Читать книгу Mord zum Frühstück - Christiane Baumann - Страница 14
Die kleinen Dinge
ОглавлениеKommissar Daniel Koch schob Fotos von drei ermordeten Männern auf seinem Schreibtisch hin und her. Die Männer wurden alle durch Schläge auf den Hinterkopf getötet, vermutlich mit einem handelsüblichen Hammer, und die Leichen wurden im Schlosspark aufgefunden. Von einem Täter fehlte jede Spur.
Es war bereits nach Mitternacht, und der müde Kommissar gelangte zu der Einsicht, dass ihm der zündende Gedanke zur Lösung des Falls auch in dieser Nacht nicht kommen würde. Er meinte aber endlich zu wissen, was helfen würde: Ein weiblicher Blick auf die Dinge.
Am nächsten Morgen saß Inga Keller vor Daniels Schreibtisch. Sie war eine ungewöhnlich große Frau, die den Kommissar Daniel Koch um Haupteslänge überragte. Sie war noch jung, einigermaßen hübsch und sah aus, als sei sie nicht so leicht einzuschüchtern. Um irgendwelche Unklarheiten in ihrer Zusammenarbeit von Anfang an zu vermeiden, teilte Daniel der neuen Kollegin nach der formellen Begrüßung seine Erwartungen mit: „Sie werden mir helfen, Sie werden stets an meiner Seite sein, Sie sind sozusagen mein drittes Auge, und Sie werden meine Anweisungen genau befolgen. Keine Eigenmächtigkeiten“, sagte er forsch und sah zu ihr auf.
„Bin ich Ihr Bodyguard?“, fragte Inga.
„Unsere Arbeit betreffend, sind Sie meine bessere Hälfte. Wenn ich einen Fehler mache, werden Sie es bemerken und mich korrigieren. Aufpassen werde ich selbst auf mich.“
„Okay“, stimmte Inga zu.
„Gehen wir also als erstes in die Pathologie“, sagte Daniel.
Inga bedeutete dem anwesenden Rechtsmediziner, dass sie die Toten komplett nackt sehen wollte. Nachdem die Leichen vollständig aufgedeckt waren, wanderte sie langsam zwischen den drei Tischen, auf denen die Opfer aufgebahrt waren, hin und her.
„Fällt Ihnen etwas auf?“, fragte Daniel schließlich ungeduldig.
„Es besteht keine Verbindung zwischen den Männern, richtig? Sie sind sich niemals begegnet, das habt ihr überprüft. Sie sind aber nicht wahllos getötet worden, denken Sie das auch, Herr Koch?“
Der Kriminalist nickte als Antwort.
„Und Sie suchen ein Motiv?“
„Wir suchen alles, den Täter, ein Motiv, das Tatwerkzeug ... Sie können wählen.“
Inga stellte sich zu Daniel. Sie beugte sich zu ihm runter, damit er sie besser verstehen konnte. „Zu Hause habe ich eine Sammlung niedlicher Glasvasen“, begann sie, „ich hatte vor kurzem drei Tage Urlaub, die ich allein in Venedig verbracht habe. Dort werden entzückende kleine Dinge zum Kauf angeboten, zum Beispiel bunte Vasen aus Murano-Glas. Ich habe vorher ein bisschen gespart, um mir diese Souvenirs leisten zu können.“
Jetzt fängt sie an zu spinnen, dachte Daniel enttäuscht. Offenbar hatte er es mit einer Kollegin zu tun, die Berufliches und Privates miteinander vermischte, die sich angesichts ermordeter Männer auf Urlaubserlebnisse besann, nein, diese Kollegin war wohl doch ein Fehlgriff, den er unverzüglich korrigieren sollte.
Daniel ging wortlos hinter Inga in sein Büro zurück. Den Blick hatte er auf ihren Rücken gerichtet, auf ihren runden, festen Hintern, und auf ihre langen schlanken Beine. Sie trug hohe Absatzschuhe, was Daniel angesichts ihrer natürlich gegebenen Größe und seiner bescheidenen 1, 67 Meter als Unverschämtheit empfand.
