Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 24
Zweiundzwanzig
ОглавлениеWar es nicht jedes Jahr das selbe? Erstaunlich, wie viele Leute die Julihitze nicht vertrugen. Zwar hatte die Polizei von November bis Januar weit mehr zu tun, doch kamen die seltsamsten Fälle jeweils im Juli auf sie zu. Moser bellte gereizt ins Telefon, tat aber keinen Schritt vor die Tür. Ereignisse, die sich mit Ankündigungen in Horoskopen deckten, waren ihr unheimlich. Sie schickte Meier. Auch in diesem Fall. Aus den Zeitschriften auf ihrem Tisch versuchte sie herauszulesen, wie die Sache ausgehen würde.
In einem Fall wie diesem schickte man immer Meier, auch wenn auf dem Polizeiposten die Meinungen über den Wachtmeister auseinander gingen. War er ein Trottel oder die Gutmütigkeit in Person? Wo lag der Unterschied?!
Wie auch immer, die Chefin verspürte wenig Lust, an einem prächtigen Juliabend den hitzeflirrenden Hirngespinsten eines namenlosen Anrufers nachzugehen, und auch die übrigen diensthabenden Beamten hätten sich herzlich für die Zumutung bedankt. Graber und Linsenmann, die das Hierarchiedenken der Oberen hartnäckig auf den untersten Plätzen hielt, zogen die Köpfe ein – und kamen ungeschoren davon, denn es traf Meier, Meier, den Mann für alles, den ungekrönten Spezialisten für die schrägen und unbeliebten Fälle.
Eine Frau werfe Spiegel aus den Fenstern ihrer Villa, billige Warenhausspiegel ebenso wie kostbare Silberspiegel, meldete der Anrufer, der auflegte, ohne seinen Namen zu nennen. Polizeikommissärin Moser schüttelte den Kopf. Meine Güte, was sich die Leute so alles einfallen liessen, um Frust und überschüssige Energie loszuwerden! Sobald das Thermometer die Dreissiggradmarke überschritt, drehten sie durch.
Sie sandte also Meier. Der Wachtmeister rückte dienstbeflissen aus, allein, man könnte sagen einsam, fand die Villa erst bei Einbruch einer sanften, samtenen, hochsommerlichen Dunkelheit nach langer Irrfahrt, obwohl er den Stadtplan studiert und festgestellt hatte, dass er das Quartier gut kannte. Fand er das Haus so lange nicht, weil er im Grunde gar nicht ankommen wollte, weil ihn eine hässliche Narbe auf dem Handrücken daran erinnerte, dass er bereits früher Bekanntschaft mit dem Haus und zumindest einem aussergewöhnlichen Bewohner gemacht hatte? Er nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, sondern trat aus der dumpfen Wärme der Sommernacht durch ein handgeschmiedetes, mit einander zugewandten Fischen verziertes Gartentor in einen weitläufigen Garten, wo man vor lauter Schneegestöber kaum die Hand vor Augen sah. Er ging über glitschige, kalte Kiesel auf das Haus zu, und der Weg kam ihm so lang vor wie alle Wege durch Nacht und Kälte. Vor lauter Schneeflocken sah Meier kaum bis zu seinen Schuhen hinunter. Nie sind die Dinge, was sie auf den ersten Blick scheinen, und nur in Polizeirapporten und in Romanen gibt es sie, die Wirklichkeit, die unumstössliche. Moser hätte von Wahrheit gesprochen, hätte autoritär nach Wahrheit verlangt, aber auch die Wahrheit gab es höchstens in Romanen und Fernsehkrimis.
Obwohl es erst kurz vor neun war, wirkte die Villa verlassen, und nur gerade ein Fenster im Haus war erleuchtet. Im offenen Rahmen lehnte eine Frau und sah stumm auf den Wachtmeister hinunter. Meier dachte sofort an die Kühle einer Marmorstatue und war froh, ihr nicht auf der Strasse begegnet zu sein. Er hätte es nicht gewagt, sie anzusprechen, obwohl es seine Pflicht war, verdächtige Personen anzuhalten und ihnen unangenehme Fragen zu stellen.
Meier trat knirschend in Eisbrocken. Oder waren es Glassplitter? Spiegelscherben? Er hob eine Scherbe auf, wog sie unschlüssig in der Hand.
„Eigentlich müsste ich einen Rapport schreiben“, sagte er zu dem Fenster hinauf. Die Frau schwieg. Meier fröstelte und dachte, dass es Juli war, Hochsommer. Er bildete sich dennoch ein, die Kälte auf der Haut zu spüren, mit der sie auf ihn hinuntersah. Er machte eine unvorsichtige Bewegung und schnitt sich an der Scherbe, also steckte er Block und Kugelschreiber wieder ein. Der Rapport würde ungeschrieben bleiben. Er streckte die Hand so weit wie möglich von sich weg, um die Uniform nicht zu besudeln. Rot wie Blut, weiss wie Schnee und schwarz wie ..., nein, nicht wie das Ebenholz des Fensterrahmens, sondern wie das glatte Haar der Frau. Warum geisterten die abgedroschenen Floskeln gerade jetzt durch seine Gedanken? Die Szene hatte ganz und gar nichts Märchenhaftes.
