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Am Sonntagabend in einer Kneipe in Marzahn

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Janine Wunderlich starrte unentwegt zu einem etwas behäbig wirkenden, älteren Mann hinüber, von dem sie annahm, dass er ihr leiblicher Vater war. Der Mann hieß Hans Sonntag und saß allein in der gegenüberliegenden Ecke der Kneipe. Wenn die Tür aufschwang, schaute er jedes Mal interessiert auf. War der neue Gast ein Mann, wandte Hans Sonntag sich enttäuscht ab und nahm einen kräftigen Zug von seinem Bier.

Janine schloss aus diesem Verhalten, dass Hans Sonntag auf eine Frau wartete. Ein Ehebrecher war er ja, ihr frisch entdeckter Vater, zumindest in seinen jungen Jahren. Vielleicht hatte er nie mit dem Fremdgehen aufgehört. Obwohl, wenn sie sich ausrechnete, wie alt der inzwischen war … der sollte noch aktiv sein? Schwer vorstellbar.

Komisch, über Eberhard, den Mann, den ihre Mutter ihr 27 Jahre lang als Vater präsentierte, hatte sie sich nie solche Gedanken gemacht. Eberhard, ihr Vater! Von wegen! Seit drei Wochen konnte sie sich endlich dieses unbestimmte, unsichere Gefühl erklären, dass sie ihm gegenüber oft empfand. Seit sie Zuhause zufällig eine Unterhaltung zwischen ihrer Mutter und deren engster Freundin Melanie mitgekriegt hatte.

Die beiden hatten mehr Rotwein getrunken als gut für sie war und angefangen, von alten Zeiten zu schwärmen. Und da war Janines Mutter die Wahrheit über ihre Schwangerschaft herausgerutscht und wer in Wirklichkeit der Vater ihrer einzigen Tochter war.

Es waren zwar nur wenige Sätze gewesen, die Janine hinter der Wohnzimmertür belauschen konnte, aber sie reichten ihr aus. Denn sie hatte geahnt, dass Eberhard nicht ihr Vater sein konnte. Es gab keine Gemeinsamkeiten, keine äußerlichen Merkmale, keine Interessen, keine Vorlieben, keine Fähigkeiten. Einfach nichts! Sie konnte kaum drei Sätze mit ihm reden, ohne dass sie in Streit gerieten. Einen plausiblen Grund für ihre Abneigung gegen Eberhard zu wissen, war daher eine Erlösung für Janine.

Gerade überlegte sie, ob sie Hans Sonntag an diesem Abend mit ihrer Existenz überraschen sollte, als eine Frau die Kneipe betrat. Sie wirkte trotz grauer Haare jung. Ihre Hände steckten in viel zu großen Taschen eines überlangen beigefarbenen Mantels, den sie langsam um sich herum schwenkte, während sie sich im Raum orientierte. Hans Sonntag war aufgesprungen und winkte ihr unbeholfen zu. Die Frau ging mit merkwürdig steifen Schritten zu ihm. Beide begrüßten sich mit einem flüchtigen Händedruck, und danach verschwanden ihre Hände wieder in den riesigen Manteltaschen.

Wurde sie etwa Zeugin eines Dates, fragte Janine sich. Eher nein, dafür war die Szene zu förmlich abgelaufen. Ein Getränk lehnte die Dame ab. Dem Geplauder von Hans Sonntag schenkte sie kaum Beachtung und drehte sich oft nach den anderen Gästen um.

Janine folgte ihrem Blick. Nur wenige Leute waren anwesend, zwei, drei Paare unterschiedlichen Alters, einige Männer, die ihr Bier an der Theke tranken. Dann noch ein dürrer Großvatertyp mit Glatze und Bart. Der musste den Hans Sonntag kennen, denn er hatte ihn vertraut begrüßt. Trotzdem hatte Hans Sonntag ihm verwehrt, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Nun stierte der Abgewiesene am Nebentisch grimmig vor sich hin und soff mehrere Schnäpse hintereinander.

Und es gab einen jüngeren Kerl mit Dreitagebart und Brille. Es war Janine nicht entgangen, dass er versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch Janine wollte nicht durch einen Flirt abgelenkt werden. Sie wollte sich ganz auf den alten Mann konzentrieren, der wahrscheinlich ihr leiblicher Vater war. Sie hoffte, die Frau im weiten Mantel würde schnell wieder verschwinden.

Janine trank ihr Glas leer, und der beflissene Wirt brachte ihr sofort ein weiteres Viertelchen Roten. Sie musste aufpassen, einigermaßen nüchtern zu bleiben, denn morgen hatte sie Frühschicht. Restalkohol war bei ihrem Job, Straßenbahnfahrerin, absolut verboten.

Jetzt schob Hans Sonntag der Unbekannten einen prall gefüllten Umschlag zu, den sie einsteckte, ohne den Inhalt zu prüfen. Gleich darauf begab sich die Dame zur Toilette.

Die Mantelfrau lief nicht nur steif herum, die hinkte ja regelrecht! Dass ihr Vater sich mit einem Hinkebein verabredete, enttäuschte Janine.

Hans Sonntag lehnte sich zurück und wirkte auf Janine zufrieden, auch ein wenig erschöpft. Das war’s, dachte sie. Deshalb war er hier, wegen dieses Umschlages. Was mochte da drin gewesen sein? Geld?

Janine schaute auf ihre Uhr, erst halb zehn. Der junge Typ prostete ihr zu. Sie übersah es geflissentlich. Wenig später ging er zur Toilette und der dürre Großvatertyp hinterher.

Als die Hinkende zurückkam, blieb sie bei Hans Sonntag stehen. Er erhob sich, und beide reichten sich erneut die Hand. Dann verließ die Frau die Kneipe, ohne jemanden anzusehen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.

Komisch, dachte Janine, sie hat ihn abserviert, obwohl sie vermutlich Geld von ihm erhalten hat. Und wie ein Blitz traf Janine eine neue Idee, was sich vor ihren Augen abgespielt haben könnte. Hatte ihr Erzeuger etwa eine Prostituierte bezahlt?


Mord zum Frühstück

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