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Holt uns die Vergangenheit ein?

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»Kein Luchs schafft es in den Bayerischen Wald oder wieder raus«, behaupten böse Zungen. Ein trauriges Beispiel ist Luchs Alus, der von Friaul-Julisch Venetien bis in den Pinzgau gewandert war, ehe er im September 2017 ohne Kopf und Pfoten bei Bad Reichenhall im Berchtesgadener Land auftauchte. Allein zwischen 2010 und 2016 sind im Bayerischen Wald mindestens fünf Luchse illegal getötet worden.93 Inwiefern auch Wildkatzen ins Fadenkreuz genommen werden, ist ungewiss. »Nach unseren Erfahrungen in den vergangenen 15 Jahren hat sich das Verhältnis der Jägerschaft zur Wildkatze deutlich verbessert. Wir kennen mittlerweile auch einige Jäger, die stolz darauf sind, die Tiere in ihren Revieren nachzuweisen«, berichtet Sabine Jantschke, Freiwilligenkoordinatorin im Wildkatzenprojekt des Bund Naturschutz in Bayern. Aber nicht alle lassen sich gerne in ihre Karten blicken. »Ob sie schon eine Wildkatze gesichtet haben, das lässt sich aus unseren Jägern nur selten herauskitzeln«, sagt Christopher Böck, der Geschäftsführer des Oberösterreichischen Landesjagdverbandes. Auch wenn sämtliche Landesjagdverbände der Alpenrepublik hinter den europäischen Minitigern stehen und sich im Rahmen der Plattform Wildkatze engagieren94, ist damit freilich nicht in Stein gemeißelt, welche Entscheidung jeder einzelne der rund 130 000 österreichischen Jäger letztlich auf dem Hochsitz trifft.95 Ganz abgesehen davon, dass es hierzulande überhaupt erst einmal zu einem Zusammentreffen von Grünrock und Wildkatze kommen muss.

Auf dem Balkan ist das kein Problem. Das Strandscha-Gebirge bildet die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei und es sei in Jägerkreisen bekannt für seine großen Wildkatzen, verrät mir Forscherin Diana Zlatanova. »Mit unseren Wildkamera-Ergebnissen aus der Gegend können wir das tatsächlich bestätigen«, sagt sie. Wie in allen EU-Mitgliedsländern ist die Wildkatze auch in Bulgarien geschützt, aber ganz abgeebbt dürfte die einstige Jagdtradition noch nicht sein. In Online-Jagdforen, die als geschlossene Gruppen geführt werden, diskutieren die Waidmänner gelegentlich über unbeabsichtigte Abschüsse oder das explizite Wildern geschützter Arten. »Die großen Strandscha-Wildkatzen sind dort auch ein Thema«, so Zlatanova.

In Rumänien verzichtet man auf Geheimniskrämerei und beruft sich gleich auf antiquarisches Gedankengut, zumindest auf der Website »Hunting in Romania«. Hier wird nicht nur stolz auf einen Wildkatzenschädel von 1967 hingewiesen, der bis heute in seiner Trophäenbewertung weltweit unerreicht sei, sondern auch explizit festgestellt, dass jedes Jahr eine gewisse Anzahl der Tiere geschossen werden müsse, um die verursachten Schäden nicht ausufern zu lassen.96 Das hatten wir doch schon mal.

