichen werden.
„Blind durch den Raum“ (nach Dittmann 2009 und Ohl & Neeb 2012): Einem Lernenden werden die Augen verbunden. Dann wird er vorsichtig durch einen ausgewählten Raum, z. B. ein Stadtviertel bzw. eine Straße oder einen Wald, geführt. Der Fokus liegt dabei auf dem Gehör. Entweder berichtet er bereits währenddessen von seinen Eindrücken, die von anderen protokolliert werden, oder er sichert diese hinterher selbstständig. Die Reflexion erfolgt durch den Vergleich zwischen den Eindrücken der „Blinden“ und der „Sehenden“ bzw. unterschiedlicher „Blinder“. Die Methode folgt dem Ansatz der Vielperspektivität, bei dem sich die Teilnehmer in die Raumperspektive anderer Raumakteure hineinversetzen sollen (vgl. Dickel & Glasze 2009, Ohl & Neeb 2012).
Tracking (nach Kurth 2009): Eine Kleingruppe verfolgt das Verhalten unterschiedlicher Akteure im Raum, z. B. von Passanten in der Fußgängerzone oder im Park, und fertigt ein kurzes Protokoll dazu an. Zum Schluss wird das Raumverhalten unterschiedlicher Personengruppen verglichen. [Anmerkung: Der Einsatz dieser Methode muss mit Fingerspitzengefühl erfolgen und eine „verfolgte“ Person darf nicht wirklich und merklich über weitere Strecken beobachtet werden. Stattdessen eignen sich Beobachtungspunkte, die eine gewisse Aussicht zulassen.] Möglich ist dasselbe auch mit Tieren, z. B. Vögeln oder Insekten.
Beobachtungs- und Suchaufgaben: Die Lernenden beobachten unter Vorgabe eines Themas oder Überbegriffs bestimmte Sachverhalte oder Gegenstände in einem Raum und/oder sammeln dazu bestimmte Artefakte (z. B. Strandsteine, Blätter oder Abfälle, Abb. 4.6). In einem zweiten Schritt können diese nach selbst gewählten Kriterien geordnet oder klassifiziert werden.
Chronologie: Die Lernenden beobachten einen Raum und überlegen, welche Gegenstände oder Landschaftsteile zuerst da waren, welche danach folgten und welche vermutlich zuletzt hinzugekommen sind. Die einzelnen Punkte werden in chronologischer Reihenfolge untereinander geschrieben und durchnummeriert. Zwischen den einzelnen Punkten können mittels Pfeilen mögliche Argumente notiert werden, die zu der jeweiligen Altersannahme führen.
Foto-Rallye: Schüler und Studierende verfügen heutzutage fast durchgängig über fotofähige Mobilgeräte und sind im Bereich der digitalen Fotografie versiert. Hier bieten sich daher leicht durchführbare Foto-Rallyes an, in deren Verlauf bestimmte Sachverhalte, Spuren oder persönliche Eindrücke im Gelände gesammelt und festgehalten werden können. Am besten eignen sich dazu Kleingruppen, bestehend aus zwei bis fünf Personen. Die Methode kann zudem mit anderen Ansätzen verquickt werden. Wichtig ist jedoch in jedem Fall eine anschließende Ergebnisauswertung, die über das Herumzeigen der Fotos auf „briefmarkengroßen“ Bildschirmen hinausgeht. Besser ist stattdessen die Zusammenstellung der Fotos in Form von Präsentationen oder Fotocollagen.
Abb. 4.6 Das Sammeln und Bestimmen von Strandsteinen an der Ostseeküste bei Flensburg