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Heldenhafter Katzenmut

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Wo ein Mythos oder Klischee existiert, steckt aber zumindest ein Funken Wahrheit drin. Hinweise dafür finden sich im norddeutschen Tiefland von Sachsen-Anhalt, das bis vor Kurzem alles andere als klassisches Wildkatzengebiet war, langsam aber wieder von den aparten Diven eingenommen wird. F1 steht dabei an vorderster Front. Die Wildkatze mit dem kryptischen Namen brachte im April 2020 vier Junge zur Welt, und zwar in einem Lesesteinhaufen in der offenen Landschaft der Colbitz-Letzlinger Heide, nördlich von Magdeburg. Das allein gibt schon eine Schlagzeile her, denn Nachwuchs, der außerhalb des schützenden Waldes geboren wird, gilt in Mitteleuropa nach wie vor als Seltenheit. Eine Woche nach der Geburt schnappt sich die Mutter ihre Jungen und zieht in ein neues Versteck um, einen rund sechs Meter langen Baumstamm, der vollständig hohl und von beiden Seiten zugänglich ist. Genau dort installiert Wildkatzenforscher Malte Götz mehrere Wildkameras. Er ist F1 und acht weiteren mit GPS-Sendern ausgestatteten Wildkatzen im Rahmen eines Projekts der Deutschen Wildtier Stiftung auf den Fersen, um zu dokumentieren, wie sich die Tiere dort verhalten und wo sie sich Lebensraum zurückerobern.73 Und obwohl ihn als langjährigen Experten nichts so schnell verblüffen kann, staunt er nicht schlecht, als er die Wildkamerafotos vom 22. Mai auswertet. In der Nacht, um 3:23 Uhr, nähert sich ein Wolf dem Versteck der Katzenfamilie. Immer wieder versucht er an die Jungen zu gelangen, doch die Katzenmutter patrouilliert unablässig den Baumstamm entlang, sträubt ihr Fell, präsentiert ihren Katzenbuckel und verteidigt fauchend beide Eingänge der Stammhöhle. Ihr tollkühner Einsatz macht sich bezahlt, nach einer halben Stunde zieht der ungleich größere Angreifer ab. Alle Jungen haben überlebt. »Respekt vor dieser Mutterkatze, ich kannte so ein Verhalten gegenüber einem Wolf bisher nicht«, zeigt sich Malte Götz beeindruckt und fährt fort: »Der Wolf hatte keine Möglichkeit, in den Baumstamm zu gelangen, und selbst wenn er es doch versucht hätte, wäre es durchaus denkbar, dass sie ihn mit ausgefahrenen Krallen geohrfeigt hätte. Bei einem Fuchs, der sich einmal einem Jungtierversteck genähert hat, konnte ich das bereits filmen.« F1 scheint in jedem Fall eine abgebrühte Katzenmama zu sein. Sie blieb nach der gescheiterten Wolfsattacke noch den ganzen Tag und eine weitere Nacht in ihrem Baumstammversteck und siedelte erst tags darauf um.

Mut scheint eine fundamentale Eigenschaft der Wildkatzen zu sein, egal wie groß das Gegenüber auch sein mag. Die Schweizerin Marianne Hartmann, die in den letzten Jahrzehnten Pionierarbeit in Sachen artgerechte Haltung von Wildkatzen und anderen Feliden geleistet hat, weiß das aus eigener Erfahrung. »Wildkatzen haben uns Menschen gegenüber ein Auftreten und eine Selbstsicherheit, als hätten sie die Größe eines Leoparden.«74 Dass nicht nur die ausgewachsenen Tiere, sondern auch die Kleinsten bereits voller Kühnheit stecken, betont auch Wildkatzenforscher Leopold Slotta-Bachmayr, der sich noch gut an seine Zeit im Tiergarten Wels in Oberösterreich erinnert: »Ich fand es oft unglaublich, dass so ein kleiner Zwerg mich bereits anfaucht wie ein ausgewachsener Tiger.« Wildkatzen – groß wie klein – können ihren Kopf um 180 Grad drehen, mit den scharfen Zähnen selbst dicke Arbeitshandschuhe locker durchbeißen und ihre Krallen blitzschnell ausfahren. Ihre ausgeprägte Aggressivität, so Slotta-Bachmayr, hänge vermutlich mit dem noch unselbstständigen Nachwuchs zusammen, für den das Heranwachsen ein wahrer Spießrutenlauf sei. Untersuchungen aus dem Südharz zeigen, dass drei Viertel aller Jungtiere den vierten Lebensmonat nicht überleben.75 Neben Wolf und Luchs haben es auch Füchse, Marder und Uhus auf die tapsigen Kleinen abgesehen.76 Während F1 mit ihrem Nachwuchs den hohlen Baumstamm bewohnte, blieben Füchse und Baummarder – vermutlich aus Angst vor Angriffen der wehrhaften Mutter – auf Abstand, zumindest wurden sie von den Wildkameras nicht erfasst. »Aber gleich an jenem Tag, als F1 umsiedelte, schauten Fuchs und Marder vorbei«, erzählt Malte Götz. Sie untersuchten die Eingänge, wohl in der Hoffnung, die Mutter hätte einen ihrer Sprösslinge vergessen.