In geduckter Haltung, die Ohren angelegt, blickt eine Wildkatze eingeschüchtert aus ihrem viel zu kleinen hölzernen Käfig. Auf einem anderen Foto dösen Wildkatze und Luchs in einem gemeinsamen Gefängnis gerade einmal eine Beinlänge voneinander entfernt. Aleksandër Trajçe, der Leiter der albanischen Naturschutzorganisation PPNEA, hat mir bedrückende Bilder geschickt. Sie sind Zeugnis für die unwürdigen Bedingungen, unter denen auch heute noch viele Wildtiere leiden. »Straßenzoos waren in Albanien vor allem zwischen 2008 und 2012 sehr häufig anzutreffen«, erklärt Trajçe. Wenn auch auf internationalen Druck deutlich zurückgegangen, ganz verschwunden seien sie bis heute nicht. Die Bezeichnung »Zoo« ist dabei alles andere als passend. Restaurant-, Café- oder Barbesitzer pferchen Wildtiere in nackte Käfige, um damit Gäste anzuziehen oder mit Eintrittsgeldern eine kleine Zusatzeinnahme zu generieren. Die Tiergefängnisse liegen meist an Durchzugsstraßen, wo auch Busreisende für eine Pause inklusive Unterhaltungsfaktor leicht Halt machen können. Als Hauptattraktion blicken vor allem Braunbären hinter den Gitterstäben hervor. »Manche Restaurantbesitzer sind überzeugt davon, einen verwaisten Babybären gerettet zu haben. Andere dürften sehr wohl wissen, dass die Jäger, die die Tiere feilbieten, dafür gezielt die Mütter erschießen. Nur so kommen sie an die Jungen heran«, sagt der PPNEA-Leiter. Auch Wölfe und Rehe finden sich unter den unglücklichen Gefangenen und in der Vergangenheit waren unter ihnen sogar Exoten wie Löwen und Zebras. Wildkatzen stellen dagegen eher die Ausnahme dar. »Vermutlich sind sie zufälliger Beifang«, meint Aleksandër Trajçe. Das Fleisch wilder Hasen, obwohl ebenfalls illegal, ist begehrt bei den Restaurants. Gelegentlich dürften aber auch Wildkatzen in die für die Feldhasen ausgelegten Schlingfallen tappen, dann werden sie – vorausgesetzt, sie überleben – ebenfalls an die Straßenzoos verkauft. Trajçe erinnert sich an eine Zoo-Wildkatze, bei der er die typischen Druckmale, wie sie von Schlingfallen herrühren, um den Hals wahrnahm. Während die Hasen zwischen 30 und 40 Euro einbringen, ist eine Wildkatze wohl 50 bis 100 Euro wert. Bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt von rund 480 Euro97 und einer angenommenen Fünftagewoche verdient ein Albaner 24 Euro pro Tag. Während die Zeitgenossen des Ritters Franz von Kobell ungefähr einen Tageslohn für ein erlegtes Tier einstreiften, lässt sich also im heutigen Albanien locker das Drei- oder Vierfache verdienen. Auf einem Internetmarktplatz verlangt ein Anbieter für eine »mace e egër«, eine wilde Katze, die bei Priština im Kosovo zu haben sei, gar 130 Euro.98

Vier Straßenzoo-Wildkatzen sind Aleksandër Trajçe im Zuge der Befreiungsaktionen, die PPNEA und VIER PFOTEN in den letzten Jahren forciert haben, insgesamt untergekommen. Ein Fall brannte sich ihm besonders ein. »In Shkodra, im Norden des Landes, hielt ein Restaurantbesitzer Luchs und Wildkatze im selben Käfig. Wir besuchten die Tiere 2016 und ein Jahr später nochmal. Beide schliefen auf der gleichen Plattform und zeigten keinerlei Reaktion aufeinander oder auf die Menschen, die sie beäugten«, erzählt er verblüfft. Dergleichen wäre in der freien Natur undenkbar. Der Luchs würde nicht zögern, die Wildkatze zu töten. Sie kommen zwar, wie man mittlerweile weiß, in gleichen Gebieten vor, dennoch gehen sich Luchs und Wildkatze möglichst aus dem Weg. Bis es zur Befreiung und Umsiedlung der beiden Tiere in artgerechte Gehege kam, lebten sie über mehrere Jahre in dieser beengten Schicksalsgemeinschaft. Fast scheint es, als hätten sie einen Pakt geschlossen, sich unter diesen unwürdigen Verhältnissen miteinander zu arrangieren. Der Restaurantbesitzer meinte nur, er hätte nicht gewusst, dass es sich um unterschiedliche Arten handeln würde, für ihn wären es einfach Wildkatzen. Verwechslungen dieser Art sind uns schon aus den Jahren um 1400 bekannt. 600 Jahre später kämpfen wir offenbar noch immer mit den gleichen Missverständnissen. Das Restaurant existiert weiter, aber die Käfige sind nun leer. Immerhin. Bisher gibt es auch keine weiteren Indizien für Wildkatzen oder Luchse in albanischen Straßenzoos. Gebannt ist die Gefahr damit aber noch lange nicht. »An den Hauptstraßen sind die Zoos verschwunden, aber an versteckten Plätzen dürfte es nach wie vor welche geben«, seufzt Aleksandër Trajçe. Und Ulrike Wüstner, die für die Bärenrettungen bei VIER PFOTEN zuständig ist, hat auch keine beruhigenden Nachrichten: »Es gibt noch viele weitere dieser ›Zoos‹. Im Sommer 2020 haben uns etliche Zuschriften erreicht, die uns auf zur Schau gestellte Affen im Umkreis von albanischen Restaurants aufmerksam gemacht haben.«

Europas kleine Tiger

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