Dieser Umstand bestärkte ihn einige Minuten lang in seinem Vorhaben, die Kollegin wieder loswerden zu wollen. Doch nein, so einfach würde er es weder sich noch ihr machen. Das Leben hielt halt immer neue Prüfungen bereit. Und er hatte doch einen sehr netten Anblick vor sich. Dafür konnte er ihren Hang zu kleinen Verrücktheiten wie den Nippes aus Venedig hinnehmen.
„Nun, das mit Ihren niedlichen Väschen“, eröffnete er umständlich das Gespräch, als sie an seinem Schreibtisch saßen.
„Meine Freundin ist genauso groß wie ich“, unterbrach Inga ihn ungerührt, „sie sammelt auch leidenschaftlich gern, allerdings keine Vasen, meine Freundin bevorzugt Nashörner. Sind wesentlich schwerer zu beschaffen.“
Daniel übte sich in Geduld. Er fragte mit gespieltem Interesse: „Ich vermute, Ihre Freundin sammelt ausnahmslos winzige Nashörner aus Glas?“
Inga war erfreut. „Ja, die kleinen Dinge haben es ihr angetan, wie mir. Das Material spielt dabei eine untergeordnete die entscheidende Rolle.“ Sie verstummte, lächelte ihn an. Es war eine kalkulierte Pause, denn gleich sprach sie weiter. „Unsere drei Opfer sind eher klein, das wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, Herr Kollege. Sie befinden sich aber durchaus im Normbereich. Die Körpergröße der Männer ist sicher nicht die Auffälligkeit an sich.“
„Die wäre dann?“
„Es soll Frauen geben, die mögen keine kleinen Männer, nach meiner Meinung eine glatte Dummheit, doch die Geschmäcker sind verschieden.“
Weil Daniel sie verständnislos ansah, wurde sie deutlicher: „Ich gehe von einer Frau als Täterin aus. An ihren Opfern ist irgendetwas ganz Spezielles zu klein geraten beziehungsweise eher winzig.“ Inga schaute Daniel forschend an. Der Kommissar dachte, es wäre besser, er hielte den Mund. Seine eigene Größe lag im Bereich der Männer, die zurzeit mit Vorliebe von einer Frau getötet wurden. Und womöglich gab es ja noch mehr unliebsame Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den Opfern.
„Irgendetwas Spezielles an ihnen“, wiederholte Inga genüsslich, „ich fange mal mit dem eher Unwesentlichen meiner Beobachtungen an, Herr Koch. Der zweite Mann hat sehr niedliche Hände und damit auch niedliche Finger. Sie sind ziemlich schmal, es kursiert da dieser doofe Männerwitz über Gynäkologen, der wird Ihnen geläufig sein. Der dritte Mann hat einen außerordentlich zierlichen Mund und demzufolge vermute ich bei ihm zierliche Zähne und eine winzige Zunge. Wenn Sie nachschauen möchten, werden Sie es sehen.“
Daniel schluckte seinen Ärger, der während Ingas Ansprache erneut in ihm aufkam, hinunter. Er fixierte die ihm gegenüber sitzende Frau mit seinen Augen, von denen er plötzlich dachte, sie mussten Inga erscheinen wie Mausäuglein, und fragte mit schnarrender Stimme: „Und das Wesentliche Ihrer Beobachtungen, Kollegin?“
„Das Wesentliche betrifft die Männer gleichermaßen. Das erste Opfer jedoch besonders“, Inga lächelte Daniel hilflos an. „Mir fehlt da etwas die Erfahrung, Herr Koch. Und angesichts der Tatsache, dass der Mann tot ist …“
„Das beste Stück des ersten Mannes ist extrem klein“, half Daniel ihr.
„Genau das meinte ich“, bestätigte Inga, „und bei den beiden anderen sieht es leider kaum besser aus.“
Wollte die Kollegin aus dieser Sachlage etwa ein Mordmotiv basteln? Völlig abwegig, meinte Daniel für sich. Andererseits hatte er in seiner beruflichen Praxis die merkwürdigsten Menschen kennen gelernt und die skurrilsten Situationen erlebt, so dass er Ingas Spekulation nicht rundweg ablehnte. Wenn eine Frau solch eine absurde Motivlage für möglich hielt, könnte eine andere Frau ähnlich empfinden, und wenn sie verrückt genug war, sich auch zu Morden hinreißen lassen.
