Читать книгу Mord zum Frühstück - Christiane Baumann - Страница 4
Lebensabend
ОглавлениеEine Frage ging Simon unablässig durch den Sinn: Wohin? Wohin nur? Er würde sehr bald Hilfe brauchen, nur wo und bei wem würde er sie finden?
Nachdem er die niederschmetternde Diagnose seines Hausarztes erhalten hatte, war Simon nach Hause gegangen und hatte sich in seinen Klamotten ins Bett gelegt. Er wollte am liebsten sofort sterben. Wozu auf den Tod warten?
Nach eineinhalb Stunden war er aufgestanden, weil er Hunger hatte. Komisch, dachte Simon, er hatte erwartet, dass er keinen Hunger mehr haben würde.
Am nächsten Tag ging Simon wieder zu seinem Arzt. Er wollte in ein Krankenhaus eingewiesen werden, schließlich war er schwerkrank.
Nehmen Sie regelmäßig Mahlzeiten zu sich, fragte der Arzt.
Simon bejahte.
Sehen Sie, sagte der Mediziner, so schlecht geht es Ihnen doch gar nicht.
Und er gab seinem Patienten einen guten Rat mit auf den Weg: er solle einfach weiter leben wie bisher, sich keine unnützen Gedanken machen, sondern die Zeit, die ihm blieb, sinnvoll nutzen.
Wie viel Zeit bleibt mir denn, fragte Simon.
Der Arzt meinte, einige Wochen hätte Simon sicher noch, vielleicht auch ein halbes Jahr.
Simon wartete zwei Wochen, dass irgendetwas mit ihm passierte, aber es geschah rein gar nichts. Er hatte keine Schmerzen, konnte nachts schlafen, er hatte Hunger, aß und verdaute, und Spaziergänge konnte er auch unternehmen. Manchmal traf er dabei auf Tina. Tina war eine geschiedene Nachbarin, der er einmal den Hof gemacht hatte. Auf sehr altmodische Art, mit Blumen und so. Alles vergeblich. Tina gestand einer Bekannten – und diese erzählte es einer anderen, die es wiederum Simon weitertratschte, ohne zu wissen, dass er gemeint war – Tina gestand also, dass sie keinen alten Mann wollte. Seitdem war Simon sauer auf Tina. Er war zwar Mitte siebzig, aber die Tina war ja auch schon sechzig. Was bildete die sich ein!
Obwohl er auf Tina nicht gut zu sprechen war, wechselte er mit ihr, wenn sie sich zufällig begegneten, ein paar Worte. Seine Krankheit verschwieg er. Wenn Tina weiterging, schaute Simon ihr nach. War ihm neuerdings egal, wenn es jemand bemerken sollte.
Nach einer weiteren Woche fragte Simon seinen Arzt, ob es möglich sei, dass er, also der Herr Doktor, sich mit seiner Diagnose geirrt hätte. Denn er, Simon, fühle sich immer noch nicht krank, und alle seine Körperfunktionen funktionierten wie sie sollten.
Der Arzt bedauerte, ein Irrtum sei ausgeschlossen, es sei nun mal Krebs, aber es stünde Simon selbstverständlich frei, eine zweite Meinung einzuholen.
Darüber dachte Simon einen Tag lang nach, dann ließ er es. Er wollte sein Schicksal jetzt annehmen. Nur ein Problem beschäftigte ihn: wer würde ihn unterstützen und pflegen, wenn er bettlägerig wurde?
Seine Frau war gestorben, Tina wollte ihn nicht. Der Sohn lebte mit Familie in Kanada, der Kontakt war seit langem dürftig und wenn Simon es recht bedachte, kaum vorhanden.
Wer blieb?
Niemand, stellte Simon mit Schrecken fest, und seit dieser Einsicht schlief er schlecht. Er war übermüdet und sah blass aus, der Appetit schwand.
Simon versuchte es mit einem Seniorenheim. Das war schwieriger als gedacht: seine Rente war zu klein, und das Fehlen einer Pflegestufe wurde bemängelt. Außerdem war gerade kein Platz frei.
Inzwischen fühlte Simon sich wirklich krank. Er hatte ständig diesen Druck im Bauchbereich, und es fiel ihm jeden Tag schwerer, seinen Haushalt zu führen. Wenn es in diesem Tempo weiter mit ihm bergab ging, musste er dringend eine Lösung für sich finden.