Meier trat ohne Erklärung den Rückzug an. Wo Scherben lagen, gab es nichts mehr zu tun. Der Weg führte jetzt schnurgerade zum Gartentor. Meier konnte ihn in seiner vollen Länge sehen, und er war sehr viel kürzer geworden. Die beiden Fische machten Meier bereitwillig Platz. Ganz von selbst schwangen die Flügel des schweren Tors zur Seite. Draussen auf der Strasse empfing den Wachtmeister die Julihitze. Sie liebkoste die verspannten Schultermuskeln, liess aber auch das Blut aus dem tiefen Schnitt schneller fliessen. Meier fluchte und suchte nach dem Taschentuch.
Der Wachtmeister trank selten, aber nach dem Besuch in der Villa goss er reichlich Rum in seinen Tee, und schon nach wenigen Schlucken fühlte er sich besser. Ein wattiges Gefühl hüllte ihn ein, und Dinge und Gedanken rückten angenehm von ihm ab.
Er war hundemüde, aber sobald er die Augen schloss, hatte er das schöne, fremde Frauengesicht vor sich, das glatte Haar von erstaunlich blauschwarzer Farbe, die kalten Augen, die ihn durchdringend musterten. Meier war vernünftig und routiniert genug, um sich eine Eingebung wie die, dass die Besitzerin solcher Augen Mord und Totschlag im Sinne haben müsse, zu versagen, aber seine Gedanken gingen ihre eigenen Wege, und plötzlich wusste er, woher er die Frau kannte. Sie war eine alte Bekannte aus Kindertagen, die ihn bis in seine Träume hinein verfolgt hatte, als er noch kaum lesen konnte.
Meier trank den Tee aus und stieg auf den Dachboden, wühlte und suchte in den Kisten, in denen seine Mutter – in weiser Voraussicht? – die Bücher, die er als Knabe verschlungen und tausend Mal wieder gelesen hatte, verstaut hatte. Er klopfte den Staub aus dem Stoff eines alten Schaukelstuhls, setzte sich unter die einzige Glühbirne und las bis in die frühen Morgenstunden. Der pochende Schmerz in der zerschnittenen Handfläche hielt ihn wach, aber als guter Patient wollte er sich an die Öffnungszeiten der Praxis seines Hausarztes halten.
Kurz bevor er mit dem Buch auf den Knien einschlief, begriff er das Prinzip im Umgang mit der Schneekönigin: Vergessen!
Meier beschloss, gegen das Vergessen mit aller Macht anzugehen. Schliesslich ging es um die Lösung eines sich anbahnenden Kriminalfalles und um die Verhinderung von Verbrechen, aber als er am nächsten Morgen seinen Hausarzt aufsuchte, um den tiefen Schnitt, der sich quer über seine Handfläche zog, nähen zu lassen, war er ausserstande zu erklären, wie er zu der Verletzung gekommen war. Der Schnitt hatte den Medianusnerv durchtrennt, und der Arzt versicherte Meier, dass diese Hand mit Sicherheit nie wieder Rapporte schreiben würde.
Sehr zum Missfallen des Arztes murmelte Meier unentwegt vor sich hin, während die Wunde genäht wurde. Der Wachtmeister hatte keine Schmerzen, aber seine Gedanken kehrten, sobald er ruhig auf dem Rücken lag, in die kalte Welt der Rentiere und Schneeköniginnen zurück.
Erst die Frage von Kommissärin Moser, was denn nun in der Villa vorgefallen sei, rief Meier seinen Einsatz vom Vorabend wieder ins Gedächtnis.
„Da war Glas, überall zerbrochenes Glas“, sagte Meier verwirrt und hob als Erklärung seine verbundene Hand.
„Und sie waren klug genug, mitten hinein zu fassen“, bellte Moser gehässig, beschloss aber spontan, darüber hinweg zu sehen, dass Meier nie mehr würde schreiben können. Es würde auch weiterhin genug Einsätze geben, die keine Berechtigung hatten, in die Geschichte einzugehen, sodass sich das Verfassen von Rapporten erübrigte. Dafür wäre dann in jedem Falle Meier zuständig. Moser nickte selbstgefällig. Es blieb also auf dem Polizeiposten alles beim Alten.
„Behalten sie die Villa im Auge“, befahl die Vorgesetzte, und Meier liess sich nach einem strammen „jawohl, Chef!“ die Adresse aufschreiben und in die Brusttasche stecken, obwohl er sie inzwischen besser kannte, als ihm lieb war. Allerdings hätte er nicht zu behaupten gewagt, dass er das Haus im Traum wiederfand.