„Wir suchen also nach Ihrer, entschuldigen Sie, eher abstrusen Theorie, eine Frau, die Männer mordet, weil ihre – um es volkstümlich zu sagen - Schwänze zu klein geraten sind? Und die sich zudem durch eine geringe Körpergröße auszeichnen, was unter Umständen zusammengehören könnte.“
„Richtig. Nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit müsste die Mörderin aus dem Umfeld der getöteten Männer oder aus dem ihrer Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen stammen. Woher sollte die Täterin sonst diese intime Kenntnis haben? Ich weiß, Sie haben diese Frauen alle überprüft. Ich möchte trotzdem noch einmal mit ihnen sprechen. Am liebsten würde ich mit Jana Wolter, der Ehefrau des ersten Opfers, anfangen.“
Der Kommissar blätterte in seinen Akten. Er wollte Ingas Vermutungen wenigstens einige vernünftige und gut recherchierte Fakten entgegensetzen. „Fest steht, dass sich die Partnerinnen der Getöteten nicht persönlich kennen, es gibt keine Berührungspunkte in ihren Biographien. Zwei von ihnen leben in Pankow, die dritte im Prenzlauer Berg.“ Er hielt inne. Seine Kollegin hatte die Akten studiert, es war unnötig, sie ihr zu referieren. „Aber warum wollen Sie ausgerechnet mit Frau Wolter reden? Die ist doch als Täterin auszuschließen. Vor allem wegen ihrer Größe oder Kleinheit, je nachdem, wie Sie es sehen wollen. Frau Wolter misst knappe 1,58 Meter. Damit konnte sie nach Auffassung der KTU nicht so töten, wie getötet wurde. Der Winkel, in dem der Hammer in allen drei Fällen auf den Kopf der Männer traf ...“
„Klar, die Täterin muss größer als ihre Opfer sein. Sie ist keineswegs übermäßig groß, jedoch mindestens 1,75 Meter.“
Daniel tat sich immer noch schwer, das von seiner Kollegin skizzierte Mordmotiv zu akzeptieren. Deshalb fragte er nach: „Von welchem Motiv gehen wir nun aus? Sexuelle Frustration oder etwas in der Art? Oder eine Wut auf Dinge, die von der Norm abweichen?“
„Einen menschlichen Körper mit all seinen potentiellen Schwächen würde ich niemals als Ding bezeichnen“, korrigierte Inga ihn sanft, „die Täterin tut dies vielleicht. Was nicht passt, wird aussortiert, beseitigt und weggeworfen. Man spricht doch von einer Wegwerfgesellschaft. Jemand nimmt diesen Begriff sehr wörtlich, Kollege.“
„Also gut, meinetwegen fahren Sie zu Frau Wolter. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum.“
Inga überragte Jana Wolter um mehr als zwanzig Zentimeter. Diese Situation war der Kommissarin vertraut, sie war meist diejenige, die auf andere Leute hinabschaute, ob in der Bahn oder an der Kasse im Supermarkt, bereits im Kindergarten war sie das größte Kind in ihrer Altersgruppe gewesen.
Frau Wolter antwortete auf Ingas Fragen in gleicher Weise wie drei Monate zuvor, unmittelbar nach dem Mord an ihrem Mann. Sie wiederholte ihr Alibi: sie hatte zur Tatzeit am Bett einer erkrankten Freundin gesessen. Die Kommissarin bemühte sich, besonders freundlich zu sein, um ein eventuell vorhandenes Misstrauen bei Jana Wolter zu zerstreuen.
Während des Gesprächs sah sich Inga unauffällig im Zimmer um und entdeckte auf einer Kommode einige Papiere, darunter einen Mutterpass. „In welchem Monat sind Sie?“
Eine zarte Röte überzog Janas Gesicht. „Im zweiten“, flüsterte sie.
