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Batu und Elodie

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Als Batu an jenem Donnerstagnachmittag seine Wohnungstür öffnete, stand Elodie mit einem Messer in der rechten Hand vor ihm auf dem Treppenabsatz. Das Messer bemerkte Batu sofort. Die ganze Klinge war blutig. Einzelne dicke rote Tropfen fielen auf den Boden. An ihrer Bluse klebte ebenfalls Blut.

Batu sah zu Elodies Wohnung hinüber, die Tür stand etwas offen, dahinter nur Stille. „Alles in Ordnung mit dir?“

Elodie starrte Batu wortlos an, ähnlich wie sie ihn in den vergangenen drei Jahren angestarrt hatte, wenn sie ihm zufällig begegnet war.

Trotz Elodies abweisender Art war es Batu im Laufe der Zeit gelungen, ihren Vornamen und ihr Alter zu erfahren. Er hatte sie so weit gebracht, ihn zu duzen, während er von Anfang an auf das ‚Sie‘ verzichtete. Für Batu war das normal, schließlich waren sie beide jung. Ständig hatte Batu versucht, Elodie näher zu kommen. Sie erzählte ihm, Single zu sein. Später überlegte sie es sich anders und behauptete, einen Freund zu haben, aber der wäre viel auswärts unterwegs und deshalb selten bei ihr.

Aus Elodies spärlichen Berichten und seinen eigenen Beobachtungen schloss Batu, dass es sich bei Elodies Geliebtem um einen verheirateten Mann handeln musste. Batu verabscheute ihn, ohne ihn je wirklich gesehen zu haben, weil er Elodie unglücklich machte oder weil er sie glücklich machte, je nachdem. Batu dachte allen Ernstes, der Unbekannte stünde einem von ihm erträumten Glück mit Elodie im Wege. Batu arbeitete als Koch. Er hatte Elodie des Öfteren zum Abendessen zu sich eingeladen, sie lehnte stets ab.


Als Elodie nun mit einem blutverschmierten Messer in der Hand vor ihm stand, meinte Batu zu wissen, was zu tun war. Ein Messer, an dem Blut klebte, brachte ihn keinesfalls aus der Fassung. Er war an diesen Anblick gewöhnt.

Batu bat Elodie in seine Wohnung. Diesmal würde sie seine Einladung nicht ablehnen. Sie zitterte am ganzen Körper, am heftigsten die rechte Hand mit dem blutigen Werkzeug. Batu fasste Elodie vorsichtig am Arm, nahm ihr das Messer ab und wickelte es provisorisch in ein Taschentuch. Es handelte sich um ein großes Küchenmesser mit einseitig geschliffener Klinge und einem Griff aus schwarzem Kunststoff. Ein billiges Ding.

Elodie gab dem leichten Druck von Batu nach und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl in seinem kleinen Wohnzimmer. Die blutige Hand, die das Messer gehalten hatte, hing jetzt schlaff herab, als gehöre sie nicht zu ihrem Körper.

„Willst du mir sagen, was passiert ist?“, fragte Batu und bemühte sich, warmherzig und mitfühlend zu klingen. Elodie dagegen sprach trotz ihres gerade überstandenen Zitteranfalls sachlich und forsch. „Ich habe Kai erstochen. Ich bin eine Mörderin. Batu, ruf die Polizei.“


Die Polizei rufen? Auf keinen Fall. In drei Tagen würde er auf Wunsch seines Vaters in die Türkei zurückkehren. Er brauchte keine Verwicklung in polizeiliche Maßnahmen. Er war bisher ohne engeren Kontakt mit der deutschen Polizei ausgekommen, und das sollte bis zu seiner Ausreise so bleiben. „Kai ist dein Liebhaber?“

Elodie nickte unmerklich.

Zufriedenheit und Erleichterung erfassten Batu. Sie hatte ihren Kerl umgebracht. Unglaublich. Die Ärmste! Er musste sich um sie kümmern und sie schützen. „Ich mache dir einen Tee“, sagte Batu und brachte das Messer in die Küche. Er hielt es unter kaltes, fließendes Wasser, trocknete es sorgfältig ab und legte es in seinen Besteckkasten. Der elektrische Wasserkocher sprudelte leise vor sich hin. Batu schaute ins Zimmer und sah Elodie völlig unbeweglich auf dem Stuhl sitzen. Er lief hinüber zu ihrer Wohnung. Dabei vermied er es, in die Blutflecken auf dem Treppenabsatz zu treten. Langsam folgte er den Blutspuren auf dem Boden. Sie führten ihn in Elodies Schlafzimmer. Auf dem Bett ein nackter, jüngerer Mann mit kurzem Haar und sorgfältig gestutztem Oberlippenbart. Natürlich ein Blonder, stellte Batu fest.

