Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 33
Einunddreissig
ОглавлениеNach Schneewittchens Geburt häuften sich die Sonntage, und mit den vielen Sonntagen nahm die Angst des Doktors vor dem Tod zu. Immer sonntags zog er gnadenlos Bilanz. Eine weitere Woche war vergangen, sieben kostbare Tage, die von seinem persönlichen Konto abgebucht wurden, ohne dass ihm Einblick gewährt wurde in sein Guthaben. Uhr ohne Zeiger. William hatte ihm vor Jahren zu Weihnachten ein Buch von Carson McCullers mit diesem Titel geschenkt. Es lag auf seinem Nachttisch, greifbar zwar, aber der Doktor achtete darauf, dass es immer von anderen Büchern bedeckt war. Ob er es je wagen würde, den Roman zu lesen? Zu deutlich war ihm bewusst, dass sie erbarmungslos dahintickte, seine Uhr ohne Zeiger.
Wieder waren also sieben Tage vergangen, in denen ihn seine Bemühungen, ein Mittel zu finden, das dem menschlichen Zerfall zu Lebzeiten Einhalt gebot, keinen Schritt weitergebracht hatten. Dem Doktor war übel. Er schwitzte. Er fror.
Er urinierte in ein Glas, hob es ins Licht und erschrak. Von Woche zu Woche war sein Erschrecken über die erzielten Ergebnisse tiefer. Er führte die üblichen Messungen und Labortests durch, piekste sich in den Finger, kontrollierte vor dem Spiegel den Zustand von Iris und Zunge, mass den Leibesumfang und stellte sich auf die Waage. Alle Resultate trug er sorgfältig und mit winziger Schrift in Tabellen ein. Es war noch Platz, aber hiess das auch, dass ihm noch eine ansehnliche Spanne Lebens vergönnt war?
Zweifelsohne wurde er älter, von Woche zu Woche. Der Tod rückte näher, unaufhaltsam, auch wenn vorläufig keine körperlichen Krankheiten nachweisbar waren. Es dauert eine ganze Weile, bis heimtückisch schleichende Krankheiten messbar werden. Der Patient wiegt sich in Sicherheit, lässt sich einlullen vom beruhigenden Lächeln seines Hausarztes, während seine Zellen im Verborgenen die Weichen bereits gestellt haben.
Alles Ungesunde hatte der Doktor schon vor Jahren aus seinem Leben ausgeklammert. Er ass wenig Fett, keinen Zucker und nur biologisch gezogenes Gemüse. Er rauchte nicht, er trank nicht, er ging früh schlafen und stand früh auf. Die Angst aber liess sich nicht bannen, und auch sie war ungesund. Nichts greift das Immunsystem so sehr an wie Angst.
An jedem Montagmorgen stürzte sich der Doktor mit Schwung und Zuversicht in seine Arbeit. Der Sonntag war vorbei. Er war noch einmal davongekommen. Minutiös plante er die vor ihm liegende Woche, wobei ihm entging, dass er seinen Terminplan hoffnungslos überlud, sodass Verzweiflung und Entmutigung und der Gedanke an den Tod zum Ende der Woche vorprogrammiert waren.
Hin und wieder fand er für kurze Zeit in Ablenkungen Erlösung; wenn er Schach spielte etwa oder wenn sich das Haus mit Gästen füllte. Nichts liebte der Doktor mehr, als gestört zu werden. Gleichzeitig grollte er jedem, der ihn von der Arbeit abhielt. In einem so kurzen Leben war es die grösste Todsünde, nicht zu arbeiten. Dennoch durchzuckte den Doktor Hoffnung auf das Ende aller düsteren Gedanken, als er Schritte hörte.
William riss in gewohnt hochherrschaftlicher Manier die Tür zum Labor auf und rief:
„Du bist wohl nicht gerade für eine Partie zu haben, Doc, oder?“
Er trug ein frisches Hemd, dessen übertriebene Reinheit den Doktor blendete, und der monströse Schlüsselbund zog an der linken Seite die khakifarbenen Hosen gefährlich weit nach unten.
Der Doktor heftete seinen Blick fragend auf den Schlüsselbund. William nahm ihn in die Hand und klimperte gutgelaunt damit.
„Stell dir vor“, berichtete er theatralisch, „in Prag sanieren sie die Bahnhofshalle, und obwohl es da erstklassige Schliessfächer gab, haben sie die alten einfach auf den Müll geworfen. Ich musste nach Paris fahren, um mir ein frisches Hemd zu holen. Übrigens: hast du schon mal Gin mit Pfefferminzsirup getrunken? Es gibt da ein Lokal am Boulevard St.Michel ...“
„Puuhhh!“, rief der Doktor überzeugt aus. Scheinbar bedauernd verstaute er seine Tabellen und Notizen in den dafür vorgesehenen Karteikästchen und verliess hinter William das Labor. Er war zwar nicht für abenteuerliche Mixturen mit viel Alkohol, aber durchaus für eine alle Gedanken absorbierende Partie Schach zu haben.