„Ihr verstorbener Mann ist also nicht der ...?“
„Mein Mann und ich, wir hatten kleinere Probleme“, schien Jana sich rechtfertigen zu wollen, „und jetzt bin ich ungeplant sofort schwanger geworden.“
Inga nickte verständnisvoll. „Ich kann Sie gut verstehen. Plagen Sie etwa Gewissensbisse? Unsinn, freuen Sie sich auf das Kind. Ja, ich wäre die glücklichste Frau auf der Welt. Kinder sind ein wunderbares Geschenk“, begeisterte Inga sich. Ihre Wangen glühten. Einen Augenblick verliebte sie sich in die Vorstellung, selbst Mutter zu sein. Wenn sie denn einen Mann fände, der keine Angst vor einer großen Frau hätte.
„Wenn die Leute mitkriegen, dass ich von einem anderen schwanger bin, werden sie lästern und denken, ich hätte meinen Mann nicht geliebt“, befürchtete Jana.
„Ignorieren Sie solches Geschwätz einfach“, riet Inga ihr.
„Sie sind wie meine Physiotherapeutin“, Janas Miene entspannte sich, „zum Glück kann ich mit ihr über alles reden, sonst hätte ich schon manches Mal aufgegeben.“
„Die Friseurin und die Therapeutin, keine ist näher an den Frauen dran, in gewisser Weise, Herr Kollege. Ihnen schütten wir unser Herz aus. Sie wissen Bescheid über uns, über unsere kleinen oder großen Sorgen und Beschwernisse.“
Stumm lauschte der Kommissar dem Bericht Ingas über ihren Besuch bei Jana Wolter, während er seine Hände betrachtete. Kaum war der Ehemann tot, das hieß ermordet, schwupps war die Ehefrau schwanger von einem anderen. Sie würden den Liebhaber überprüfen müssen. Konnte sein, er hatte mit Gewalt nachgeholfen bei der Auflösung einer ehelichen Gemeinschaft. „Haben Sie den Namen des Liebhabers von Frau Wolter?“, fragte er, ohne seinen Kopf zu heben.
„Sie weiß nur seinen Vornamen, es war ein Mike. Wie Jana Wolter erzählte, ist er sehr groß und hat langes blondes Haar, das er als Pferdeschwanz trägt. Ich vermute, dass auch alles Übrige an ihm ziemlich groß geraten ist; er schwebt daher nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Sollen wir trotzdem ein Phantombild erstellen?“
„Nein!“ Der Kommissar riss sich verärgert vom Anblick seiner Hände los. Sie waren ohne Makel. Daniel wurde über sich selbst wütend. Das hatte er nun davon, eine Frau ins Team geholt zu haben! Bereits nach einem Arbeitstag mit ihr fühlte er sich verunsichert, bedrängt und schwach. Inga brachte seine Vorstellung vom Fall durcheinander, von dem, was zu tun und was zu lassen war, sie war dabei, ihm die Fäden aus der Hand zu reißen, er würde Fehler begehen, die Übersicht verlieren und - das Allerschlimmste - er schlug sich ihretwegen mit abwegigen Gedanken über die Größe seiner Finger und anderer Körperteile herum. Damit musste Schluss sein!
Daniel räusperte sich und schob energisch Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. „Wir machen Folgendes“, ordnete er an, „das heißt, Sie machen Folgendes. Sie stellen fest, welche Friseurin und welche Physiotherapeutin die Partnerinnen der Ermordeten in Anspruch nehmen. Sollte mich wundern, wenn es jeweils dieselbe wäre.“
„Gut, und wenn es doch so sein sollte?“
„Dann informieren Sie mich!“
Inga hatte die Recherche schnell erledigt. Die Ehefrau des ersten Opfers, die geschiedene Frau des zweiten und die Freundin des dritten Opfers ließen sich alle von einer anderen Friseurin die Haare schneiden und nur eine von ihnen ging regelmäßig zur Physiotherapie.
Jeder darf einmal irren, urteilte Daniel über Inga. Es war ein Versuch wert gewesen. Er schickte die Kollegin mit den abwegigen Ideen für heute in den Feierabend, heim zu ihrer Sammlung winziger Vasen.