Der tote Mann lag auf dem Rücken und starrte Batu mit graublauen Augen an. Es war nichts Besonderes an Elodies Liebhaber, bis auf die Wunden in seinem Oberkörper, die sie ihm beigebracht hatte. Batu begann, die Einstiche zu zählen. Er kam bis sieben, bevor er sich besann. Er vergewisserte sich, dass niemand anderes in der Wohnung war. Im Flur entdeckte er einen Schlüsselbund, und nach einigen Fehlversuchen konnte er die Tür hinter sich abschließen.


Batu füllte ein Gläschen mit schwarzem Tee, pustete ein paar Mal auf die Flüssigkeit, um sie abzukühlen, und reichte es Elodie. Sie musterte erstaunt ihre blutverschmierte Rechte und nahm das kleine Teeglas mit der Linken. Batu holte schnell einen Waschlappen und säuberte Elodies Hand. Er entschuldigte sich für einen Moment, er habe dringend etwas zu erledigen. Die Blutflecken im Hausflur mussten verschwinden, bevor ein Nachbar sie bemerkte, eventuell stutzig wurde und übereifrig die Polizei rief.

Hastig suchte Batu die notwendigen Utensilien zusammen und wischte den Hausflur. Ihm war klar, dass die Spurensicherung der Polizei trotz all seiner Bemühungen Restspuren von Blut an dieser Stelle finden würde. Vorausgesetzt, die Kriminalbeamten verfolgten jemals die Idee, hier nach Blut zu suchen. Wie auch immer, zu diesem ungewissen Zeitpunkt würde er schon über alle Berge sein.

Zurück im Zimmer überfiel Elodie ihn mit der Frage, ob Kai wirklich tot sei.

„Ja, mausetot.“

Batu ging davon aus, dass Elodie die Nerven verlieren könnte, wenn ihr die Tat ins Bewusstsein dringen würde. Noch machte sie einen halbwegs gefassten Eindruck, zeigte keine Anzeichen von Panik. Sie forderte ihn wiederholt auf, die Polizei anzurufen. „Ich will es hinter mich bringen.“

„Denken wir gemeinsam nach, Elodie. Was willst du den Bullen sagen?“

„Wie es war, die Wahrheit. Ich habe Kai getötet. Wo ist das Messer?“

„Das Messer ist weg“, sagte Batu energisch.

„Aber, aber, ich muss doch der Polizei …“

„Du musst gar nichts. Trink deinen Tee. Elodie, bitte, wir müssen jetzt vernünftig sein.“

„Wieso ‚wir‘?“

„Du und ich.“ Batu lächelte sie an.

Elodie stöhnte laut. „Oh Gott, ich ziehe dich in die Sache mit hinein. Es tut mir leid, Batu. Ich bin ja total egoistisch.“ Sie stand auf, wollte offenbar in ihre Wohnung.

„Elodie, setz dich wieder. Ich kann dir helfen …“

„Nein, nein, nein, ich will es hinter mich bringen. Unbedingt gleich. Bitte wähle 110.“

„Gut, gut. Ich rufe an, wenn du mir alles erzählt hast. Einverstanden? Dieser Kai, ist er verheiratet?“

Elodie nickte, setzte sich und schlug ihre großen blauen Augen nieder. Ihre langen, schwarz gefärbten Wimpern bildeten einen Kontrast zu dem hellen Teint. Ihr rötlich blondes Haar fiel bis auf ihre Schultern. Es war sehr fein und nach Batus Meinung einzigartig. Es gefiel ihm, dass Elodie das Haar ohne Pony trug, so war ihr schönes Gesicht besser zu sehen. Er konnte sich kaum von diesem Anblick losreißen. „Weiß Kais Frau von eurer Beziehung?“

„Unwahrscheinlich.“

„Wie habt ihr euch verabredet?“

„Warum stellst du diese Fragen?“

„Habt ihr Mails geschrieben?“

„Nein. Kai hat ein zweites Handy, extra für mich.“ Sie schluchzte auf.