Bedrohungen stehen für Wildkatzen auf der Tagesordnung. Ihre Angst dürften sie mit einer kräftigen Portion Wagemut kompensieren, der ihrer Größe gar nicht angepasst scheint. Das Motto lautet: Angriff ist die beste Verteidigung. Diese Strategie ist im Tierreich durchaus beliebt. Feldhamster wirken mit ihrer pummeligen Gestalt und den prall gefüllten Pausbäckchen niedlich, aber wehe, sie werden in die Enge getrieben. Dann werfen auch sie all ihren Mut in die Arena, fauchen, knurren und stellen sich auf die Hinterbeine, nicht nur, um größer zu erscheinen, sondern auch, um ihren schwarzen Bauch in Szene zu setzen. Im Kontrast zu den hellen Pfoten wirkt dieser nämlich wie ein aufgerissenes Maul und soll schon so manchen Angreifer in die Flucht geschlagen haben. Küstenseeschwalben, die auf der Nordhalbkugel in den subarktischen Regionen brüten, kennen kein Erbarmen, wenn es um das Verteidigen ihrer Brut geht. Unterschreiten Eindringlinge – Menschen inklusive – die kritische Distanz zu den Bodennestern, fliegen die Vögel Attacken und picken nach den Köpfen der ungebetenen Gäste. Das tun sie so effektiv, dass andere Vogelarten wie Eiderenten in unmittelbarer Nähe brüten, um vom Schutzschirm der Schwalben zu profitieren. Wildkatzen, Feldhamster und Küstenseeschwalben, alle drei sind für ihre Größe außerordentlich mutig. Doch es gibt eine Tierart, die übertrumpft sie alle.

Ambros Aichhorn bewirtschaftet im Salzburger Pongau den Archehof Vorderploin und hat sich sein Leben lang der Erforschung verwegener Hautflügler gewidmet. »Die Hummeln gehören zu jenen Insekten, die am besten surren und brummen können«, erfahre ich von ihm. Und das sei sogar lebensnotwendig. »90 Prozent der Hummelkolonien befinden sich nämlich in Mausnestern. Die jungen Königinnen brauchen deren gut gepolsterte Nester, die sie sogar dann noch erschnüffeln, wenn diese durch Falllaub verschlossen sind.« Ich bin gespannt, wie sich ein Gipfeltreffen zwischen Maus und Hummel abspielt. »Begegnet der Königin im finsteren Gang ein Tier, beginnt sie gewaltig zu brummen. Es ist richtig unheimlich, wie das in den unterirdischen Gängen dröhnt«, beschreibt Aichhorn und erzählt mir weiter von seinen Beobachtungen: »Als sich drei laut brummende Hummeln einer Erdmaus näherten, bekam diese ganz große Augen und zog die Ohren ein. Das heißt, sie hatte Angst. Entsprechend begann sie auch zu kreischen und graben, um sich in Sicherheit zu bringen.« So mancher Nager zeigt sich allerdings seinerseits widerspenstig, weiß Aichhorn: »Mäuse und andere Nagetiere lernen rasch das Töten der Hummeln.« Aber es kann auch anders ausgehen. »Eine Steinhummel schaffte es beispielsweise, einem Ziesel ein Nest in 145 Zentimetern Tiefe erfolgreich abzuringen.«

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