Später am Abend reinigte Daniel bei sich zuhause sein Aquarium. Er rätselte dabei, ob Inga für kleine Lebewesen eine ebenso leidenschaftliche Liebe entwickeln könnte wie für überflüssige Ziergegenstände, die höchstens die Größe eines Zeigefingers erreichten.
Das Telefon läutete und schreckte den Mann auf, denn die Kollegen nutzten gewöhnlich sein Handy. Daniel hörte ein „Hallo, Herr Koch?“. Sie war es. Wider Willen freute ihn der Anruf. Um es Inga nicht merken zu lassen, antwortete er ihr einsilbig.
„Haben Sie etwa bereits geschlafen?“, wollte Inga wissen.
„Nein.“
„Ich hab noch eine Idee.“
„Morgen.“ Er würde auf keinen Fall einer weiteren Phantasterei der Kollegin folgen.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause drauf gekommen“, sagte Inga.
„So.“
„Ein paar Blocks vor meiner Wohnung ist ein Kosmetikstudio, ich gehe zweimal am Tag dran vorbei, vielleicht habe ich es deshalb übersehen.“
Daniel schwieg.
„Herr Koch, meine Haut ist 1a, meint jede Kosmetikerin, aber andere Frauen haben Probleme. Soll ich recherchieren ...“
„Nein.“
Beide schwiegen. Daniel hörte Ingas Atem. Er stellte sich vor, wie er heftiger wurde und in ein Stöhnen überging. Ihre Haut, makellos und glatt. Kosmetikstudio? Ein neues Hirngespinst? „Die Kosmetikerin hört also auch jede Menge Herzschmerz“, bemerkte er sarkastisch.
„Sie haben Recht, Herr Koch, wahrscheinlich bin ich auf einem Holzweg.“ Inga verstummte. Daniel räusperte sich. Gleich würde sie auflegen. Inga hauchte einen Gute-Nacht-Gruß in sein Ohr.
„Warten Sie!“ Er würde sowieso die Stunden bis zum Morgengrauen über ihren Vorschlag grübeln. Dann konnten sie das auch gemeinsam tun. „Wir sollten uns unterhalten“, sagte er.
Der Kommissar fuhr zu Inga. Sie kochte Kaffee, und Daniel musterte in der Zeit ihre Miniatur-Glasvasen-Sammlung, die in einer recht voluminösen Vitrine präsentiert wurde. Wider Willen nötigte diese Ansammlung von Nichtigkeiten ihm Respekt ab.
Nachdem Inga den Kaffee serviert hatte, schilderte sie Daniel, wie er sich eine
Kosmetikbehandlung vorzustellen hätte. In der intimen Atmosphäre eines solchen Studios würden Frauen schon mal das eine oder andere Problem in ihrer Beziehung verraten.
Inga lehnte sich im Sofa zurück, schloss die Augen, schlaff hingen ihre Arme herunter, der Körper bewegungslos. „Augen zu“, sagte sie, „abgedunkeltes Licht, irgendeine Ayurveda-Musik vom Band zum Entspannen, feuchte Luft wird einem aufs Gesicht gepustet, damit die Pickel aufgehen ...“
„Ihre Haut ist astrein, Sie brauchen das nicht“, wandte Daniel ein. Ihn amüsierte, wie sie für ihre Idee kämpfte.
Inga fuhr fort: „Du entspannst dich vollkommen, fängst an zu träumen, nach einer Weile setzt sich die Kosmetikerin zu dir ans Kopfende, nur du und sie in einem abgegrenzten Kämmerlein, du spürst ihre Hände sanft auf deinem Gesicht kreisen und leise fragt sie dich nach dem Kummer in deinem Leben.“
„Und ich bekenne ohne Zögern, dass das Glied meines Mannes oder Freundes zu klein ist, um mich befriedigen zu können?“
Inga schlug ihre Augen auf. „Unter Umständen“, sagte sie kühl.