Batu war zufrieden. Das war eine relativ leichte Aufgabe. Der Tote und sein Handy mussten aus Elodies Wohnung verschwinden. Dann würde es für die Kripo schwieriger, eine Verbindung zwischen Kai und Elodie aufzuspüren. Blieb die Ehefrau, die hoffentlich ahnungslos war, mit wem ihr Mann sich ab und zu vergnügt hatte.

Batu war ein geduldiger und optimistisch denkender Mensch. Keine Frage, das Glück würde auf seiner Seite sein. „Kai muss weg. Ich übernehme das. Niemand wird je erfahren, wie und warum er verschwunden ist. Er wird sich in Luft auflösen, als hätte er nie gelebt. Vertrau mir, ich regle das.“

Elodie lachte plötzlich lauthals und zeigte dabei zwei Reihen regelmäßig gewachsener Zähne. „Wie willst du mitten in Berlin eine Leiche beseitigen? Das geht nur im Film.“

„Keine Sorge, es wird funktionieren. Du hast damit nichts zu tun. Am besten, du ruhst dich aus und“, Batu zögerte, „und später beginnst du ein völlig neues Leben, in Sicherheit und mit mir.“

Ein neues Leben? Mit Batu? Elodie dachte, sie erlebe gerade einen Albtraum. Gleich würde sie aufwachen, und alles wäre in Ordnung. Kai würde leben, und sie läge neben ihm in ihrem Bett. Doch nein! In ihren Ohren dröhnte das Knirschen, mit dem das Messer in seine Brust gedrungen war, sie sah den entsetzten Blick, fühlte immer noch den Drang in sich zuzustoßen … Das blutige Messer hatte sie zu Batu gebracht und wollte bei ihm auf die Polizisten warten, die sie als Mörderin abführen würden. Sie hatte Kai getötet, weil er unfähig war, seine Frau zu verlassen, aber auch sie, seine Geliebte. Wenn er nicht für Klarheit sorgte, sie hatte es geschafft. Ein für alle Mal. Und was schwafelte Batu da von einem neuen Leben? Sie und dieser schreckliche Mann? Viel zu klein und zu kräftig gebaut, sein Nacken wie der eines Stiers, er hatte dichtes, rabenschwarzes Haar, die Augen wie Kohlen. Elodie mochte keine Männer mit schwarzen Haaren. Alle ihre Freunde hatten blondes oder bräunliches Haar gehabt.


„Batu, ich will kein neues Leben mit dir“, widersprach Elodie heftig, „ich werde ins Gefängnis gehen.“

„Für fünfzehn Jahre? Überleg mal, Elodie. Du bist fünfundzwanzig und wirst vierzig sein, wenn du Glück hast und aus dem Knast kommst. Vierzig, Elodie! Dann ist alles vorbei, du kriegst keine Arbeit, keinen Mann, und Kinder kriegst du auch nicht mehr. Du willst doch Kinder, oder?“

„Genug. Spinnst du! Ich werde, ich werde …“ Sie verstummte. Kein Mann und keine Kinder. Keine Familie. Keine Freunde. Alle würden sich voller Abscheu von ihr abwenden. Einsam, alt und arm. „Wie willst du denn Kais Leiche verschwinden lassen?“

„Ein Cousin hilft mir. Er ist absolut vertrauenswürdig und wird keine Fragen stellen. Du wirst von Kai nie wieder etwas hören oder sehen. Niemand wird je wieder etwas von ihm hören oder sehen.“

„Das ist ja grauenvoll, Batu. Geh weg, raus aus meiner Wohnung!“

Batu legte beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm. „Das ist meine Wohnung, Elodie. Bei dir liegt ein Toter. Bei mir nicht.“ Er versuchte, ihren Blick festzuhalten und sprach eindringlich weiter: „Am Sonntag reise ich in die Türkei, zu meiner Familie. Ich werde das Geschäft meines Vaters übernehmen, es ist ein sehr angesehenes Geschäft in der Heimatstadt meiner Familie. Geh mit mir, Elodie, als meine Frau.“

„Du redest Unsinn, Batu. Ich deine Frau?! Mir ist wirr genug im Kopf. Ich muss zu meiner Schuld stehen, verstehst du? Wenn du nicht die Polizei rufst, tu ich es eben selber.“

„Immer schön ruhig. Werde meine Frau, und du bist den Schlamassel los.“

„Vergiss es!“

„Denk nach, Elodie, ich bitte dich. Dein schönes blondes Haar wird grau im Gefängnis, deine Haut schlaff und ungepflegt, du wirst dürr vor Kummer oder fett, deine Zähne fallen aus vom schlechten Essen, und du wirst niemals ein eigenes Baby in den Armen halten.“

„Das ist unfair, Batu. Davon abgesehen, lieber gehe ich ins Gefängnis und bleibe mein Leben lang kinderlos, als deine Frau zu werden!“ Das saß. Batu knickte ein, senkte seinen Kopf und schwieg.