Simon saß vor dem Fernseher. Es lief ein Krimi. Als im Film ein Verdächtiger ins Untersuchungsgefängnis gebracht wurde, durchzuckte Simon plötzlich ein Gedanke. Natürlich! Wieso war ihm das nicht früher eingefallen? Es gab einen sicheren Ort in dieser Welt, wo man sich von Staats wegen um ihn kümmern musste, wenn er sich erst einmal dort befand. Doch wie reinkommen?
Am nächsten Abend zog Simon sich seinen Wintermantel an, setzte eine Mütze auf, band sich einen dicken Wollschal um den Hals und stiefelte los. Mit der Straßenbahn fuhr er in gut vierzig Minuten zum Alexanderplatz, dort wechselte er in die S-Bahn bis Savigny-Platz.
Ziellos streifte Simon umher und geriet in eine lange dunkle Straße. Er begann zu schwitzen, lockerte den Schal, zog die Handschuhe aus und öffnete die obersten Knöpfe seines Mantels. Dieser milde Winter war ein Graus, ein ewiges Hin und Her mit den Temperaturen.
Der Nächste, auf den ich treffe, der ist es, sagte Simon sich. Den Nächsten würde er mit dem Messer angreifen und vielleicht sogar töten. Er hatte auch überlegt, ob es reichen würde, der Polizei seine Mordabsicht kundzutun, um ins Gefängnis gesperrt zu werden. Simon hatte diese Variante verworfen. Wenn er Pech hatte, würde man ihn eventuell in die Psychiatrie einweisen. Aber in die Klapsmühle wollte er auf keinen Fall, er wollte ins Gefängnis. Ein Mord war immer noch der schnellste Weg, um da rein zu kommen.
Damit die Kripo ihn als Täter ermitteln konnte, wollte Simon bei seinem Opfer ein benutztes Taschentuch von sich hinterlassen. Seine DNA - was brauchte die Kripo mehr? Dass er für eine solche Identifizierung auch in der Datenbank der Kripo erfasst sein musste, wusste Simon nicht.
Ein wahrscheinlich betrunkenes junges Mädchen torkelte an Simon vorüber. Zu jung, dachte er erleichtert. Ihm wurde ein wenig schwindlig. Er musste auch aufs Klo, und der Druck im Bauch wurde unerträglich. Der Nächste musste es sein.
In den Nachrichten am folgenden Tag wurde gemeldet, dass ein 53jähriger Mann in der Nähe des Savigny-Platzes mit einem Messer attackiert und an den Verletzungen im Krankenhaus gestorben sei. Eine Mordkommission hatte die Ermittlungen aufgenommen; vom Täter fehlte jede Spur.
Simon verfolgte seit den frühen Morgenstunden gebannt die Nachrichten im Radio. Sein Taschentuch war in den Meldungen unerwähnt geblieben. War es etwa übersehen worden? Oder handelte es sich um eine Finte der Polizei, dieses mögliche Beweisstück geheim zu halten?
Simon war versucht, sich bei der Kripo zu outen. Minutenlang lief er in seiner Wohnung mit dem Telefon in der Hand herum, aber er konnte sich nicht zu einem Anruf durchringen. Vor allem, weil ihm das Reden schwer fiel. Er machte ja kaum noch den Mund auf, seit er seine Arztbesuche aufgegeben hatte. Mit Tina wechselte er lediglich ein ‚hallo‘. War kürzer als ‚guten Tag‘. Und bei den Kassiererinnen des Supermarktes reichte ein Kopfnicken.
Ein zweites Mal fuhr Simon am späten Abend mit der Straßenbahn ins Zentrum. In der Nähe des Alexanderplatzes streifte er abwechselnd schwitzend oder frierend auf der Suche nach einer stillen Ecke und einem möglichen Opfer durch die Straßen.
Simon stach von hinten auf eine ältere Frau ein, die eine schwere Tasche schleppte. Irgendwie erinnerte sie ihn an Tina. Das Taschentuch bei seinem Opfer zu platzieren, vergaß er.
Trotzdem packte er Zuhause sofort einen Rucksack mit allem, was er für das Gefängnis für notwendig hielt. Simon wartete die ganze Nacht, dass Polizisten an seiner Tür klingeln würden. Gegen Morgen schlief er im Sessel ein und wachte am späten Nachmittag mit starken Rückenschmerzen auf. Außerdem spürte er ein unangenehmes Kratzen im Hals, und er merkte noch etwas später, dass er fiebrig war. Simon wollte eine heiße Zitrone trinken, hatte aber keine im Haus.