„Und dann geht die Kosmetikerin los, holt ihr Hämmerchen aus der Schublade, verabredet sich mit dem Versager und haut ihm mit dem Ding den Schädel ein?“
„Könnte doch sein, wenn sie denkt, dass die Frau ohne den Versager besser dran ist und sie unter einem verqueren Helfersyndrom leidet.“ Inga hatte sachlich gesprochen; ihn bei diesem eher delikaten Thema auf Handbreite neben sich zu wissen, schien ihr nicht die geringste Mühe zu bereiten.
Daniel hatte zwar so seine Vorbehalte gegen Ingas Ideen, doch solange sie keine andere Spur zur mutmaßlichen Täterin hatten, könnten sie auch eine weitere absurde in Betracht ziehen. Wenn etwas dran wäre, müssten sie sofort handeln. Andererseits war es unangemessen, mitten in der Nacht auf einen vagen Verdacht hin irgendwelche Maßnahmen einzuleiten. Daniel wog noch Für und Wider ab, da hörte er sich fast gegen seinen Willen forsch sagen: „Wir gehen folgendermaßen vor. Wir bringen die Partnerinnen der Opfer unverzüglich aufs Präsidium. Die Aktion muss gleichzeitig geschehen, um Absprachen zu unterbinden oder für den Fall, eine von ihnen hat sich eng mit ihrer Kosmetikerin befreundet.“
Drei Stunden später stellte sich in den Befragungen heraus, dass die betreffenden Frauen tatsächlich alle von derselben Kosmetikerin behandelt wurden. Sie war eine 1, 76 Meter große, alleinstehende 35jährige Frau und hieß Miranda Heitzer. Aus polizeilicher Sicht war sie bisher unauffällig geblieben. Frau Heitzer wohnte in der Wolfshagener Straße in Pankow und somit in der Nähe des Schlossparkes, in dem die Opfer aufgefunden worden waren.
Inga hatte ihre ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um die Frauen zum Sprechen zu bringen. Plötzlich war ihnen ihr Verhalten peinlich, ihr schamloses Gerede über die Schwächen ihrer Männer.
„Jetzt wird’s heiß“, meinte Daniel zu Inga. Er wollte keine weitere Verzögerung und die verdächtige Kosmetikerin so schnell wie möglich zu einer Vernehmung aufs Präsidium holen.
„Und wenn die Heitzer nicht zu Hause ist?“, fragte Inga.
„Sagen Sie mir lieber, wie ich diesen Aufwand vor dem Dienststellenleiter rechtfertige, wenn er erfolglos bleibt“, entgegnete Daniel. Ihr Auto sowie zwei Streifenwagen parkten in einer Nebenstraße. Dort warteten die Kollegen für den Notfall auf sein Kommando.
Der Kommissar fand die Haustür Nr. 20 in der Wolfshagener Straße unverschlossen. Er vergewisserte sich, dass Inga unmittelbar hinter ihm war. Nun spielte sie doch seinen Bodyguard. Beide zogen ihre Waffen.
„Alles klar?“, fragte Daniel, Inga nickte ihm zu.
„Zweite Etage“, sagte sie.
Das Licht im Hausflur war kaputt, deshalb tasteten sie sich mit Hilfe ihrer Taschenlampen vorwärts. Vor Miranda Heitzers Wohnungstür hielten sie inne. Eigentlich wollte der Kommissar klingeln, spontan entschied er sich anders. Er trat die Tür ein, was ihm mit einem Stoß glückte. Rasch machten sie Licht, durchsuchten die einzelnen Räume und riefen dabei wiederholt „Polizei, verhalten Sie sich ruhig!“ Nirgends eine Bewegung, absolute Stille.
„Das Vögelchen ist ausgeflogen, alles abblasen“, stellte Daniel enttäuscht fest.
Während er telefonierte, ging Inga leise fluchend zum Fenster hinüber. Sie schob die Gardine beiseite und schaute auf die Straße hinunter, keine Menschenseele war um diese späte Nachtzeit unterwegs. Gegenüber ein Wohnhaus aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, in gutem Zustand. Die Haustür tief ins Mauerwerk eingelassen, ein idealer Platz, um sich zu verstecken.