Elodie war wütend auf Batu. Sie als Frau eines Türken, in der Türkei und mit einem halbtürkischen Kind oder einer riesigen Kinderschar. Niemals! Andererseits … Nein, es hatte keinen Sinn. Selbst ein Wunder würde nicht helfen. Auch, wenn es Batu und seinem Cousin gelänge, Kais Leiche verschwinden zu lassen, würde Kai zu einem Vermisstenfall und ihre Beziehung irgendwie auffliegen. Dann würde ihre Wohnung durchsucht, und die Blutspuren würden sie verraten. Nach Jahren konnte jede winzigste Blutspur sichtbar gemacht werden, das hatte sie erst neulich in einem Fernsehfilm gesehen. Da konnte man schrubben wie verrückt, es nützte nichts. Die Kripo würde feststellen, dass eine Elodie Schubert wenige Tage, nachdem Kai Körner als vermisst gemeldet wurde, in die Türkei geflogen war. Es gab bestimmt ein Auslieferungsabkommen.


„Sie werden mich auch in der Türkei aufspüren“, sinnierte Elodie. Wider Willen klang sie enttäuscht.

Batu hob langsam seinen Kopf, und Elodie hielt seinem Blick stand. Was, wenn er wirklich ihre letzte Chance war, dem Gefängnis zu entfliehen? „Jetzt ist Donnerstagabend und bis Sonntag“, begann sie, „mal rein theoretisch … wir sind nicht verheiratet … die Polizei wird herausfinden, wohin ich geflogen bin …“

„Niemand wird eine Frau Özcan suchen, sie suchen im Fall des Falles eine Elodie Schubert.“

„Vielleicht. Und wie soll ich so schnell zu Frau Özcan werden, bitte schön?“

„Kein Problem, ich habe einen Cousin, der kann Papiere besorgen und organisieren, dass wir heute Abend verheiratet sind.“

„Es wird auffallen, wie plötzlich du geheiratet hast.“

„Nein, wir datieren das Hochzeitsdatum zurück, zwei Monate oder drei. Kein Problem für meinen Cousin.“

„Du hast wohl für alles einen Cousin! Das sind lauter Mitwisser, das kann nicht gut gehen.“

„Familie hilft, Familie verrät nicht, Familie ist heilig. Man muss an sein Glück glauben. Ihr Deutschen habt den Glauben verloren, deshalb habt ihr so viel Angst.“

„Ich finde dich unausstehlich.“ Elodie legte möglichst viel Verachtung in ihre Stimme, weil ihr im Moment kein weiteres Argument gegen Batus Pläne einfiel. In Gedanken sah sie sich barfuß über trockene, ausgedörrte Wege laufen, einer unbarmherzigen türkischen Sonne ausgesetzt - die Einöde wartete auf sie. „Wo genau wohnst du?“

„Weit, weit weg im Osten meines Landes. Zugegeben, es ist keine große Stadt, aber es ist eine Stadt. Wir werden ein Haus für uns haben, keine winzige Wohnung wie hier. Du hast einen Garten, wenn du willst, und du brauchst nicht arbeiten.“ Im Gegensatz zu mir, ich werde die Fleischerei meines Vaters übernehmen, dachte Batu.

„Und dafür muss ich deine Kinder kriegen“, versetzte Elodie.

Batu lächelte. „Ist denn das so schrecklich? Ich bin kein schlechter Mann.“

Oh Gott, oh Gott, flehte Elodie innerlich, Mama hilf mir, was soll ich nur tun? Wie soll ich ohne dich und Papa leben? Soll ich diesem verrückten Türken vertrauen? Wenn ich mit ihm abhaue, werde ich euch nie wieder sehen können. „Und meine Familie? Meine Eltern? Sie werden mich vermissen.“

„Man kann nicht alles haben, Elodie. Du musst dich nun entscheiden. Sonst ist es kaum zu schaffen. Ich muss dir ein Flugticket auf deinen neuen Namen besorgen. Ich habe einen Cousin, dem gehört ein Reisebüro.“

„Und in dem türkischen Nest, in dem wir leben werden, wie viele Cousins hast du dort?“