Er schleppte sich mit schweren Beinen zum Supermarkt. Auf dem Rückweg traf er Tina. Sie ging grußlos an ihm vorüber, was Simon ärgerte. Wie gewöhnlich schaute er ihr hinterher, und da schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Tina als nächstes zu töten, wenn die Polizei nicht bei ihm aufkreuzen würde.
Simon legte sich mit Schüttelfrost ins Bett. Er hustete, auch die heiße Zitrone brachte keine Linderung. Er verbrachte eine schlaflose Nacht und einen unruhigen Tag. Abends fühlte er sich besser.
Simon zog Mantel, seine festen Schuhe und Mütze an. Er verzichtete auf die Straßenbahnfahrt zum Alex und blieb in seiner Wohngegend, einem ehemaligen DDR-Neubaugebiet. Er wollte keine großen Umstände mehr machen. Er würde einfach Tina töten. Die streifte um diese Zeit immer hier rum. Doch heute Abend hatte Simon kein Glück. Er sah Tina nirgends. Dafür wurde er schnell müde.
Ein Hustenanfall zwang Simon stehen zu bleiben. Er gab seinen halbherzigen Plan auf und beschloss, sich morgen früh der Polizei zu stellen. Das Warten sollte ein Ende haben. Er brauchte ein warmes Bett und pflegende Hände, die sich um ihn kümmerten. Das hatte er sich redlich verdient. Simon schlug mit zittrigen Beinen und heißem Kopf den Weg zu seiner Wohnung ein. Er achtete auf niemandem. Plötzlich ein Schlag auf seinen Rücken. Simon strauchelte, konnte sich im letzten Moment abfangen.
Hey Alter, hörte Simon eine quiekende Stimme, her mit deiner Kohle, los!
Ein dünnes, überaus bewegliches Kerlchen stand vor ihm, in Jogginghose, übergroßer Trainingsjacke, Käppi auf dem Kopf und Kaugummi im Mund.
Gut, gut, sagte Simon ruhig, kannst du haben, ich brauche das Geld nicht mehr.
Handy, forderte der nach dem Empfang der Geldbörse.
Ja, ja, Handy.
Was‘n das für’n geiles Teil, eh! Der Junge lachte und befummelte Simons Handy, das ungefähr 15 Jahre alt war, aber immer noch ausreichend funktionierte.
Simon wandte sich ab. Er hatte nun alles hergegeben, was er an Wertvollem bei sich trug. Das Messer in seiner Manteltasche konnte der junge Angreifer nicht vermuten.
Der zog ihn am Ärmel und forderte Simons Uhr.
Simon überlegte kurz. Nach seiner Kenntnis war es erlaubt, im Gefängnis eine Armbanduhr zu tragen.
Meine Uhr brauche ich, sagte er.
Uhr her! Der Dieb drohte ihm mit der Faust.
Leg dich nicht mit mir an, Bursche!, warnte Simon ihn.
Der lachte übermütig.
Simon machte einen Ausfallschritt, zog gleichzeitig das Messer raus und stach zu. Das kostete ihn seine letzte Kraft.
Er würdigte sein Opfer, das sich zu seinen Füßen krümmte, keines Blickes und wankte davon. Nach wenigen Metern musste er vor Erschöpfung stehenbleiben, er rang nach Luft. Auf der Stirn kalte Schweißperlen. Doch er kehrte noch einmal zurück, sein Portemonnaie und Handy holen.
Erst als Simon seinen Wohnblock erreichte, fiel ihm auf, dass er sich wirklich dumm verhielt. Sein Handy würde die Polizei mit Sicherheit endlich zu ihm führen. Er fühlte sich zu kraftlos, um noch einmal umzukehren. Simon warf das Handy in Richtung des Jungen, soweit und gut er konnte.
Als Polizisten zwei Tage später bei Simon klingelten, wurde ihnen nicht geöffnet. Nach Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten riefen die Polizisten den Schlüsseldienst. Sie fanden Simon in seinem Bett vor und dachten zuerst, er würde schlafen.
Der Rechtsmediziner stellte fest, dass Simon an den Folgen einer unbehandelten Lungenentzündung gestorben war.
Das Messer, mit dem Simon drei Menschen getötet hatte, um ins Gefängnis zu kommen, lag auf seinem Nachttisch.
Weil sein Sohn in Kanada sich weigerte, für die Beerdigung seines Vaters aufzukommen und weil keine anderen Verwandten ermittelt werden konnten, organisierte die Hausverwaltung Simons Begräbnis. Der Termin wurde seinen Nachbarn bekanntgegeben. Niemand ging hin, auch Tina nicht.