Bevor sie die Aktion abbrachen, suchte Inga vom Fenster aus noch einmal die Straße ab. Nichts! War die Heitzer trotz ihrer Vorsichtsmaßnamen gewarnt worden, oder war sie gerade dabei, ein nächstes Opfer zu treffen?
Daniel schaltete das Licht im Wohnzimmer der Heitzer aus. Er wollte weg.
Inga warf einen letzten Blick zum gegenüberliegenden Wohnhaus. Plötzlich meinte sie, eine Bewegung im Hauseingang zu entdecken. Und sie hatte mit einem Schlag ein Kribbeln im Bauch. Dort drüben drängte sich eine Frau an die Hauswand! Das war doch die gesuchte Heitzer, darauf würde sie ihren Arsch verwetten.
„Kommen Sie her, Daniel.“ Inga flüsterte unwillkürlich. „Auf der anderen Straßenseite steht die Heitzer im Hauseingang, sie beobachtet uns. Schalten Sie das Licht wieder ein, Daniel, her zu mir, und küssen Sie mich!“
„Bitte?“
„Schnell, Kollege! Machen Sie Licht! Wir locken sie aus der Reserve.“
Daniel knipste das Licht an und kam zögerlich zu Inga, die die Gardine energisch beiseiteschob. Sie umarmte Daniel. „Schauen Sie zu mir, und küssen Sie mich!“, forderte sie und neigte ihren Kopf.
„So wird das nichts, Sie sind zu groß für mich“, protestierte Daniel, „Sie hätten wenigstens auf die Absatzschuhe verzichten sollen!“ Er fühlte sich unbehaglich. Zwar war er überrascht von ihrem Körper, der viel weicher war, als er sich vorgestellt hatte, trotzdem fürchtete er, eine lächerliche Figur in Ingas Armen abzugeben. Er war zu klein, um sie auf den Mund küssen zu können, selbst, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellen würde, und er hatte keine Lust, erfolglose Versuche zu unternehmen.
„Nein, es ist gut, sie wird sehen, dass es nicht passt, das ist wunderbar“, raunte Inga in sein Ohr.
„Verdammter Quatsch!“ Entschlossen wand Daniel sich aus Ingas Umarmung. „Die Spurensicherung soll sich die Bude vornehmen, ich gehe!“ Er wandte sich abrupt ab und lief aus der Wohnung.
Inga sah erneut aus dem Fenster. Der Schatten gegenüber löste sich aus dem Hauseingang. Eine Frau schritt auf die Straße und überquerte die Fahrbahn. Es hatte funktioniert. Die Heitzer würde Daniel direkt in die Arme laufen. Nein, umgekehrt. Daniel würde einer vermutlichen Mörderin in die Arme laufen!
Mit langen Schritten eilte Inga ihrem Chef nach. Als sie den untersten Treppenabsatz erreicht hatte, hörte sie einen Schrei. Daniel! Er wurde angegriffen, und sie fehlte an seiner Seite! Ein weiterer, diesmal schriller Schrei folgte, zweifelsfrei von einer Frau, dann ein Poltern. Inga entsicherte ihre Waffe. Endlich sah sie im Lichtkegel ihrer Taschenlampe ein regloses Paar im Parterre liegen. „Daniel? Leben Sie?“
„Ich hab sie“, schnaufte ihr Chef. Er hatte sich auf die Angreiferin geworfen, bedeckte ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Inga entdeckte den Hammer einen Meter entfernt von den beiden, stellte ihren Fuß darauf und sagte: „Kommen Sie hoch, Daniel, jetzt sind Sie sicher.“
Nachdem die Täterin abgeführt war, blieb für den Kommissar nur, sich bei Inga zu bedanken. „Sie mit Ihren verrückten Ideen, Sie hatten recht“, ließ sich Daniel zu einem Lob hinreißen.
„Ich hätte noch mehr verrückte Ideen auf Lager.“ Inga beugte sich ein wenig zu Daniel hinunter und lächelte ihn an. „Vergessen Sie nicht, ich liebe alles, was klein ist.“