„Zwei Cousinen, eine Kosmetikerin und eine Zahnärztin, die können uns vielleicht nützlich sein“, meinte Batu vorausschauend, „und leider nur einen einzigen Cousin, aber der ist Polizeichef in unserer Stadt.“


Stunden später in der Nacht zum Freitag meldete die Ehefrau von Kai Körner ihren Mann als vermisst. Die Beamten der örtlichen Polizeidienststelle wollten sie erst abwimmeln. Sie solle ganz ruhig bleiben, ihr Mann wäre eventuell mit Kumpels versackt oder hätte eine Geliebte. Dana Körner hielt dem energisch entgegen, ihr Mann habe zwar seine kleinen Abenteuer und bildete sich ein, sie vor ihr verstecken zu können. Er sei jedoch in den zwölf Jahren ihrer Ehe nicht eine Nacht weggeblieben. Er liebe sie, sie hätten zwei Kinder zusammen und die würde er auf keinen Fall über Nacht allein lassen. Außerdem hänge sein Herz an ihrer gemeinsamen Firma, seinem Lebenswerk.


Am Freitagmorgen beschäftigte sich die Vermisstenstelle mit der Suche nach Kai Körner. Die Beamten ermittelten, dass Kai kurz vor vierzehn Uhr am Vortag den Betrieb verlassen hatte, ohne seiner Sekretärin zu sagen, wohin er ginge. Als er am späten Nachmittag eine wichtige Teambesprechung versäumte, hatte sie versucht, ihn zu erreichen, aber sein Handy war ständig ausgeschaltet. Die Polizisten machten sich ein Bild von Kai Körner. Er wurde allgemein als lebenslustig und angenehm im Umgang geschildert, seine Ehe galt als glücklich und er als liebevoller Vater. Die Firma florierte, und es gab keine finanziellen Probleme.


Das Auto von Kai Körner fand die Polizei drei Tage später auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt. Mit Hilfe eines Fotos wurden die Angestellten des Marktes und die Anwohner der umliegenden Gegend befragt, ob sie den abgebildeten Mann kannten. Ohne Erfolg. Nach zwei Tagen erreichte die Aktion einige Nebenstraßen weiter das Haus, in dem Elodie und Batu wohnten. Einzig eine ältere Frau meinte, den Mann im Treppenhaus gesehen zu haben. Alle anderen Hausbewohner verneinten, den Gesuchten zu kennen. Die Mieter Batu Özcan und Elodie Schubert trafen die Beamten nie an.

Sie fragten auf deren Arbeitsstellen nach und erfuhren, dass Batu vor drei Monaten überraschend geheiratet hatte und am vergangenen Sonntag mit seiner Frau in die Türkei geflogen sei. Als ältester Sohn wolle oder müsse er den Betrieb seines Vaters übernehmen und werde deshalb in der Türkei bleiben. Daraufhin verlor sich vorerst das Interesse der Ermittler an Batu Özcan.

Elodie Schubert war ihrer Arbeit im Tierpark seit vergangenem Donnerstag unentschuldigt ferngeblieben. Das entsprach gar nicht ihrer Art. Die Familie und Freunde waren in heller Aufregung. Elodies Eltern meldeten ihre Tochter umgehend als vermisst.


Die Kriminalbeamten durchsuchten Elodies Wohnung. Man fand im Schlafzimmer Blutspuren einer fremden DNA und ermittelte, dass sie der DNA von Kai Körner entsprach. Die Polizisten vermuteten, dass Kai Körner in Elodies Wohnung getötet worden war. Unklar blieb, ob Elodie Täterin oder Opfer eines Verbrechens war.


Die Mutter von Elodie, Carmen Schubert, wurde gebeten, in der Wohnung ihrer Tochter nachzusehen, ob Gegenstände fehlten. Dabei wurde sie vom leitenden Ermittler begleitet. Zuerst ging Carmen Schubert zwischen Küche, Bad und den zwei Zimmern ziellos hin und her. Nach einer Weile setzte sie sich erschöpft auf einen Küchenstuhl und bat den Beamten, auch Platz zu nehmen. Carmen Schubert sagte, sie würde die Anwesenheit ihrer Tochter in der Wohnung so deutlich spüren, dass sie es kaum ertrage. Auf die Frage, ob sie einen Gegenstand vermisse, schüttelte Elodies Mutter den Kopf. Der Schmuck ihrer Tochter, insgesamt von wenig Wert, wichtige Dokumente, nichts fehle, sofern sie es beurteilen könne, sogar die teure Armbanduhr, das Weihnachtsgeschenk ihres Vaters, sei da.

Für Carmen Schubert war ungeheuerlich, was die Polizei behauptete: Ein Kai Körner, der wahrscheinliche Liebhaber ihrer Tochter, sei in deren Wohnung ermordet worden. Elodie sei tatverdächtig und vermutlich untergetaucht.

Absurd, völlig absurd, empörte Carmen sich. Plötzlich drängte sich ihr ein Gedanke auf. Elodie hatte seit Kindertagen einen hässlichen kleinen braunen, inzwischen einäugigen Teddy, den sie abgöttisch liebte und auf jede ihrer Reisen und überall hin mitschleppte. Sie würde ihn um nichts in der Welt zurücklassen. Wenn sie diesen Teddy in der Wohnung fand, war ihre Tochter gegen ihren Willen verschwunden.

Carmen sah in und unter Elodies Bett nach, hob alle Sofakissen hoch, durchwühlte die Schränke und Schubladen, Elodies Reisetasche und ihren Rucksack, zog Topfpflanzen aus Zimmerecken, guckte hinter Bücherreihen und inspizierte sogar den Kühlschrank und alle Schuhregale. Der Lieblingsteddy war unauffindbar. Das bedeutete für Carmen, ihre Tochter hatte ihn bei sich und war freiwillig fortgegangen. Aus welchen Gründen auch immer. Dass Elodie diesen Kai Körner getötet haben sollte, war für ihre Mutter nach wie vor unvorstellbar.


Am Abend dieses Tages bereitete Murat in Batus Küche ein Abendessen für seine Freundin vor. Er griff, ohne richtig hinzusehen, in den Besteckkasten, weil er ein Messer brauchte. Auch Murat arbeitete als Koch. Deshalb staunte er, als er das Messer betrachtete. So ein unprofessionelles Werkzeug, zudem mit verbogener Klinge, in den hinterlassenen Sachen seines Cousins Batu. Unmöglich! Murat schmiss das Messer in den Mülleimer.


In dieser Nacht lag der leitende Ermittler viele Stunden wach und dachte über den Fall nach, der zu einem Mord- und einem Vermisstenfall geworden war.

Am Morgen zählte der Ermittler eins und eins zusammen. Er informierte sich über den Aufenthaltsort von Batu Özcan und schickte an die örtlichen Polizeidienststellen in der Türkei die Bitte, ihm ein Foto der Ehefrau des Batu Özcan zu schicken.

Die türkische Polizei mailte es am nächsten Tag. Es zeigte eine junge, lächelnde schwarzhaarige Frau mit dunklerer Haut vor einer Wohnzimmerwand.

Der Ermittler fuhr zu Elodies Mutter. Sie war verblüfft über die Frage, ob sie auf dem Foto Elodie erkennen könne. Er gab vor, dass eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden sei.

Carmen verneinte nach einem flüchtigen Blick auf das Bild. Diese dunkelhäutige Frau mit den langen schwarzen Locken, die ihr in braune Augen hingen, sollte ihre Elodie sein? Elodie hatte blaue Augen und glattes, bis zu den Schultern reichendes blondes Haar. Ihre Haut war beinahe weiß wie Schnee, und ihre Zähne tadellos in Ordnung. Ganz anders wie bei der abgebildeten Person, die beim Lächeln eine Lücke in der oberen Zahnreihe offenbarte. Die musste mal zum Zahnarzt.

„Das ist niemals meine Elodie“, sagte Carmen.

Sie solle sich mit ihrer Antwort Zeit lassen, mahnte der Ermittler und fragte, ob er mal das Bad aufsuchen dürfe.

Carmen nutzte seine Abwesenheit. Einer Eingebung folgend, holte sie rasch eine Lupe und untersuchte die Fotografie genauer. Im nächsten Augenblick hatte Elodies Mutter das Gefühl, dass ihr Herz einen Sprung machte, als könne es sich frei in ihrem Brustkorb bewegen. Sie hatte auf dem Bild ein kleines Regal entdeckt. Und dort saß inmitten von unnützem Krimskrams Elodies einäugiger Teddy!


Der Kommissar kehrte zurück und wiederholte seine Frage: War auf dem Foto eventuell Elodie zu sehen? Carmen schüttelte energisch den Kopf.

Später in der Nacht, als sie neben ihrem Ehemann im Bett lag, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Unsere Elodie lebt, ich bin mir vollkommen sicher.“



Mord zum Frühstück

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